Es war spätabends, als K. ankam. Das Dorf
lag in tiefem Schnee. Vom Schlossberg war nichts zu sehen, Nebel und Finsternis umgaben
ihn, auch nicht der schwächste Lichtschein deutete das große Schloss an. Lange stand K.
auf der Holzbrücke, die von der Landstraße zum Dorf führte, und blickte in die
scheinbare Leere empor.
Dann ging er, ein Nachtlager suchen; im Wirtshaus war man noch wach, der Wirt hatte
zwar kein Zimmer zu vermieten, aber er wollte, von dem späten Gast äußerst überrascht
und verwirrt, K. in der Wirtsstube auf einem Strohsack schlafen lassen. K. war damit
einverstanden. Einige Bauern waren noch beim Bier, aber er wollte sich mit niemandem
unterhalten, holte selbst den Strohsack vom Dachboden und legte sich in der Nähe des
Ofens hin. Warm war es, die Bauern waren still, ein wenig prüfte er sie noch mit den
müden Augen, dann schlief er ein.
Aber kurze Zeit darauf wurde er schon geweckt. Ein junger Mann, städtisch angezogen,
mit schauspielerhaftem Gesicht, die Augen schmal, die Augenbrauen stark, stand mit dem
Wirt neben ihm. Die Bauern waren auch noch da, einige hatten ihre Sessel herumgedreht, um
besser zu sehen und zu hören. Der junge Mensch entschuldigte sich sehr höflich, K.
geweckt zu haben, stellte sich als Sohn des Schlosskastellans vor und sagte dann: »Dieses
Dorf ist Besitz des Schlosses, wer hier wohnt oder übernachtet, wohnt oder übernachtet
gewissermaßen im Schloss. Niemand darf das ohne gräfliche Erlaubnis. Sie aber haben eine
solche Erlaubnis nicht oder haben sie wenigstens nicht vorgezeigt.«
K. hatte sich halb aufgerichtet, hatte die Haare zurechtgestrichen, blickte die Leute
von unten her an und sagte: »In welches Dorf habe ich mich verirrt? Ist denn hier ein
Schloss?«
»Allerdings«, sagte der junge Mann langsam, während hier und dort einer den Kopf
über K. schüttelte, »das Schloss des Herrn Grafen Westwest.«
»Und man muss die Erlaubnis zum Übernachten haben?« fragte K., als wolle er sich
davon überzeugen, ob er die früheren Mitteilungen nicht vielleicht geträumt hätte.
»Die Erlaubnis muss man haben«, war die Antwort, und es lag darin ein großer Spott
für K., als der junge Mann mit ausgestrecktem Arm den Wirt und die Gäste fragte: »Oder
muss man etwa die Erlaubnis nicht haben?«
»Dann werde ich mir also die Erlaubnis holen müssen«, sagte K. gähnend und schob
die Decke von sich, als wolle er aufstehen.
»Ja von wem denn?« fragte der junge Mann.
»Vom Herrn Grafen«, sagte K., »es wird nichts anderes übrig bleiben.«
»Jetzt um Mitternacht die Erlaubnis vom Herrn Grafen holen?« rief der junge Mann und
trat einen Schritt zurück.
»Ist das nicht möglich?« fragte K. gleichmütig. »Warum haben Sie mich also
geweckt?«
Nun geriet aber der junge Mann außer sich. »Landstreichermanieren!« rief er. »Ich
verlange Respekt vor der gräflichen Behörde! Ich habe Sie deshalb geweckt, um Ihnen
mitzuteilen, dass Sie sofort das gräfliche Gebiet verlassen müssen.«
»Genug der Komödie«, sagte K. auffallend leise, legte sich nieder und zog die Decke
über sich. »Sie gehen, junger Mann, ein wenig zu weit, und ich werde morgen noch auf Ihr
Benehmen zurückkommen. Der Wirt und die Herren dort sind Zeugen, soweit ich überhaupt
Zeugen brauche. Sonst aber lassen Sie es sich gesagt sein, dass ich der Landvermesser bin,
den der Graf hat kommen lassen. Meine Gehilfen mit den Apparaten kommen morgen im Wagen
nach. Ich wollte mir den Marsch durch den Schnee nicht entgehen lassen, bin aber leider
einigemal vom Weg abgeirrt und deshalb erst so spät angekommen. Dass es jetzt zu spät
war, im Schloss mich zu melden, wusste ich schon aus eigenem, noch vor Ihrer Belehrung.
Deshalb habe ich mich auch mit diesem Nachtlager hier begnügt, das zu stören Sie die
gelinde gesagt Unhöflichkeit hatten. Damit sind meine Erklärungen beendet.
