Erst in der Abenddämmerung erwachte Gregor aus seinem schweren ohnmachtsähnlichen
Schlaf. Er wäre gewiss nicht viel später auch ohne Störung
erwacht, denn er fühlte sich genügend ausgeruht und ausgeschlafen,
doch schien es ihm, als hätte ihn ein flüchtiger Schritt und
ein vorsichtiges Schließen der zum Vorzimmer führenden Tür
geweckt. Der Schein der elektrischen Straßenlampen lag bleich hier
und da auf der Zimmerdecke und auf den höheren Teilen der Möbel,
aber unten bei Gregor war es finster. Langsam schob er sich, noch ungeschickt
mit seinen Fühlern tastend, die er erst jetzt schätzen lernte,
zur Türe hin, um nachzusehen, was dort geschehen war. Seine linke
Seite schien eine einzige lange, unangenehm spannende Narbe, und er musste
auf seinen zwei Beinreihen regelrecht hinken. Ein Beinchen war übrigens
im Laufe der vormittägigen Vorfälle schwer verletzt worden
es war fast ein Wunder, dass nur eines verletzt worden war und
schleppte leblos nach.
Erst bei der Tür merkte er, was ihn dorthin eigentlich gelockt hatte;
es war der Geruch von etwas Essbarem gewesen. Denn dort stand ein Napf
mit süßer Milch gefüllt, in der kleine Schnitten von Weißbrot
schwammen. Fast hätte er vor Freude gelacht, denn er hatte noch größeren
Hunger als am Morgen, und gleich tauchte er seinen Kopf fast bis über
die Augen in die Milch hinein. Aber bald zog er ihn enttäuscht wieder
zurück; nicht nur, dass ihm das Essen wegen seiner heiklen linken
Seite Schwierigkeiten machte und er konnte nur essen, wenn der
ganze Körper schnaufend mitarbeitete , so schmeckte ihm überdies
die Milch, die sonst sein Lieblingsgetränk war, und die ihm gewiss
die Schwester deshalb hereingestellt hatte, gar nicht, ja er wandte sich
fast mit Widerwillen von dem Napf ab und kroch in die Zimmermitte zurück.
Im Wohnzimmer war, wie Gregor durch die Türspalte sah, das Gas angezündet,
aber während sonst zu dieser Tageszeit der Vater seine nachmittags
erscheinende Zeitung der Mutter und manchmal auch der Schwester mit erhobener
Stimme vorzulesen pflegte, hörte man jetzt keinen Laut. Nun, vielleicht
war dieses Vorlesen, von dem ihm die Schwester immer erzählte und
schrieb, in der letzten Zeit überhaupt aus der Übung gekommen.
Aber auch ringsherum war es so still, trotzdem doch gewiss die Wohnung
nicht leer war. Was für ein stilles Leben die Familie doch
führte, sagte sich Gregor und fühlte, während er
starr vor sich ins Dunkle sah, einen großen Stolz darüber,
dass er seinen Eltern und seiner Schwester ein solches Leben in einer
so schönen Wohnung hatte verschaffen können. Wie aber, wenn
jetzt alle Ruhe, aller Wohlstand, alle Zufriedenheit ein Ende mit Schrecken
nehmen sollten? Um sich nicht in solche Gedanken zu verlieren, setzte
sich Gregor lieber in Bewegung und kroch im Zimmer auf und ab.
Einmal während des langen Abends wurde die eine Seitentür und
einmal die andere bis zu einer kleinen Spalte geöffnet und rasch
wieder geschlossen; jemand hatte wohl das Bedürfnis hereinzukommen,
aber auch wieder zu viele Bedenken. Gregor machte nun unmittelbar bei
der Wohnzimmertür Halt, entschlossen, den zögernden Besucher
doch irgendwie hereinzubringen oder doch wenigstens zu erfahren, wer es
sei; aber nun wurde die Tür nicht mehr geöffnet und Gregor wartete
vergebens. Früh, als die Türen versperrt waren, hatten alle
zu ihm hereinkommen wollen, jetzt, da er die eine Tür geöffnet
hatte und die anderen offenbar während des Tages geöffnet worden
waren, kam keiner mehr, und die Schlüssel steckten nun auch von außen.
Spät erst in der Nacht wurde das Licht im Wohnzimmer ausgelöscht,
und nun war leicht festzustellen, dass die Eltern und die Schwester so
lange wachgeblieben waren, denn wie man genau hören konnte, entfernten
sich jetzt alle drei auf den Fußspitzen. Nun kam gewiss bis zum
Morgen niemand mehr zu Gregor herein; er hatte also eine lange Zeit, um
ungestört zu überlegen, wie er sein Leben jetzt neu ordnen sollte.
Aber das hohe freie Zimmer, in dem er gezwungen war, flach auf dem Boden
zu liegen, ängstigte ihn, ohne dass er die Ursache herausfinden konnte,
denn es war ja sein seit fünf Jahren von ihm bewohntes Zimmer
und mit einer halb unbewussten Wendung und nicht ohne eine leichte Scham
eilte er unter das Kanapee, wo er sich, trotzdem sein Rücken ein
wenig gedrückt wurde und trotzdem er den Kopf nicht mehr erheben
konnte, gleich sehr behaglich fühlte und nur bedauerte, dass sein
Körper zu breit war, um vollständig unter dem Kanapee untergebracht
zu werden.
Dort blieb er die ganze Nacht, die er zum Teil im Halbschlaf, aus dem
ihn der Hunger immer wieder aufschreckte, verbrachte, zum Teil aber in
Sorgen und undeutlichen Hoffnungen, die aber alle zu dem Schlusse führten,
dass er sich vorläufig ruhig verhalten und durch Geduld und größte
Rücksichtnahme der Familie die Unannehmlichkeiten erträglich
machen müsse, die er ihr in seinem gegenwärtigen Zustand nun
einmal zu verursachen gezwungen war.
