Ronald D.
Laing nennt das 'verrückt'-machende Verhalten Mystifizierung.
Mystifizierung und double-bind sind verwandte Begriffe, beide
drücken aus, dass das Opfer verwirrt wird, während ihm
gleichzeitig die Möglichkeit, sich aus eigener Kraft aus dieser
Situation zu befreien, verbaut ist. Der Unterschied besteht darin, dass
dem Mystifizierten von seinen Eltern ein einziger Weg der Erfahrung und
des Handelns offen gelassen wird; dieses 'richtige' Fühlen,
Erleben und Handeln widerspricht jedoch den Gefühlen der
betroffenen Menschen. Mystifizierung meint einen Umgang, bei dem auf
die eigenen Erfahrungen in keiner Weise eingegangen wird, dass die
ganze Unstimmigkeit durch die Betroffenen aufgedeckt werden kann. Die
Verwirrung wird auf eine Art und Weise ausgelöst, dass das Opfer
der Situation gar nicht die Möglichkeit hat, seinen Zustand der
Konfusion selber zu erkennen. Schon die Erkenntnis der Tatsache,
verwirrt zu sein - als Reaktion auf den elterlichen Eingriff,
würde einen riesigen Schritt in Richtung einer persönlichen
Autonomie bedeuten, einen riesigen Schritt dahin, sein Leben, sein
Schicksal früher oder später wirklich selber bestimmen zu
können - unabhängig von 'krank'-machenden Angehörigen
oder Institutionen. Mystifizierung gibt es; es gibt Eltern, die alles
besser wissen, die für das Kind entscheiden, ob etwas gut,
schlecht, schön oder gesund sei. Es gibt Eltern, die in diesen
Dingen Druck aufsetzen, so stark, dass das Kind dann wirklich 'glaubt',
dass ihm dies oder das gut tue, dass es wirklich müde sei, dass es
sich wirklich schonen müsse, dass ihm die betreffende Kleidung
wirklich gefalle... Ja, dem mystifizierten Kind bleibt nichts anderes
übrig, als zu 'glauben', dass die Schläge, die Verbote, das
eingesperrt sein im dunklen Keller wirklich zu seinem Besten geschehen.
Eltern machen bekanntlich alles aus 'Liebe', bemühen sich darum,
dass das Kind einmal sehr glücklich werde - auch wenn sie
quälen und strafen. Das Kind hat sich zu fügen, es
fürchtet den drohenden Liebesentzug; deshalb sind die Sieger in
diesem Kampf von vornherein klar. Doch dieser Kampf hat für das
Kind bis in sein erwachsenes Leben weitreichende Folgen. Es kann so
niemals lernen, auf die eigenen Gefühle zu vertrauen, was in ihm
selber vorgeht muss es unterdrücken, darf es nicht wahrnehmen. Mystifizierung
kann nur stattfinden, weil Kinder auf ihre Eltern existentiell
angewiesen sind, ausschliesslich ihnen ausgeliefert sind. Sobald
weitere vertraute Bezugspersonen leicht erreichbar sind, hat das Kind
die Möglichkeit, andere, die Meinung der Eltern ergänzende
Ansichten zu hören und zu erfragen. So fällt es ihm viel
leichter, seinen eigenen Gefühlen und Meinungen zu vertrauen. Diese
Überlegungen ändern natürlich nichts am grundlegenden
Bedürfnis von Kindern, Menschen um sich zu haben, auf die sie sich
absolut verlassen können: Menschen, die sie akzeptieren so wie sie
sind, und ihnen echte Zuwendung und Zärtlichkeit geben, genau so,
wie sie es nötig haben. Die Erwachsenen sind für die Kinder
da, keineswegs aber die Kinder für die Erwachsenen: 'Ich bin
für dich da, wenn du nach mir verlangst; willst du dagegen in Ruhe
gelassen werden, verschwinde ich.' So könnten Eltern eine
sinnvolle Haltung ihrem Kind gegenüber in Worte fassen... Mystifizierte
sind wir alle in einem gewissen Mass; was uns von den 'manifest
Erkrankten' unterscheidet, ist nur das Ausmass der während unserer
Kindheit erlittenen Mystifizierung. Die Eltern betreiben das
betrübliche Spiel natürlich mit einem - ihnen nicht voll
bewussten - Ziel. Sie wollen damit erreichen, beispielsweise, dass sie
das Kind in Ruhe lässt; das können sie und wollen sie aber
nicht zugeben. Also wird ein Grund konstruiert, etwa dass das Kind ins
Bett müsse, um sich zu erholen, obwohl es vielleicht noch hellwach
ist. Das eigene Interesse der Eltern wird verleugnet.