Gute Nacht, meine Herren.« Und K. drehte sich zum Ofen hin. »Landvermesser?« hörte er
noch hinter seinem Rücken zögernd fragen, dann war allgemeine Stille. Aber der junge
Mann fasste sich bald und sagte zum Wirt in einem Ton, der genug gedämpft war, um als
Rücksichtnahme auf K.s Schlaf zu gelten, und laut genug, um ihm verständlich zu sein:
»Ich werde telefonisch anfragen.« Wie, auch ein Telefon war in diesem Dorfwirtshaus? Man
war vorzüglich eingerichtet. Im Einzelnen überraschte es K., im Ganzen hatte er es
freilich erwartet. Es zeigte sich, dass das Telefon fast über seinem Kopf angebracht war,
in seiner Verschlafenheit hatte er es übersehen. Wenn nun der junge Mann telefonieren
musste, dann konnte er beim besten Willen K.s Schlaf nicht schonen, es handelte sich nur
darum, ob K. ihn telefonieren lassen sollte, er beschloss, es zuzulassen. Dann hatte es
aber freilich auch keinen Sinn, den Schlafenden zu spielen, und er kehrte deshalb in die
Rückenlage zurück. Er sah die Bauern scheu zusammenrücken und sich besprechen, die
Ankunft eines Landvermessers war nichts Geringes. Die Tür der Küche hatte sich
geöffnet, türfüllend stand dort die mächtige Gestalt der Wirtin, auf den Fußspitzen
näherte sich ihr der Wirt, um ihr zu berichten. Und nun begann das Telefongespräch. Der
Kastellan schlief, aber ein Unterkastellan, einer der Unterkastellane, ein Herr Fritz, war
da. Der junge Mann, der sich als Schwarzer vorstellte, erzählte, wie er K. gefunden,
einen Mann in den Dreißigern, recht zerlumpt, auf einem Strohsack ruhig schlafend, mit
einem winzigen Rucksack als Kopfkissen, einen Knotenstock in Reichweite. Nun sei er ihm
natürlich verdächtig gewesen, und da der Wirt offenbar seine Pflicht vernachlässigt
hatte, sei es seine, Schwarzers, Pflicht gewesen, der Sache auf den Grund zu gehen. Das
Gewecktwerden, das Verhör, die pflichtgemäße Androhung der Verweisung aus der
Grafschaft habe K. sehr ungnädig aufgenommen, wie es sich schließlich gezeigt habe,
vielleicht mit Recht, denn er behaupte, ein vom Herrn Grafen bestellter Landvermesser zu
sein. Natürlich sei es zumindest formale Pflicht, die Behauptung nachzuprüfen, und
Schwarzer bitte deshalb Herrn Fritz, sich in der Zentralkanzlei zu erkundigen, ob ein
Landvermesser dieser Art wirklich erwartet werde, und die Antwort gleich zu telefonieren.
Dann war es still, Fritz erkundigte sich drüben, und hier wartete man auf die Antwort.
K. blieb wie bisher, drehte sich nicht einmal um, schien gar nicht neugierig, sah vor sich
hin. Die Erzählung Schwarzers in ihrer Mischung von Bosheit und Vorsicht gab ihm eine
Vorstellung von der gewissermaßen diplomatischen Bildung, über die im Schloss selbst
kleine Leute wie Schwarzer leicht verfügten. Und auch an Fleiß ließen sie es dort nicht
fehlen; die Zentralkanzlei hatte Nachtdienst. Und gab offenbar sehr schnell Antwort, denn
schon klingelte Fritz. Dieser Bericht schien allerdings sehr kurz, denn sofort warf
Schwarzer wütend den Hörer hin. »Ich habe es Ja gesagt!« schrie er. »Keine Spur von
Landvermesser, ein gemeiner, lügnerischer Landstreicher, wahrscheinlich aber Ärgeres.«
Einen Augenblick dachte K., alle, Schwarzer, Bauern, Wirt und Wirtin, würden sich auf ihn
stürzen. Um wenigstens dem ersten Ansturm auszuweichen, verkroch er sich ganz unter die
Decke. Da läutete das Telefon nochmals, und, wie es K. schien, besonders stark. Er
steckte langsam den Kopf wieder hervor. Obwohl es unwahrscheinlich war, dass es wieder K.
betraf, stockten alle, und Schwarzer kehrte zum Apparat zurück. Er hörte dort eine
längere Erklärung ab und sagte dann leise: »Ein Irrtum also? Das ist mir recht
unangenehm. Der Bürochef selbst hat telefoniert? Sonderbar, sonderbar. Wie soll ich es
dem Herrn Landvermesser erklären?«
K. horchte auf. Das Schloss hatte ihn also zum Landvermesser ernannt. Das war
einerseits ungünstig für ihn, denn es zeigte, dass man im Schloss alles Nötige über
ihn wusste, die Kräfteverhältnisse abgewogen hatte und den Kampf lächelnd aufnahm. Es
war aber andererseits auch günstig, denn es bewies, seiner Meinung nach, dass man ihn
unterschätzte und dass er mehr Freiheit haben würde, als er hätte von vornherein hoffen
dürfen. Und wenn man glaubte, durch diese geistig gewiss überlegene Anerkennung seiner
Landvermesserschaft ihn dauernd in Schrecken halten zu können, so täuschte man sich; es
überschauerte ihn leicht, das war aber alles.