Schon am frühen Morgen, es war fast noch Nacht, hatte Gregor Gelegenheit,
die Kraft seiner eben gefassten Entschlüsse zu prüfen, denn
vom Vorzimmer her öffnete die Schwester, fast völlig angezogen,
die Tür und sah mit Spannung herein. Sie fand ihn nicht gleich, aber
als sie ihn unter dem Kanapee bemerkte Gott, er musste doch irgendwo
sein, er hatte doch nicht wegfliegen können , erschrak sie
so sehr, dass sie, ohne sich beherrschen zu können, die Tür
von außen wieder zuschlug. Aber als bereue sie ihr Benehmen, öffnete
sie die Tür sofort wieder und trat, als sei sie bei einem Schwerkranken
oder gar bei einem Fremden, auf den Fußspitzen herein. Gregor hatte
den Kopf bis knapp zum Rande des Kanapees vorgeschoben und beobachtete
sie. Ob sie wohl bemerken würde, dass er die Milch stehen gelassen
hatte, und zwar keineswegs aus Mangel an Hunger, und ob sie eine andere
Speise hereinbringen würde, die ihm besser entsprach? Täte sie
es nicht von selbst, er wollte lieber verhungern, als sie darauf aufmerksam
machen, trotzdem es ihn eigentlich ungeheuer drängte, unterm Kanapee
vorzuschießen, sich der Schwester zu Füßen zu werfen
und sie um irgendetwas Gutes zum Essen zu bitten. Aber die Schwester bemerkte
sofort mit Verwunderung den noch vollen Napf, aus dem nur ein wenig Milch
ringsherum verschüttet war, sie hob ihn gleich auf, zwar nicht mit
den bloßen Händen, sondern mit einem Fetzen, und trug ihn hinaus.
Gregor war äußerst neugierig, was sie zum Ersatze bringen würde,
und er machte sich die verschiedensten Gedanken darüber. Niemals
aber hätte er erraten können, was die Schwester in ihrer Güte
wirklich tat. Sie brachte ihm, um seinen Geschmack zu prüfen, eine
ganze Auswahl, alles auf einer alten Zeitung ausgebreitet. Da war altes
halbverfaultes Gemüse; Knochen vom Nachtmahl her, die von festgewordener
weißer Soße umgeben waren; ein paar Rosinen und Mandeln; ein
Käse, den Gregor vor zwei Tagen für ungenießbar erklärt
hatte; ein trockenes Brot, ein mit Butter beschmiertes Brot und ein mit
Butter beschmiertes und gesalzenes Brot. Außerdem stellte sie zu
dem allen noch den wahrscheinlich ein für allemal für Gregor
bestimmten Napf, in den sie Wasser gegossen hatte. Und aus Zartgefühl,
da sie wusste, dass Gregor vor ihr nicht essen würde, entfernte sie
sich eiligst und drehte sogar den Schlüssel um, damit nur Gregor
merken könne, dass er es sich so behaglich machen dürfe, wie
er wolle. Gregors Beinchen schwirrten, als es jetzt zum Essen ging. Seine
Wunden mussten übrigens auch schon vollständig geheilt sein,
er fühlte keine Behinderung mehr, er staunte darüber und dachte
daran, wie er vor mehr als einem Monat sich mit dem Messer ganz wenig
in den Finger geschnitten, und wie ihm diese Wunde noch vorgestern genug
wehgetan hatte. Sollte ich jetzt weniger Feingefühl haben?
dachte er und saugte schon gierig an dem Käse, zu dem es ihn vor
allen anderen Speisen sofort und nachdrücklich gezogen hatte. Rasch
hintereinander und mit vor Befriedigung tränenden Augen verzehrte
er den Käse, das Gemüse und die Soße; die frischen Speisen
dagegen schmeckten ihm nicht, er konnte nicht einmal ihren Geruch vertragen
und schleppte sogar die Sachen, die er essen wollte, ein Stückchen
weiter weg. Er war schon längst mit allem fertig und lag nur noch
faul auf der gleichen Stelle, als die Schwester zum Zeichen, dass er sich
zurückziehen solle, langsam den Schlüssel umdrehte. Das schreckte
ihn sofort auf, trotzdem er schon fast schlummerte, und er eilte wieder
unter das Kanapee. Aber es kostete ihn große Selbstüberwindung,
auch nur die kurze Zeit, während welcher die Schwester im Zimmer
war, unter dem Kanapee zu bleiben, denn von dem reichlichen Essen hatte
sich sein Leib ein wenig gerundet und er konnte dort in der Enge kaum
atmen. Unter kleinen Erstickungsanfällen sah er mit etwas hervorgequollenen
Augen zu, wie die nichts ahnende Schwester mit einem Besen nicht nur die
Überbleibsel zusammenkehrte, sondern selbst die von Gregor gar nicht
berührten Speisen, als seien also auch diese nicht mehr zu gebrauchen,
und wie sie alles hastig in einen Kübel schüttete, den sie mit
einem Holzdeckel schloss, worauf sie alles hinaustrug. Kaum hatte sie
sich umgedreht, zog sich schon Gregor unter dem Kanapee hervor und streckte
und blähte sich.
Auf diese Weise bekam nun Gregor täglich sein Essen, einmal am Morgen,
wenn die Eltern und das Dienstmädchen noch schliefen, das zweite
Mal nach dem allgemeinen Mittagessen, denn dann schliefen die Eltern gleichfalls
noch ein Weilchen, und das Dienstmädchen wurde von der Schwester
mit irgendeiner Besorgung weggeschickt. Gewiss wollten auch sie nicht,
dass Gregor verhungere, aber vielleicht hätten sie es nicht ertragen
können, von seinem Essen mehr als durch Hörensagen zu erfahren,
vielleicht wollte die Schwester ihnen auch eine möglicherweise nur
kleine Trauer ersparen, denn tatsächlich litten sie ja gerade genug.
Mit welchen Ausreden man an jenem ersten Vormittag den Arzt und den Schlosser
wieder aus der Wohnung geschafft hatte, konnte Gregor gar nicht erfahren,
denn da er nicht verstanden wurde, dachte niemand daran, auch die Schwester
nicht, dass er die anderen verstehen könne, und so musste er sich,
wenn die Schwester in seinem Zimmer war, damit begnügen, nur hier
und da ihre Seufzer und Anrufe der Heiligen zu hören. Erst später,
als sie sich ein wenig an alles gewöhnt hatte von vollständiger
Gewöhnung konnte natürlich niemals die Rede sein , erhaschte
Gregor manchmal eine Bemerkung, die freundlich gemeint war oder so gedeutet
werden konnte. »Heute hat es ihm aber geschmeckt«, sagte sie, wenn Gregor
unter dem Essen tüchtig aufgeräumt hatte, während sie im
gegenteiligen Fall, der sich allmählich immer häufiger wiederholte,
fast traurig zu sagen pflegte: »Nun ist wieder alles stehen geblieben.«
Während aber Gregor unmittelbar keine Neuigkeit erfahren konnte,
erhorchte er manches aus den Nebenzimmern, und wo er nur einmal Stimmen
hörte, lief er gleich zu der betreffenden Tür und drückte
sich mit ganzem Leib an sie. Besonders in der ersten Zeit gab es kein
Gespräch, das nicht irgendwie, wenn auch nur im geheimen, von ihm
handelte. Zwei Tage lang waren bei allen Mahlzeiten Beratungen darüber
zu hören, wie man sich jetzt verhalten solle; aber auch zwischen
den Mahlzeiten sprach man über das gleiche Thema, denn immer waren
zumindest zwei Familienmitglieder zu Hause, da wohl niemand allein zu
Hause bleiben wollte und man die Wohnung doch auf keinen Fall gänzlich
verlassen konnte. Auch hatte das Dienstmädchen gleich am ersten Tag
es war nicht ganz klar, was und wie viel sie von dem Vorgefallenen
wusste kniefällig die Mutter gebeten, sie sofort zu entlassen,
und als sie sich eine Viertelstunde danach verabschiedete, dankte sie
für die Entlassung unter Tränen, wie für die größte
Wohltat, die man ihr erwiesen hatte, und gab, ohne dass man es von ihr
verlangte, einen fürchterlichen Schwur ab, niemandem auch nur das
Geringste zu verraten.
Nun musste die Schwester im Verein mit der Mutter auch kochen; allerdings
machte das nicht viel Mühe, denn man aß fast nichts. Immer
wieder hörte Gregor, wie der eine den anderen vergebens zum Essen
aufforderte und keine andere Antwort bekam, als: »Danke, ich habe genug«
oder etwas Ähnliches. Getrunken wurde vielleicht auch nichts. Öfters
fragte die Schwester den Vater, ob er Bier haben wolle, und herzlich erbot
sie sich, es selbst zu holen, und als der Vater schwieg, sagte sie, um
ihm jedes Bedenken zu nehmen, sie könne auch die Hausmeisterin darum
schicken, aber dann sagte der Vater schließlich ein großes
»Nein«, und es wurde nicht mehr davon gesprochen.
Schon im Laufe des ersten Tages legte der Vater die ganzen Vermögensverhältnisse
und Aussichten sowohl der Mutter, als auch der Schwester dar. Hie und
da stand er vom Tische auf und holte aus seiner kleinen Wertheimkassa,
die er aus dem vor fünf Jahren erfolgten Zusammenbruch seines Geschäftes
gerettet hatte, irgendeinen Beleg oder irgendein Vormerkbuch. Man hörte,
wie er das komplizierte Schloss aufsperrte und nach Entnahme des Gesuchten
wieder verschloss. Diese Erklärungen des Vaters waren zum Teil das
erste Erfreuliche, was Gregor seit seiner Gefangenschaft zu hören
bekam. Er war der Meinung gewesen, dass dem Vater von jenem Geschäft
her nicht das Geringste übrig geblieben war, zumindest hatte ihm
der Vater nichts Gegenteiliges gesagt, und Gregor allerdings hatte ihn
auch nicht darum gefragt. Gregors Sorge war damals nur gewesen, alles
daranzusetzen, um die Familie das geschäftliche Unglück, das
alle in eine vollständige Hoffnungslosigkeit gebracht hatte, möglichst
rasch vergessen zu lassen. Und so hatte er damals mit ganz besonderem
Feuer zu arbeiten angefangen und war fast über Nacht aus einem kleinen
Kommis ein Reisender geworden, der natürlich ganz andere Möglichkeiten
des Geldverdienens hatte, und dessen Arbeitserfolge sich sofort in Form
der Provision zu Bargeld verwandelten, das der erstaunten und beglückten
Familie zu Hause auf den Tisch gelegt werden konnte. Es waren schöne
Zeiten gewesen, und niemals nachher hatten sie sich, wenigstens in diesem
Glanze, wiederholt, trotzdem Gregor später so viel Geld verdiente,
dass er den Aufwand der ganzen Familie zu tragen im Stande war und auch
trug. Man hatte sich eben daran gewöhnt, sowohl die Familie als auch
Gregor, man nahm das Geld dankbar an, er lieferte es gern ab, aber eine
besondere Wärme wollte sich nicht mehr ergeben. Nur die Schwester
war Gregor doch noch nahe geblieben, und es war sein geheimer Plan, sie,
die zum Unterschied von Gregor Musik sehr liebte und rührend Violine
zu spielen verstand, nächstes Jahr, ohne Rücksicht auf die großen
Kosten, die das verursachen musste, und die man schon auf andere Weise
hereinbringen würde, auf das Konservatorium zu schicken. Öfters
während der kurzen Aufenthalte Gregors in der Stadt wurde in den
Gesprächen mit der Schwester das Konservatorium erwähnt, aber
immer nur als schöner Traum, an dessen Verwirklichung nicht zu denken
war, und die Eltern hörten nicht einmal diese unschuldigen Erwähnungen
gern; aber Gregor dachte sehr bestimmt daran und beabsichtigte, es am
Weihnachtsabend feierlich zu erklären.
Solche in seinem gegenwärtigen Zustand ganz nutzlose Gedanken gingen
ihm durch den Kopf, während er dort aufrecht an der Türe klebte
und horchte. Manchmal konnte er vor allgemeiner Müdigkeit gar nicht
mehr zuhören und ließ den Kopf nachlässig gegen die Tür
schlagen, hielt ihn aber sofort wieder fest, denn selbst das kleine Geräusch,
das er damit verursacht hatte, war nebenan gehört worden und hatte
alle verstummen lassen. »Was er nur wieder treibt«, sagte der Vater nach
einer Weile, offenbar zur Türe hingewendet, und dann erst wurde das
unterbrochene Gespräch allmählich wieder aufgenommen.