Dem sich schüchtern nähernden Schwarzer winkte K. ab; ins Zimmer des Wirtes zu
übersiedeln, wozu man ihn drängte, weigerte er sich, nahm nur vom Wirt einen Schlaftrunk
an, von der Wirtin ein Waschbecken mit Seife und Handtuch und musste gar nicht erst
verlangen, dass der Saal geleert wurde, denn alles drängte mit abgewendeten Gesichtern
hinaus, um nicht etwa morgen von ihm erkannt zu werden. Die Lampe wurde ausgelöscht, und
er hatte endlich Ruhe. Er schlief tief, kaum ein-, zweimal von vorüberhuschenden Ratten
flüchtig gestört, bis zum Morgen.
Nach dem Frühstück, das, wie überhaupt K.s ganze Verpflegung, nach Angabe des Wirts
vom Schloss bezahlt werden sollte, wollte er gleich ins Dorf gehen. Aber da der Wirt, mit
dem er bisher in Erinnerung an sein gestriges Benehmen nur das Notwendigste gesprochen
hatte, mit stummer Bitte sich immerfort um ihn herumdrehte, erbarmte er sich seiner und
ließ ihn für ein Weilchen bei sich niedersetzen.
»Ich kenne den Grafen noch nicht«, sagte K., »er soll gute Arbeit gut bezahlen, ist
das wahr? Wenn man, wie ich, so weit von Frau und Kind reist, dann will man auch etwas
heimbringen.«
»In dieser Hinsicht muss sich der Herr keine Sorge machen, über schlechte Bezahlung
hört man keine Klage.« »Nun«, sagte K., »ich gehöre ja nicht zu den
Schüchternen und kann auch einem Grafen meine Meinung sagen, aber in Frieden mit den
Herren fertig zu werden ist natürlich weit besser.«
Der Wirt saß K. gegenüber am Rand der Fensterbank, bequemer wagte er sich nicht zu
setzen, und sah K. die ganze Zeit über mit großen, braunen, ängstlichen Augen an.
Zuerst hatte er sich an K. herangedrängt, und nun schien es, als wolle er am liebsten
weglaufen. Fürchtete er, über den Grafen ausgefragt zu werden? Fürchtete er die
Unzuverlässigkeit des »Herrn«, für den er K. hielt? K. musste ihn ablenken. Er blickte
auf die Uhr und sagte: »Nun werden bald meine Gehilfen kommen, wirst du sie hier
unterbringen können?«
»Gewiss, Herr«, sagte er, »werden sie aber nicht mit dir im Schlosse wohnen?«
Verzichtete er so leicht und gern auf die Gäste und auf K. besonders, den er unbedingt
ins Schloss verwies?
»Das ist noch nicht sicher«, sagte K., »erst muss ich erfahren, was für eine Arbeit
man für mich hat. Sollte ich zum Beispiel hier unten arbeiten, dann wird es auch
vernünftiger sein, hier unten zu wohnen. Auch fürchte ich, dass mir das Leben oben im
Schlosse nicht zusagen würde. Ich will immer frei sein.«
»Du kennst das Schloss nicht«, sagte der Wirt leise.
»Freilich«, sagte K., »man soll nicht verfrüht urteilen. Vorläufig weiß ich ja
vom Schloss nichts weiter, als dass man es dort versteht, sich den richtigen Landvermesser
auszusuchen. Vielleicht gibt es dort noch andere Vorzüge.« Und er stand auf, um den
unruhig seine Lippen beißenden Wirt von sich zu befreien. Leicht war das Vertrauen dieses
Mannes nicht zu gewinnen.
Im Fortgehen fiel K. an der Wand ein dunkles Porträt in einem dunklen Rahmen auf.
Schon von seinem Lager aus hatte er es bemerkt, hatte aber in der Entfernung die
Einzelheiten nicht unterschieden und geglaubt, das eigentliche Bild sei aus dem Rahmen
fortgenommen und nur ein schwarzer Rückendeckel sei zu sehen. Aber es war doch ein Bild,
wie sich jetzt zeigte, das Brustbild eines etwa fünfzigjährigen Mannes. Den Kopf hielt
er so tief auf die Brust gesenkt, dass man kaum etwas von den Augen sah, entscheidend für
die Senkung schien die hohe, lastende Stirn und die starke, hinabgekrümmte Nase. Der
Vollbart, infolge der Kopfhaltung am Kinn eingedrückt, stand weiter unten ab. Die linke
Hand lag gespreizt in den vollen Haaren, konnte aber den Kopf nicht mehr heben. »Wer ist
das?« fragte K. »Der Graf?« K. stand vor dem Bild und blickte sich gar nicht nach dem
Wirt um. »Nein«, sagte der Wirt, »der Kastellan.« »Einen schönen Kastellan
haben sie im Schloss, das ist wahr«, sagte K., »schade, dass er einen so missratenen
Sohn hat.« »Nein«, sagte der Wirt, zog K. ein wenig zu sich herunter und
flüsterte ihm ins Ohr: »Schwarzer hat gestern übertrieben, sein Vater ist nur ein
Unterkastellan und sogar einer der letzten.« In diesem Augenblick kam der Wirt K. wie ein
Kind vor. »Der Lump!« sagte K. lachend, aber der Wirt lachte nicht mit, sondern sagte:
»Auch sein Vater ist mächtig.« »Geh!« sagte K. »Du hältst jeden für
mächtig. Mich etwa auch?« »dich«, sagte er schüchtern, aber ernsthaft, »halte
ich nicht für mächtig.« »du verstehst also doch recht gut zu beobachten«,
sagte K., »mächtig bin ich nämlich, im Vertrauen gesagt, wirklich nicht. Und habe
infolgedessen vor den Mächtigen wahrscheinlich nicht weniger Respekt als du, nur bin ich
nicht so aufrichtig wie du und will es nicht immer eingestehen.« Und K. klopfte dem Wirt,
um ihn zu trösten und sich geneigter zu machen, leicht auf die Wange. Nun lächelte er
doch ein wenig. Er war wirklich ein Junge mit seinem weichen, fast bartlosen Gesicht. Wie
war er zu seiner breiten, ältlichen Frau gekommen, die man nebenan hinter einem
Guckfenster, weit die Ellenbogen vom Leib, in der Küche hantieren sah? K. wollte aber
jetzt nicht mehr weiter in ihn dringen, das endlich bewirkte Lächeln nicht verjagen. Er
gab ihm also nur noch einen Wink, ihm die Tür zu öffnen, und trat in den schönen
Wintermorgen hinaus.