Gregor erfuhr nun zur Genüge denn der Vater pflegte sich
in seinen Erklärungen öfters zu wiederholen, teils, weil er
selbst sich mit diesen Dingen schon lange nicht beschäftigt hatte,
teils auch, weil die Mutter nicht alles gleich beim ersten Mal verstand
, dass trotz allen Unglücks ein allerdings ganz kleines Vermögen
aus der alten Zeit noch vorhanden war, das die nicht angerührten
Zinsen in der Zwischenzeit ein wenig hatten anwachsen lassen. Außerdem
aber war das Geld, das Gregor allmonatlich nach Hause gebracht hatte
er selbst hatte nur ein paar Gulden für sich behalten , nicht
vollständig aufgebraucht worden und hatte sich zu einem kleinen Kapital
angesammelt. Gregor, hinter seiner Türe, nickte eifrig, erfreut über
diese unerwartete Vorsicht und Sparsamkeit. Eigentlich hätte er ja
mit diesen überschüssigen Geldern die Schuld des Vaters gegenüber
dem Chef weiter abgetragen haben können, und jener Tag, an dem er
diesen Posten hätte loswerden können, wäre weit näher
gewesen, aber jetzt war es zweifellos besser so, wie es der Vater eingerichtet
hatte.
Nun genügte dieses Geld aber ganz und gar nicht, um die Familie
etwa von den Zinsen leben zu lassen; es genügte vielleicht, um die
Familie ein, höchstens zwei Jahre zu erhalten, mehr war es nicht.
Es war also bloß eine Summe, die man eigentlich nicht angreifen
durfte, und die für den Notfall zurückgelegt werden musste;
das Geld zum Leben aber musste man verdienen. Nun war aber der Vater ein
zwar gesunder, aber alter Mann, der schon fünf Jahre nichts gearbeitet
hatte und sich jedenfalls nicht viel zutrauen durfte; er hatte in diesen
fünf Jahren, welche die ersten Ferien seines mühevollen und
doch erfolglosen Lebens waren, viel Fett angesetzt und war dadurch recht
schwerfällig geworden. Und die alte Mutter sollte nun vielleicht
Geld verdienen, die an Asthma litt, der eine Wanderung durch die Wohnung
schon Anstrengung verursachte, und die jeden zweiten Tag in Atembeschwerden
auf dem Sofa beim offenen Fenster verbrachte? Und die Schwester sollte
Geld verdienen, die noch ein Kind war mit ihren siebzehn Jahren, und der
ihre bisherige Lebensweise so sehr zu gönnen war, die daraus bestanden
hatte, sich nett zu kleiden, lange zu schlafen, in der Wirtschaft mitzuhelfen,
an ein paar bescheidenen Vergnügungen sich zu beteiligen und vor
allem Violine zu spielen? Wenn die Rede auf diese Notwendigkeit des Geldverdienens
kam, ließ zuerst immer Gregor die Türe los und warf sich auf
das neben der Tür befindliche kühle Ledersofa, denn ihm war
ganz heiß vor Beschämung und Trauer.
Oft lag er dort die ganzen langen Nächte über, schlief keinen
Augenblick und scharrte nur stundenlang auf dem Leder. Oder er scheute
nicht die Mühe, einen Sessel zum Fenster zu schieben, dann die Fensterbrüstung
hinaufzukriechen und, in den Sessel gestemmt, sich ans Fenster zu lehnen,
offenbar nur in irgendeiner Erinnerung an das Befreiende, das früher
für ihn darin gelegen war, aus dem Fenster zu schauen. Denn tatsächlich
sah er von Tag zu Tag die auch nur ein wenig entfernten Dinge immer undeutlicher;
das gegenüberliegende Krankenhaus, dessen nur allzu häufigen
Anblick er früher verflucht hatte, bekam er überhaupt nicht
mehr zu Gesicht, und wenn er nicht genau gewusst hätte, dass er in
der stillen, aber völlig städtischen Charlottenstraße
wohnte, hätte er glauben können, von seinem Fenster aus in eine
Einöde zu schauen, in welcher der graue Himmel und die graue Erde
ununterscheidbar sich vereinigten. Nur zweimal hatte die aufmerksame Schwester
sehen müssen, dass der Sessel beim Fenster stand, als sie schon jedesmal,
nachdem sie das Zimmer aufgeräumt hatte, den Sessel wieder genau
zum Fenster hinschob, ja sogar von nun ab den inneren Fensterflügel
offen ließ.
Hätte Gregor nur mit der Schwester sprechen und ihr für alles
danken können, was sie für ihn machen musste, er hätte
ihre Dienste leichter ertragen; so aber litt er darunter. Die Schwester
suchte freilich die Peinlichkeit des Ganzen möglichst zu verwischen,
und je längere Zeit verging, desto besser gelang es ihr natürlich
auch, aber auch Gregor durchschaute mit der Zeit alles viel genauer. Schon
ihr Eintritt war für ihn schrecklich. Kaum war sie eingetreten, lief
sie, ohne sich Zeit zu nehmen, die Türe zu schließen, so sehr
sie sonst darauf achtete, jedem den Anblick von Gregors Zimmer zu ersparen,
geradewegs zum Fenster und riss es, als ersticke sie fast, mit hastigen
Händen auf, blieb auch, selbst wenn es noch so kalt war, ein Weilchen
beim Fenster und atmete tief. Mit diesem Laufen und Lärmen erschreckte
sie Gregor täglich zweimal; die ganze Zeit über zitterte er
unter dem Kanapee und wusste doch sehr gut, dass sie ihn gewiss gerne
damit verschont hätte, wenn es ihr nur möglich gewesen wäre,
sich in einem Zimmer, in dem sich Gregor befand, bei geschlossenem Fenster
aufzuhalten.
Einmal, es war wohl schon ein Monat seit Gregors Verwandlung vergangen,
und es war doch schon für die Schwester kein besonderer Grund mehr,
über Gregors Aussehen in Erstaunen zu geraten, kam sie ein wenig
früher als sonst und traf Gregor noch an, wie er, unbeweglich und
so recht zum Erschrecken aufgestellt, aus dem Fenster schaute. Es wäre
für Gregor nicht unerwartet gewesen, wenn sie nicht eingetreten wäre,
da er sie durch seine Stellung verhinderte, sofort das Fenster zu öffnen,
aber sie trat nicht nur nicht ein, sie fuhr sogar zurück und schloss
die Tür; ein Fremder hätte geradezu denken können, Gregor
habe ihr aufgelauert und habe sie beißen wollen. Gregor versteckte
sich natürlich sofort unter dem Kanapee, aber er musste bis zum Mittag
warten, ehe die Schwester wiederkam, und sie schien viel unruhiger als
sonst. Er erkannte daraus, dass ihr sein Anblick noch immer unerträglich
war und ihr auch weiterhin unerträglich bleiben müsse, und dass
sie sich wohl sehr überwinden musste, vor dem Anblick auch nur der
kleinen Partie seines Körpers nicht davonzulaufen, mit der er unter
dem Kanapee hervorragte. Um ihr auch diesen Anblick zu ersparen, trug
er eines Tages auf seinem Rücken er brauchte zu dieser Arbeit
vier Stunden das Leintuch auf das Kanapee und ordnete es in einer
solchen Weise an, dass er nun gänzlich verdeckt war, und dass die
Schwester, selbst wenn sie sich bückte, ihn nicht sehen konnte. Wäre
dieses Leintuch ihrer Meinung nach nicht nötig gewesen, dann hätte
sie es ja entfernen können, denn dass es nicht zum Vergnügen
Gregors gehören konnte, sich so ganz und gar abzusperren, war doch
klar genug, aber sie ließ das Leintuch, so wie es war, und Gregor
glaubte sogar einen dankbaren Blick erhascht zu haben, als er einmal mit
dem Kopf vorsichtig das Leintuch ein wenig lüftete, um nachzusehen,
wie die Schwester die neue Einrichtung aufnahm.
In den ersten vierzehn Tagen konnten es die Eltern nicht über sich
bringen, zu ihm hereinzukommen, und er hörte oft, wie sie die jetzige
Arbeit der Schwester völlig anerkannten, während sie sich bisher
häufig über die Schwester geärgert hatten, weil sie ihnen
als ein etwas nutzloses Mädchen erschienen war. Nun aber warteten
oft beide, der Vater und die Mutter, vor Gregors Zimmer, während
die Schwester dort aufräumte, und kaum war sie herausgekommen, musste
sie ganz genau erzählen, wie es in dem Zimmer aussah, was Gregor
gegessen hatte, wie er sich diesmal benommen hatte, und ob vielleicht
eine kleine Besserung zu bemerken war. Die Mutter übrigens wollte
verhältnismäßig bald Gregor besuchen, aber der Vater und
die Schwester hielten sie zuerst mit Vernunftgründen zurück,
denen Gregor sehr aufmerksam zuhörte, und die er vollständig
billigte. Später aber musste man sie mit Gewalt zurückhalten,
und wenn sie dann rief: »Lasst mich doch zu Gregor, er ist ja mein unglücklicher
Sohn! Begreift ihr es denn nicht, dass ich zu ihm muss?«, dann dachte
Gregor, dass es vielleicht doch gut wäre, wenn die Mutter hereinkäme,
nicht jeden Tag natürlich, aber vielleicht einmal in der Woche; sie
verstand doch alles viel besser als die Schwester, die trotz all ihrem
Mute doch nur ein Kind war und im letzten Grunde vielleicht nur aus kindlichem
Leichtsinn eine so schwere Aufgabe übernommen hatte.
Der Wunsch Gregors, die Mutter zu sehen, ging bald in Erfüllung.
Während des Tages wollte Gregor schon aus Rücksicht auf seine
Eltern sich nicht beim Fenster zeigen, kriechen konnte er aber auf den
paar Quadratmetern des Fußbodens auch nicht viel, das ruhige Liegen
ertrug er schon während der Nacht schwer, das Essen machte ihm bald
nicht mehr das geringste Vergnügen, und so nahm er zur Zerstreuung
die Gewohnheit an, kreuz und quer über Wände und Plafond zu
kriechen. Besonders oben auf der Decke hing er gern; es war ganz anders,
als das Liegen auf dem Fußboden; man atmete freier; ein leichtes
Schwingen ging durch den Körper; und in der fast glücklichen
Zerstreutheit, in der sich Gregor dort oben befand, konnte es geschehen,
dass er zu seiner eigenen Überraschung sich losließ und auf
den Boden klatschte. Aber nun hatte er natürlich seinen Körper
ganz anders in der Gewalt als früher und beschädigte sich selbst
bei einem so großen Falle nicht. Die Schwester nun bemerkte sofort
die neue Unterhaltung, die Gregor für sich gefunden hatte
er hinterließ ja auch beim Kriechen hie und da Spuren seines Klebstoffes
, und da setzte sie es sich in den Kopf, Gregor das Kriechen in
größtem Ausmaße zu ermöglichen und die Möbel,
die es verhinderten, also vor allem den Kasten und den Schreibtisch, wegzuschaffen.