Nun sah er oben das Schloss deutlich umrissen in der klaren Luft und noch verdeutlicht
durch den alle Formen nachbildenden, in dünner Schicht überall liegenden Schnee.
Übrigens schien oben auf dem Berg viel weniger Schnee zu sein als hier im Dorf, wo sich
K. nicht weniger mühsam vorwärts brachte als gestern auf der Landstraße. Hier reichte
der Schnee bis zu den Fenstern der Hütten und lastete gleich wieder auf dem niedrigen
Dach, aber oben auf dem Berg ragte alles frei und leicht empor, wenigstens schien es so
von hier aus.
Im Ganzen entsprach das Schloss, wie es sich hier von der Ferne zeigte, K.s
Erwartungen. Es war weder eine alte Ritterburg noch ein neuer Prunkbau, sondern eine
ausgedehnte Anlage, die aus wenigen zweistöckigen, aber aus vielen eng aneinander
stehenden niedrigen Bauten bestand; hätte man nicht gewusst, dass es ein Schloss sei,
hätte man es für ein Städtchen halten können. Nur einen Turm sah K., ob er zu einem
Wohngebäude oder einer Kirche gehörte, war nicht zu erkennen. Schwärme von Krähen
umkreisten ihn.
Die Augen auf das Schloss gerichtet, ging K. weiter, nichts sonst kümmerte ihn. Aber
im Näherkommen enttäuschte ihn das Schloss, es war doch nur ein recht elendes
Städtchen, aus Dorfhäusern zusammengetragen, ausgezeichnet nur dadurch, dass vielleicht
alles aus Stein gebaut war; aber der Anstrich war längst abgefallen, und der Stein schien
abzubröckeln. Flüchtig erinnerte sich K. an sein Heimatstädtchen; es stand diesem
angeblichen Schlosse kaum nach. Wäre es K. nur auf die Besichtigung angekommen, dann
wäre es schade um die lange Wanderschaft gewesen und er hätte vernünftiger gehandelt,
wieder einmal die alte Heimat zu besuchen, wo er schon so lange nicht gewesen war. Und er
verglich in Gedanken den Kirchturm der Heimat mit dem Turm dort oben. Jener Turm,
bestimmt, ohne Zögern geradewegs nach oben sich verjüngend, breitdachig, abschließend
mit roten Ziegeln, ein irdisches Gebäude was können wir anderes bauen?
aber mit höherem Ziel als die niedrige Häusermenge und mit klarerem Ausdruck, als ihn
der trübe Werktag hat. Der Turm hier oben es war der einzig sichtbare , der
Turm eines Wohnhauses, wie es sich jetzt zeigte, vielleicht des Hauptschlosses, war ein
einförmiger Rundbau, zum Teil gnädig von Efeu verdeckt, mit kleinen Fenstern, die jetzt
in der Sonne aufstrahlten etwas Irrsinniges hatte das , und einem
söllerartigen Abschluss, dessen Mauerzinnen unsicher, unregelmäßig, brüchig, wie von
ängstlicher oder nachlässiger Kinderhand gezeichnet, sich in den blauen Himmel zackten.
Es war, wie wenn ein trübseliger Hausbewohner, der gerechterweise im entlegensten Zimmer
des Hauses sich hätte eingesperrt halten sollen, das Dach durchbrochen und sich erhoben
hätte, um sich der Welt zu zeigen.