Nun war sie aber nicht im Stande, dies allein zu tun; den Vater wagte
sie nicht um Hilfe zu bitten; das Dienstmädchen hätte ihr ganz
gewiss nicht geholfen, denn dieses etwa sechzehnjährige Mädchen
harrte zwar tapfer seit Entlassung der früheren Köchin aus,
hatte aber um die Vergünstigung gebeten, die Küche unaufhörlich
versperrt halten zu dürfen und nur auf besonderen Anruf öffnen
zu müssen; so blieb der Schwester also nichts übrig, als einmal
in Abwesenheit des Vaters die Mutter zu holen. Mit Ausrufen erregter Freude
kam die Mutter auch heran, verstummte aber an der Tür vor Gregors
Zimmer. Zuerst sah natürlich die Schwester nach, ob alles im Zimmer
in Ordnung war; dann erst ließ sie die Mutter eintreten. Gregor
hatte in größter Eile das Leintuch noch tiefer und mehr in
Falten gezogen, das Ganze sah wirklich nur wie ein zufällig über
das Kanapee geworfenes Leintuch aus. Gregor unterließ auch diesmal,
unter dem Leintuch zu spionieren; er verzichtete darauf, die Mutter schon
diesmal zu sehen, und war nur froh, dass sie nun doch gekommen war. »Komm
nur, man sieht ihn nicht«, sagte die Schwester, und offenbar führte
sie die Mutter an der Hand. Gregor hörte nun, wie die zwei schwachen
Frauen den immerhin schweren alten Kasten von seinem Platz rückten,
und wie die Schwester immerfort den größten Teil der Arbeit
für sich beanspruchte, ohne auf die Warnungen der Mutter zu hören,
welche fürchtete, dass sie sich überanstrengen werde. Es dauerte
sehr lange. Wohl nach schon viertelstündiger Arbeit sagte die Mutter,
man solle den Kasten doch lieber hier lassen, denn erstens sei er zu schwer,
sie würden vor Ankunft des Vaters nicht fertig werden und mit dem
Kasten in der Mitte des Zimmers Gregor jeden Weg verrammeln, zweitens
aber sei es doch gar nicht sicher, dass Gregor mit der Entfernung der
Möbel ein Gefallen geschehe. Ihr scheine das Gegenteil der Fall zu
sein; ihr bedrücke der Anblick der leeren Wand geradezu das Herz;
und warum solle nicht auch Gregor diese Empfindung haben, da er doch an
die Zimmermöbel längst gewöhnt sei und sich deshalb im
leeren Zimmer verlassen fühlen werde. »Und ist es dann nicht so«,
schloss die Mutter ganz leise, wie sie überhaupt fast flüsterte,
als wolle sie vermeiden, dass Gregor, dessen genauen Aufenthalt sie ja
nicht kannte, auch nur den Klang der Stimme höre, denn dass er die
Worte nicht verstand, davon war sie überzeugt, »und ist es nicht
so, als ob wir durch die Entfernung der Möbel zeigten, dass wir jede
Hoffnung auf Besserung aufgeben und ihn rücksichtslos sich selbst
überlassen? Ich glaube, es wäre das beste, wir suchen das Zimmer
genau in dem Zustand zu erhalten, in dem es früher war, damit Gregor,
wenn er wieder zu uns zurückkommt, alles unverändert findet
und umso leichter die Zwischenzeit vergessen kann.«
Beim Anhören dieser Worte der Mutter erkannte Gregor, dass der Mangel
jeder unmittelbaren menschlichen Ansprache, verbunden mit dem einförmigen
Leben inmitten der Familie, im Laufe dieser zwei Monate seinen Verstand
hatte verwirren müssen, denn anders konnte er es sich nicht erklären,
dass er ernsthaft darnach hatte verlangen können, dass sein Zimmer
ausgeleert würde. Hatte er wirklich Lust, das warme, mit ererbten
Möbeln gemütlich ausgestattete Zimmer in eine Höhle verwandeln
zu lassen, in der er dann freilich nach allen Richtungen ungestört
würde kriechen können, jedoch auch unter gleichzeitigem schnellen,
gänzlichen Vergessen seiner menschlichen Vergangenheit? War er doch
jetzt schon nahe daran, zu vergessen, und nur die seit langem nicht gehörte
Stimme der Mutter hatte ihn aufgerüttelt. Nichts sollte entfernt
werden; alles musste bleiben; die guten Einwirkungen der Möbel auf
seinen Zustand konnte er nicht entbehren; und wenn die Möbel ihn
hinderten, das sinnlose Herumkriechen zu betreiben, so war es kein Schaden,
sondern ein großer Vorteil.
Aber die Schwester war leider anderer Meinung; sie hatte sich, allerdings
nicht ganz unberechtigt, angewöhnt, bei Besprechung der Angelegenheiten
Gregors als besonders Sachverständige gegenüber den Eltern aufzutreten,
und so war auch jetzt der Rat der Mutter für die Schwester Grund
genug, auf der Entfernung nicht nur des Kastens und des Schreibtisches,
an die sie zuerst allein gedacht hatte, sondern auf der Entfernung sämtlicher
Möbel, mit Ausnahme des unentbehrlichen Kanapees, zu bestehen. Es
war natürlich nicht nur kindlicher Trotz und das in der letzten Zeit
so unerwartet und schwer erworbene Selbstvertrauen, das sie zu dieser
Forderung bestimmte; sie hatte doch auch tatsächlich beobachtet,
dass Gregor viel Raum zum Kriechen brauchte, dagegen die Möbel, soweit
man sehen konnte, nicht im Geringsten benützte. Vielleicht aber spielte
auch der schwärmerische Sinn der Mädchen ihres Alters mit, der
bei jeder Gelegenheit seine Befriedigung sucht, und durch den Grete jetzt
sich dazu verlocken ließ, die Lage Gregors noch schreckenerregender
machen zu wollen, um dann noch mehr als bis jetzt für ihn leisten
zu können. Denn in einen Raum, in dem Gregor ganz allein die leeren
Wände beherrschte, würde wohl kein Mensch außer Grete
jemals einzutreten sich getrauen.
Und so ließ sie sich von ihrem Entschlusse durch die Mutter nicht
abbringen, die auch in diesem Zimmer vor lauter Unruhe unsicher schien,
bald verstummte und der Schwester nach Kräften beim Hinausschaffen
des Kastens half. Nun, den Kasten konnte Gregor im Notfall noch entbehren,
aber schon der Schreibtisch musste bleiben. Und kaum hatten die Frauen
mit dem Kasten, an den sie sich ächzend drückten, das Zimmer
verlassen, als Gregor den Kopf unter dem Kanapee hervorstieß, um
zu sehen, wie er vorsichtig und möglichst rücksichtsvoll eingreifen
könnte. Aber zum Unglück war es gerade die Mutter, welche zuerst
zurückkehrte, während Grete im Nebenzimmer den Kasten umfangen
hielt und ihn allein hin und her schwang, ohne ihn natürlich von
der Stelle zu bringen. Die Mutter aber war Gregors Anblick nicht gewöhnt,
er hätte sie krank machen können, und so eilte Gregor erschrocken
im Rückwärtslauf bis an das andere Ende des Kanapees, konnte
es aber nicht mehr verhindern, dass das Leintuch vorne ein wenig sich
bewegte. Das genügte, um die Mutter aufmerksam zu machen. Sie stockte,
stand einen Augenblick still und ging dann zu Grete zurück.
Trotzdem sich Gregor immer wieder sagte, dass ja nichts Außergewöhnliches
geschehe, sondern nur ein paar Möbel umgestellt würden, wirkte
doch, wie er sich bald eingestehen musste, dieses Hin- und Hergehen der
Frauen, ihre kleinen Zurufe, das Kratzen der Möbel auf dem Boden,
wie ein großer, von allen Seiten genährter Trubel auf ihn,
und er musste sich, so fest er Kopf und Beine an sich zog und den Leib
bis an den Boden drückte, unweigerlich sagen, dass er das Ganze nicht
lange aushalten werde. Sie räumten ihm sein Zimmer aus; nahmen ihm
alles, was ihm lieb war; den Kasten, in dem die Laubsäge und andere
Werkzeuge lagen, hatten sie schon hinausgetragen; lockerten jetzt den
schon im Boden fest eingegrabenen Schreibtisch, an dem er als Handelsakademiker,
als Bürgerschüler, ja sogar schon als Volksschüler seine
Aufgaben geschrieben hatte, da hatte er wirklich keine Zeit mehr,
die guten Absichten zu prüfen, welche die zwei Frauen hatten, deren
Existenz er übrigens fast vergessen hatte, denn vor Erschöpfung
arbeiteten sie schon stumm, und man hörte nur das schwere Tappen
ihrer Füße.
Und so brach er denn hervor die Frauen stützten sich gerade
im Nebenzimmer an den Schreibtisch, um ein wenig zu verschnaufen ,
wechselte viermal die Richtung des Laufes, er wusste wirklich nicht, was
er zuerst retten sollte, da sah er an der im Übrigen schon leeren
Wand auffallend das Bild der in lauter Pelzwerk gekleideten Dame hängen,
kroch eilends hinauf und presste sich an das Glas, das ihn fest hielt
und seinem heißen Bauch wohl tat. Dieses Bild wenigstens, das Gregor
jetzt ganz verdeckte, würde nun gewiss niemand wegnehmen. Er verdrehte
den Kopf nach der Tür des Wohnzimmers, um die Frauen bei ihrer Rückkehr
zu beobachten.
Sie hatten sich nicht viel Ruhe gegönnt und kamen schon wieder;
Grete hatte den Arm um die Mutter gelegt und trug sie fast. »Also was
nehmen wir jetzt?« sagte Grete und sah sich um. Da kreuzten sich ihre
Blicke mit denen Gregors an der Wand. Wohl nur infolge der Gegenwart der
Mutter behielt sie ihre Fassung, beugte ihr Gesicht zur Mutter, um diese
vom Herumschauen abzuhalten, und sagte, allerdings zitternd und unüberlegt:
»Komm, wollen wir nicht lieber auf einen Augenblick noch ins Wohnzimmer
zurückgehen?« Die Absicht Gretes war für Gregor klar, sie wollte
die Mutter in Sicherheit bringen und dann ihn von der Wand hinunterjagen.
Nun, sie konnte es ja immerhin versuchen! Er saß auf seinem Bild
und gab es nicht her. Lieber würde er Grete ins Gesicht springen.
Aber Gretes Worte hatten die Mutter erst recht beunruhigt, sie trat zur
Seite, erblickte den riesigen braunen Fleck auf der geblümten Tapete,
rief, ehe ihr eigentlich zum Bewusstsein kam, dass das Gregor war, was
sie sah, mit schreiender, rauer Stimme: »Ach Gott, ach Gott!« und fiel
mit ausgebreiteten Armen, als gebe sie alles auf, über das Kanapee
hin und rührte sich nicht. »du, Gregor!« rief die Schwester mit erhobener
Faust und eindringlichen Blicken. Es waren seit der Verwandlung die ersten
Worte, die sie unmittelbar an ihn gerichtet hatte. Sie lief ins Nebenzimmer,
um irgendeine Essenz zu holen, mit der sie die Mutter aus ihrer Ohnmacht
wecken könnte; Gregor wollte auch helfen zur Rettung des Bildes
war noch Zeit ; er klebte aber fest an dem Glas und musste sich
mit Gewalt losreißen; er lief dann auch ins Nebenzimmer, als könne
er der Schwester irgendeinen Rat geben, wie in früherer Zeit; musste
dann aber untätig hinter ihr stehen; während sie in verschiedenen
Fläschchen kramte, erschreckte sie noch, als sie sich umdrehte; eine
Flasche fiel auf den Boden und zerbrach; ein Splitter verletzte Gregor
im Gesicht, irgendeine ätzende Medizin umfloss ihn; Grete nahm nun,
ohne sich länger aufzuhalten, so viel Fläschchen, als sie nur
halten konnte, und rannte mit ihnen zur Mutter hinein; die Tür schlug
sie mit dem Fuße zu. Gregor war nun von der Mutter abgeschlossen,
die durch seine Schuld vielleicht dem Tode nahe war; die Tür durfte
er nicht öffnen, wollte er die Schwester, die bei der Mutter bleiben
musste, nicht verjagen; er hatte jetzt nichts zu tun, als zu warten; und
von Selbstvorwürfen und Besorgnis bedrängt, begann er zu kriechen,
überkroch alles, Wände, Möbel und Zimmerdecke und fiel
endlich in seiner Verzweiflung, als sich das ganze Zimmer schon um ihn
zu drehen anfing, mitten auf den großen Tisch.
Es verging eine kleine Weile, Gregor lag matt da, ringsherum war es still,
vielleicht war das ein gutes Zeichen. Da läutete es. Das Mädchen
war natürlich in ihrer Küche eingesperrt und Grete musste daher
öffnen gehen. Der Vater war gekommen. »Was ist geschehen?« waren
seine ersten Worte; Gretes Aussehen hatte ihm wohl alles verraten. Grete
antwortete mit dumpfer Stimme, offenbar drückte sie ihr Gesicht an
das Vaters Brust: »Die Mutter war ohnmächtig, aber es geht ihr schon
besser. Gregor ist ausgebrochen.« »Ich habe es ja erwartet«, sagte der
Vater, »ich habe es euch ja immer gesagt, aber ihr Frauen wollt nicht
hören.« Gregor war es klar, dass der Vater Gretes allzu kurze Mitteilung
schlecht gedeutet hatte und annahm, dass Gregor sich irgendeine Gewalttat
habe zu Schulden kommen lassen. Deshalb musste Gregor den Vater jetzt
zu besänftigen suchen, denn ihn aufzuklären hatte er weder Zeit
noch Möglichkeit. Und so flüchtete er sich zur Tür seines
Zimmers und drückte sich an sie, damit der Vater beim Eintritt vom
Vorzimmer her gleich sehen könne, dass Gregor die beste Absicht habe,
sofort in sein Zimmer zurückzukehren, und dass es nicht nötig
sei, ihn zurückzutreiben, sondern dass man nur die Tür zu öffnen
brauche, und gleich werde er verschwinden.