Wieder stand K. still, als hätte er im Stillestehen mehr Kraft des Urteils. Aber er
wurde gestört. Hinter der Dorfkirche, bei der er stehen geblieben war es war
eigentlich nur eine Kapelle, scheunenartig erweitert, um die Gemeinde aufnehmen zu können
, war die Schule. Ein niedriges, langes Gebäude, merkwürdig den Charakter des
Provisorischen und des sehr Alten vereinigend, lag es hinter einem umgitterten Garten, der
jetzt ein Schneefeld war. Eben kamen die Kinder mit dem Lehrer heraus. In einem dichten
Haufen umgaben sie den Lehrer, aller Augen blickten auf ihn, unaufhörlich schwatzten sie
von allen Seiten, K. verstand ihr schnelles Sprechen gar nicht. Der Lehrer, ein junger,
kleiner, schmalschulteriger Mensch, aber ohne dass es lächerlich wurde, sehr aufrecht,
hatte K. schon von der Ferne ins Auge gefasst, allerdings war außer seiner Gruppe K. der
einzige Mensch weit und breit. K., als Fremder, grüßte zuerst, gar einen so
befehlshaberischen kleinen Mann. »Guten Tag, Herr Lehrer«, sagte er. Mit einem Schlag
verstummten die Kinder, diese plötzliche Stille als Vorbereitung für seine Worte mochte
wohl dem Lehrer gefallen. »ihr sehet das Schloss an?« fragte er sanftmütiger, als K.
erwartet hatte, aber in einem Tone, als billige er nicht das, was K. tue. »Ja«, sagte
K., »ich bin hier fremd, erst seit gestern Abend im Ort.« »Das Schloss gefällt
euch nicht?« fragte der Lehrer schnell. »Wie?« fragte K. zurück, ein wenig verblüfft,
und wiederholte in milderer Form die Frage: »Ob mir das Schloss gefällt? Warum nehmt ihr
an, dass es mir nicht gefällt?« »Keinem Fremden gefällt es«, sagte der Lehrer.
Um hier nichts Unwillkommenes zu sagen, wendete K. das Gespräch und fragte: »Sie kennen
wohl den Grafen?« »Nein«, sagte der Lehrer und wollte sich abwenden. K. gab aber
nicht nach und fragte nochmals: »Wie? Sie kennen den Grafen nicht?« »Wie sollte
ich ihn kennen?« sagte der Lehrer leise und fügte laut auf Französisch hinzu: »Nehmen
Sie Rücksicht auf die Anwesenheit unschuldiger Kinder.« K. holte daraus das Recht zu
fragen: »Könnte ich Sie, Herr Lehrer, einmal besuchen? Ich bleibe längere Zeit hier und
fühle mich schon jetzt ein wenig verlassen; zu den Bauern gehöre ich nicht und ins
Schloss wohl auch nicht.« »Zwischen den Bauern und dem Schloss ist kein großer
Unterschied«, sagte der Lehrer. »Mag sein«, sagte K., »das ändert an meiner Lage
nichts. Könnte ich Sie einmal besuchen?« »Ich wohne in der Schwanengasse beim
Fleischhauer.« Das war nun zwar mehr eine Adressenangabe als eine Einladung, dennoch
sagte K.: »Gut, ich werde kommen.« Der Lehrer nickte und zog mit den gleich wieder
losschreienden Kinderhaufen weiter. Sie verschwanden bald in einem jäh abfallenden
Gässchen.
K. aber war zerstreut, durch das Gespräch verärgert. Zum ersten Mal seit seinem
Kommen fühlte er wirkliche Müdigkeit. Der weite Weg hierher schien ihn ursprünglich gar
nicht angegriffen zu haben, wie war er durch die Tage gewandert, ruhig, Schritt für
Schritt! Jetzt aber zeigten sich doch die Folgen der übergroßen Anstrengung, zur
Unzeit freilich. Es zog ihn unwiderstehlich hin, neue Bekanntschaften zu suchen, aber jede
neue Bekanntschaft verstärkte die Müdigkeit. Wenn er sich in seinem heutigen Zustand
zwang, seinen Spaziergang wenigstens bis zum Eingang des Schlosses auszudehnen, war
übergenug getan.
So ging er wieder vorwärts, aber es war ein langer Weg. Die Straße nämlich, die
Hauptstraße des Dorfes, führte nicht zum Schlossberg, sie führte nur nahe heran, dann
aber, wie absichtlich, bog sie ab, und wenn sie sich auch vom Schloss nicht entfernte, so
kam sie ihm doch auch nicht näher. Immer erwartete K., dass nun endlich die Straße zum
Schloss einlenken müsse und nur, weil er es erwartete, ging er weiter; offenbar infolge
seiner Müdigkeit zögerte er, die Straße zu verlassen, auch staunte er über die Länge
des Dorfes, das kein Ende nahm, immer wieder die kleinen Häuschen und vereisten
Fensterscheiben und Schnee und Menschenleere endlich riss er sich los von dieser
fest haltenden Straße, ein schmales Gässchen nahm ihn auf, noch tieferer Schnee, das
Herausziehen der einsinkenden Füße war eine schwere Arbeit, Schweiß brach ihm aus,
plötzlich stand er still und konnte nicht mehr weiter.
Nun, er war ja nicht verlassen, rechts und links standen Bauernhütten. Er machte einen
Schneeball und warf ihn gegen ein Fenster. Gleich öffnete sich die Türe die erste
sich öffnende Türe während des ganzen Dorfweges und ein alter Bauer, in brauner
Pelzjoppe, den Kopf seitwärts geneigt, freundlich und schwach, stand dort. »Darf ich ein
wenig zu euch kommen?« sagte K., »ich bin sehr müde.« Er hörte gar nicht, was der
Alte sagte, dankbar nahm er es an, dass ihm ein Brett entgegengeschoben wurde, das ihn
gleich aus dem Schnee rettete, und mit ein paar Schritten stand er in der Stube.