Aber der Vater war nicht in der Stimmung, solche Feinheiten zu bemerken;
»Ah!« rief er gleich beim Eintritt in einem Tone, als sei er gleichzeitig
wütend und froh. Gregor zog den Kopf von der Tür zurück
und hob ihn gegen den Vater. So hatte er sich den Vater wirklich nicht
vorgestellt, wie er jetzt dastand; allerdings hatte er in der letzten
Zeit über dem neuartigen Herumkriechen versäumt, sich so wie
früher um die Vorgänge in der übrigen Wohnung zu kümmern,
und hätte eigentlich darauf gefasst sein müssen, veränderte
Verhältnisse anzutreffen. Trotzdem, trotzdem, war das noch der Vater?
Der gleiche Mann, der müde im Bett vergraben lag, wenn früher
Gregor zu einer Geschäftsreise ausgerückt war; der ihn an Abenden
der Heimkehr im Schlafrock im Lehnstuhl empfangen hatte; gar nicht recht
im Stande war, aufzustehen, sondern zum Zeichen der Freude nur die Arme
gehoben hatte, und der bei den seltenen gemeinsamen Spaziergängen
an ein paar Sonntagen im Jahr und an den höchsten Feiertagen zwischen
Gregor und der Mutter, die schon an und für sich langsam gingen,
immer noch ein wenig langsamer, in seinen alten Mantel eingepackt, mit
stets vorsichtig aufgesetztem Krückstock sich vorwärts arbeitete
und, wenn er etwas sagen wollte, fast immer stillstand und seine Begleitung
um sich versammelte? Nun aber war er recht gut aufgerichtet; in eine straffe
blaue Uniform mit Goldknöpfen gekleidet, wie sie Diener der Bankinstitute
tragen; über dem hohen steifen Kragen des Rockes entwickelte sich
sein starkes Doppelkinn; unter den buschigen Augenbrauen drang der Blick
der schwarzen Augen frisch und aufmerksam hervor; das sonst zerzauste
weiße Haar war zu einer peinlich genauen, leuchtenden Scheitelfrisur
niedergekämmt. Er warf seine Mütze, auf der ein Goldmonogramm,
wahrscheinlich das einer Bank, angebracht war, über das ganze Zimmer
im Bogen auf das Kanapee hin und ging, die Enden seines langen Uniformrockes
zurückgeschlagen, die Hände in den Hosentaschen, mit verbissenem
Gesicht auf Gregor zu. Er wusste wohl selbst nicht, was er vorhatte; immerhin
hob er die Füße ungewöhnlich hoch, und Gregor staunte
über die Riesengröße seiner Stiefelsohlen. Doch hielt
er sich dabei nicht auf, er wusste ja noch vom ersten Tage seines neuen
Lebens her, dass der Vater ihm gegenüber nur die größte
Strenge für angebracht ansah. Und so lief er vor dem Vater her, stockte,
wenn der Vater stehen blieb, und eilte schon wieder vorwärts, wenn
sich der Vater nur rührte. So machten sie mehrmals die Runde um das
Zimmer, ohne dass sich etwas Entscheidendes ereignete, ja ohne dass das
Ganze infolge seines langsamen Tempos den Anschein einer Verfolgung gehabt
hätte. Deshalb blieb auch Gregor vorläufig auf dem Fußboden,
zumal er fürchtete, der Vater könnte eine Flucht auf die Wände
oder den Plafond für besondere Bosheit halten. Allerdings musste
sich Gregor sagen, dass er sogar dieses Laufen nicht lange aushalten würde;
denn während der Vater einen Schritt machte, musste er eine Unzahl
von Bewegungen ausführen. Atemnot begann sich schon bemerkbar zu
machen, wie er ja auch in seiner früheren Zeit keine ganz vertrauenswürdige
Lunge besessen hatte. Als er nun so dahintorkelte, um alle Kräfte
für den Lauf zu sammeln, kaum die Augen offen hielt; in seiner Stumpfheit
an eine andere Rettung als durch Laufen gar nicht dachte; und fast schon
vergessen hatte, dass ihm die Wände freistanden, die hier allerdings
mit sorgfältig geschnitzten Möbeln voll Zacken und Spitzen verstellt
waren da flog knapp neben ihm, leicht geschleudert, irgendetwas
nieder und rollte vor ihm her. Es war ein Apfel; gleich flog ihm ein zweiter
nach; Gregor blieb vor Schrecken stehen; ein Weiterlaufen war nutzlos,
denn der Vater hatte sich entschlossen, ihn zu bombardieren. Aus der Obstschale
auf der Kredenz hatte er sich die Taschen gefüllt und warf nun, ohne
vorläufig scharf zu zielen, Apfel für Apfel. Diese kleinen roten
Äpfel rollten wie elektrisiert auf dem Boden herum und stießen
aneinander. Ein schwach geworfener Apfel streifte Gregors Rücken,
glitt aber unschädlich ab. Ein ihm sofort nachfliegender drang dagegen
förmlich in Gregors Rücken ein; Gregor wollte sich weiterschleppen,
als könne der überraschende unglaubliche Schmerz mit dem Ortswechsel
vergehen; doch fühlte er sich wie festgenagelt und streckte sich
in vollständiger Verwirrung aller Sinne. Nur mit dem letzten Blick
sah er noch, wie die Tür seines Zimmers aufgerissen wurde, und vor
der schreienden Schwester die Mutter hervoreilte, im Hemd, denn die Schwester
hatte sie entkleidet, um ihr in der Ohnmacht Atemfreiheit zu verschaffen,
wie dann die Mutter auf den Vater zulief und ihr auf dem Weg die aufgebundenen
Röcke einer nach dem anderen zu Boden glitten, und wie sie stolpernd
über die Röcke auf den Vater eindrang und ihn umarmend, in gänzlicher
Vereinigung mit ihm nun versagte aber Gregors Sehkraft schon
die Hände an des Vaters Hinterkopf um Schonung von Gregors Leben
bat.
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