Eine große Stube im Dämmerlicht. Der von draußen Kommende sah zuerst gar nichts. K.
taumelte gegen einen Waschtrog, eine Frauenhand hielt ihn zurück. Aus einer Ecke kam viel
Kindergeschrei. Aus einer anderen Ecke wälzte sich Rauch und machte aus dem Halblicht
Finsternis. K. stand wie in Wolken. »Er ist ja betrunken«, sagte jemand. »Wer seid
Ihr?« rief eine herrische Stimme und wohl zu dem Alten gewendet: »Warum hast du ihn
hereingelassen? Kann man alles hereinlassen, was auf den Gassen herumschleicht?«
»Ich bin der gräfliche Landvermesser«, sagte K. und suchte sich so vor den noch immer
Unsichtbaren zu verantworten. »Ach, es ist der Landvermesser«, sagte eine weibliche
Stimme, und nun folgte eine vollkommene Stille. »ihr kennt mich?« fragte K. »Gewiss«,
sagte noch kurz die gleiche Stimme. Dass man K. kannte, schien ihn nicht zu empfehlen.
Endlich verflüchtigte sich ein wenig der Rauch, und K. konnte sich langsam
zurechtfinden. Es schien ein allgemeiner Waschtag zu sein. In der Nähe der Türe wurde
Wäsche gewaschen. Der Rauch war aber aus der anderen Ecke gekommen, wo in einem
Holzschaff, so groß, wie K. noch nie eines gesehen hatte es hatte etwa den Umfang
von zwei Betten , in dampfendem Wasser zwei Männer badeten. Aber noch
überraschender, ohne dass man genau wusste, worin das Überraschende bestand, war die
rechte Ecke. Aus einer großen Lücke, der einzigen in der Stubenrückwand, kam dort, wohl
vom Hofher, bleiches Schneelicht und gab dem Kleid einer Frau, die tief in der Ecke in
einem hohen Lehnstuhl müde fast lag, einen Schein wie von Seide. Sie trug einen Säugling
an der Brust. Um sie herum spielten ein paar Kinder, Bauernkinder, wie zu sehen war, sie
aber schien nicht zu ihnen zu gehören, freilich, Krankheit und Müdigkeit macht auch
Bauern fein.
»Setzt euch!« sagte der eine der Männer, ein Vollbärtiger, überdies mit einem
Schnauzbart, unter dem er den Mund schnaufend immer offen hielt, zeigte, komisch
anzusehen, mit der Hand über den Rand des Kübels auf eine Truhe hin und bespritzte dabei
K. mit warmem Wasser das ganze Gesicht. Auf der Truhe saß schon, vor sich hin dämmernd,
der Alte, der K. eingelassen hatte. K. war dankbar, sich endlich setzen zu dürfen. Nun
kümmerte sich niemand mehr um ihn. Die Frau beim Waschtrog, blond, in jugendlicher
Fülle, sang leise bei der Arbeit, die Männer im Bad stampften und drehten sich, die
Kinder wollten sich ihnen nähern, wurden aber durch mächtige Wasserspritzer, die auch K.
nicht verschonten, immer wieder zurückgetrieben, die Frau im Lehnstuhl lag wie leblos,
nicht einmal auf das Kind an ihrer Brust blickte sie hinab, sondern unbestimmt in die
Höhe.
K. hatte sie wohl lange angesehen, dieses sich nicht verändernde schöne, traurige
Bild, dann aber musste er eingeschlafen sein, denn als er, von einer lauten Stimme
gerufen, aufschreckte, lag sein Kopf an der Schulter des Alten neben ihm. Die Männer
hatten ihr Bad beendet, in dem sich jetzt die Kinder, von der blonden Frau beaufsichtigt,
herumtrieben, und standen angezogen vor K. Es zeigte sich, dass der schreierische
Vollbärtige der Geringere von den zweien war. Der andere nämlich, nicht größer als der
Vollbärtige und mit viel geringerem Bart, war ein stiller, langsam denkender Mann von
breiter Gestalt, auch das Gesicht breit, den Kopf hielt er gesenkt. »Herr
Landvermesser«, sagte er, »hier könnt ihr nicht bleiben. Verzeiht die Unhöflichkeit.«
»Ich wollte auch nicht bleiben«, sagte K., »nur ein wenig mich ausruhen. Das ist
geschehen, und nun gehe ich.« »ihr wundert euch wahrscheinlich über die geringe
Gastfreundlichkeit«, sagte der Mann, »aber Gastfreundlichkeit ist bei uns nicht Sitte,
wir brauchen keine Gäste.« Ein wenig erfrischt vom Schlaf, ein wenig hellhöriger als
früher, freute sich K. über die offenen Worte. Er bewegte sich freier, stützte seinen
Stock einmal hier, einmal dort auf, näherte sich der Frau im Lehnstuhl, war übrigens
auch der körperlich Größte im Zimmer.
»Gewiss«, sagte K., »wozu brauchtet ihr Gäste. Aber hier und da braucht man doch
einen, zum Beispiel mich, den Landvermesser.« »Das weiß ich nicht«, sagte der
Mann langsam, »hat man euch gerufen, so braucht man euch wahrscheinlich, das ist wohl
eine Ausnahme, wir aber, wir kleinen Leute, halten uns an die Regel, das könnt ihr uns
nicht verdenken.« »Nein, nein«, sagte K., »ich habe euch nur zu danken, euch
und allen hier.« Und unerwartet für jedermann kehrte sich K. förmlich in einem Sprunge
um und stand vor der Frau. Aus müden, blauen Augen blickte sie K. an, ein seidenes,
durchsichtiges Kopftuch reichte ihr bis in die Mitte der Stirn hinab, der Säugling
schlief an ihrer Brust. »Wer bist du?« fragte K. Wegwerfend es war undeutlich, ob
die Verächtlichkeit K. oder ihrer eigenen Antwort galt sagte sie: »Ein Mädchen
aus dem Schloss.«
Das alles hatte nur einen Augenblick gedauert, schon hatte K. rechts und links einen
der Männer und wurde, als gäbe es kein anderes Verständigungsmittel, schweigend, aber
mit aller Kraft zur Tür gezogen. Der Alte freute sich über irgendetwas dabei und
klatschte in die Hände. Auch die Wäscherin lachte bei den plötzlich wie toll lärmenden
Kindern.
K. aber stand bald auf der Gasse, die Männer beaufsichtigten ihn von der Schwelle aus.
Es fiel wieder Schnee; trotzdem schien es ein wenig heller zu sein. Der Vollbärtige rief
ungeduldig: »Wohin wollt ihr gehen? Hier führt es zum Schloss, hier zum Dorf.« Ihm
antwortete K. nicht, aber zu dem anderen, der ihm trotz seiner Überlegenheit der
Umgänglichere schien, sagte er: »Wer seid Ihr? Wem habe ich für den Aufenthalt zu
danken?« »Ich bin der Gerbermeister Lasemann«, war die Antwort, »zu danken habt
ihr aber niemandem.« »Gut«, sagte K., »vielleicht werden wir noch
zusammenkommen.« »Ich glaube nicht«, sagte der Mann. In diesem Augenblick rief
der Vollbärtige mit erhobener Hand: »Guten Tag, Artur, guten Tag, Jeremias!« K. wandte
sich um, es zeigten sich in diesem Dorf also doch noch Menschen auf der Gasse! Aus der
Richtung vom Schlosse her kamen zwei junge Männer von mittlerer Größe, beide sehr
schlank, in engen Kleidern, auch im Gesicht einander sehr ähnlich. Die Gesichtsfarbe war
ein dunkles Braun, von dem ein Spitzbart in seiner besonderen Schwärze dennoch abstach.
Sie gingen bei diesen Straßenverhältnissen erstaunlich schnell, warfen im Takt die
schlanken Beine. »Was habt ihr?« rief der Vollbärtige. Man konnte sich nur rufend mit
ihnen verständigen, so schnell gingen sie und hielten nicht ein. »Geschäfte!« riefen
sie lachend zurück. »Wo?« »Im Wirtshaus.« »Dorthin gehe auch ich!«
schrie K. auf einmal mehr als alle anderen, er hatte großes Verlangen, von den zweien
mitgenommen zu werden; ihre Bekanntschaft schien ihm zwar nicht sehr ergiebig, aber gute,
aufmunternde Wegbegleiter waren sie offenbar. Sie hörten K.s Worte, nickten jedoch nur
und waren schon vorüber.
K. stand noch immer im Schnee, hatte wenig Lust, den Fuß aus dem Schnee zu heben, um
ihn ein Stückchen weiter in die Tiefe zu senken; der Gerbermeister und sein Genosse,
zufrieden damit, K. endgültig hinausgeschafft zu haben, schoben sich langsam, immer nach
K. zurückblickend, durch die nur wenig geöffnete Tür ins Haus, und K. war mit dem ihn
einhüllenden Schnee allein. »Gele genheit zu einer kleinen Verzweiflung«, fiel ihm ein,
»wenn ich nur zufällig, nicht absichtlich hier stünde.«
Da öffnete sich in der Hütte linker Hand ein winziges Fenster; geschlossen hatte es
tiefblau ausgesehen, vielleicht im Widerschein des Schnees, und war so winzig, dass, als
es jetzt geöffnet war, nicht das ganze Gesicht des Hinausschauenden zu sehen war, sondern
nur die Augen, alte, braune Augen. »Dort steht er«, hörte K. eine zittrige Frauenstimme
sagen. »Es ist der Landvermesser«, sagte eine Männerstimme, Dann trat der Mann zum
Fenster und fragte nicht unfreundlich, aber doch so, als sei ihm daran gelegen, dass auf
der Straße vor seinem Haus alles in Ordnung sei: »Auf wen wartet Ihr?« »Auf
einen Schlitten, der mich mitnimmt«, sagte K. »Hier kommt kein Schlitten«, sagte der
Mann, »hier ist kein Verkehr.« »Es ist doch die Straße, die zum Schloss
führt«, wendete K. ein. »Trotzdem, trotzdem«, sagte der Mann mit einer gewissen
Unerbittlichkeit, »hier ist kein Verkehr.« Dann schwiegen beide. Aber der Mann
überlegte offenbar etwas, denn das Fenster, aus dem Rauch strömte, hielt er noch immer
offen. »Ein schlechter Weg«, sagte K., um ihm nachzuhelfen.
Er aber sagte nur: »Ja freilich.«
Nach einem Weilchen sagte er aber doch: »Wenn ihr wollt, fahre ich euch mit meinem
Schlitten.« »Tut das, bitte«, sagte K. erfreut, »wie viel verlangt ihr
dafür?« »Nichts«, sagte der Mann. K. wunderte sich sehr. »Ihr seid doch der
Landvermesser«, sagte der Mann erklärend, »und gehört zum Schloss. Wohin wollt ihr
denn fahren?« »Ins Schloss«, sagte K. schnell. »Dann fahre ich nicht«, sagte
der Mann sofort. »Ich gehöre doch zum Schloss«, sagte K., des Mannes eigene Worte
wiederholend. »Mag sein«, sagte der Mann abweisend. »Dann fahrt mich also zum
Wirtshaus«, sagte K. »Gut«, sagte der Mann, »ich komme gleich mit dem Schlitten.« Das
Ganze machte nicht den Eindruck besonderer Freundlichkeit, sondern eher den einer Art sehr
eigensüchtigen, ängstlichen, fast pedantischen Bestrebens, K. von dem Platz vor dem
Hause wegzuschaffen.
Das Hoftor öffnete sich, und ein kleiner Schlitten für leichte Lasten, ganz flach,
ohne irgendwelchen Sitz, von einem schwachen Pferdchen gezogen, kam hervor, dahinter der
Mann, gebückt, schwach, hinkend, mit magerem, rotem, verschnupftem Gesicht, das besonders
klein erschien durch einen fest um den Kopf gewickelten Wollschal. Der Mann war sichtlich
krank und nur, um K. wegbefördern zu können, war er doch hervorgekommen. K. erwähnte
etwas Derartiges, aber der Mann winkte ab. Nur dass er der Fuhrmann Gerstäcker war,
erfuhr K., und dass er diesen unbequemen Schlitten genommen habe, weil er gerade
bereitstand und das Hervorziehen eines anderen zu viel Zeit gebraucht hätte. »Setzt
euch«, sagte er und zeigte mit der Peitsche hinten auf den Schlitten. »Ich werde mich
neben euch setzen«, sagte K. »Ich werde gehen«, sagte Gerstäcker. »Warum denn?«
fragte K. »Ich werde gehen«, wiederholte Gerstäcker und bekam einen Hustenanfall, der
ihn so schüttelte, dass er die Beine in den Schnee stemmen und mit den Händen den
Schlittenrand halten musste. K. sagte nichts weiter, setzte sich hinten auf den Schlitten,
der Husten beruhigte sich langsam und sie fuhren.
Das Schloss dort oben, merkwürdig dunkel schon, das K. heute noch zu erreichen gehofft
hatte, entfernte sich wieder. Als sollte ihm aber doch noch zum vorläufigen Abschied ein
Zeichen gegeben werden, erklang dort ein Glockenton, fröhlich beschwingt, eine Glocke,
die wenigstens einen Augenblick lang das Herz erbeben ließ, so, als drohe ihm denn
auch schmerzlich war der Klang die Erfüllung dessen, wonach es sich unsicher
sehnte. Aber bald verstummte diese große Glocke und wurde von einem schwachen,
eintönigen Glöckchen abgelöst, vielleicht noch oben, vielleicht aber schon im Dorfe.
Dieses Geklingel passte freilich besser zu der langsamen Fahrt und dem jämmerlichen, aber
unerbittlichen Fuhrmann.
»Du«, rief K. plötzlich sie waren schon in der Nähe der Kirche, der Weg ins
Wirtshaus nicht mehr weit, K. durfte schon etwas wagen , »ich wundere mich sehr,
dass du auf deine eigene Verantwortung mich herumzufahren wagst, darfst du denn das?«
Gerstäcker kümmerte sich nicht darum und schritt ruhig weiter neben dem Pferdchen.
»He!« rief K., ballte etwas Schnee vom Schlitten zusammen und traf Gerstäcker damit
voll ins Ohr. Nun blieb dieser stehen und drehte sich um; als ihn K. aber nun so nahe bei
sich sah der Schlitten hatte sich noch ein wenig weitergeschoben , diese
gebückte, gewissermaßen misshandelte Gestalt, das rote müde, schmale Gesicht mit
irgendwie verschiedenen Wangen, die eine flach, die andere eingefallen, den offenen,
aufhorchenden Mund, in dem nur ein paar vereinzelte Zähne waren, musste er das, was er
früher aus Bosheit gesagt hatte, jetzt aus Mitleid wiederholen, ob Gerstäcker nicht
dafür, dass er K. transportierte, gestraft werden könne. »Was willst du?« fragte
Gerstäcker verständnislos, erwartete aber auch keine weitere Erklärung, rief dem
Pferdchen zu, und sie fuhren wieder.
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