Mystifizierte
sind manipulierbar
Es ist
kaum erstaunlich, dass Menschen, die als Kinder nicht einmal
entscheiden konnten, ob sie nun müde waren oder nicht, als
spätere Erwachsene dann nicht in der Lage sind, ihre eigenen
Bedürfnisse und Wünsche wahrzunehmen. So lassen sie sich von
den 'Hohepriestern' unserer Konsum- und Leistungsgesellschaft willig
manipulieren - oder sie werden 'manifest psychotisch'. Der 'manifeste
Ausbruch' einer 'Psychose' kann als Unglücksfall verstanden werden
- die Erziehung zum manipulierbaren, moddernen Staatsbürger ist
etwas überbordet. Der
Mystifizierte zweifelt nicht nur und immer mehr an seinen Wahrnehmungen
über seine eigene Person; auch seine Wahrnehmungen anderer werden
zwangsläufig immer diffuser und verzerrter; seine Peiniger
verstecken sich ja stets hinter einer undurchdringlichen Maske, zeigten
nie ihre wahren Gefühle, widersprachen sich laufend; so ist auch
klar, dass das Opfer mit der Zeit völlig unfähig wird, andere
Menschen gefühlsmässig einzuschätzen. Und genauso wird
es für den mystifizierten unmöglich, die täglichen
Botschaften der Medien, wie auch den Lehrstoff in Schule und Lehre
kritisch zu hinterfragen und gefühlsmässig einzuordnen.
Freiheit,
Freiwilligkeit und Offenheit als Ziel
'Mystifizierend'
und 'doppelbindend' ist die bei uns weit verbreitete, ja geradezu
typische Eigenart, nicht ehrlich und offen zu sein. Ein jeder versucht,
sich wenn immer möglich als wohlmeinend, gutmeinend, hilfreich,
lieb und freundlich darzustellen; wer gibt denn freiwillig
eigennützige Interessen zu ? Wer bekennt offen, dass er andere
übervorteilen und ausnützen will ? Doch all dies machen wir
täglich und möchten dennoch vor dem anderen gut dastehen, von
ihm geschätzt und geliebt werden. Das gilt für
Partnerschaften und für Psychotherapien, im Grund gilt es immer,
wenn Menschen zusammentreffen. Offenheit und Ehrlichkeit - auch auf das
Risiko hin, zu verletzen - könnten beitragen zu einer 'Gesundung'
unserer Gesellschaft, zur Vermeidung der fortwährenden
'Fabrikation' von Unsicherheit und 'Wahnsinn'. Das Argument für
Unehrlichkeit, dass man den anderen damit schonen wollte, ist ein
Scheinargument; es ist nicht der andere, der damit geschont wird,
sondern es ist der Unehrliche selber, der sich vor unzufriedenen
Reaktionen schützt. Egoismus ist nicht 'krank'-machend, hinter
einer falschen, heuchlerischen Maske verborgener Egoismus dagegen ist
es wohl. Die bis in die Tiefen der Persönlichkeit sich auswirkende
Unsicherheit, in die die Unehrlichkeit des anderen einen stürzt,
ist weit schwieriger zu ertragen und mit viel grösserem Leid
verbunden als eine klare, direkte, wenn auch negative oder ablehnende
Gefühlsäusserung. Sie bereitet klar begründbaren und
verständlichen Schmerz, jene lässt das Opfer an sich und der
Welt zweifeln, verhindert klare Erkenntnis über sich und die
anderen und führt letztlich zu Orientierungsverlust.
Die
Bedeutung des 'akuten, psychotischen Schubs'
Der
intensiv mystifizierte Mensch - ob er nun bei seinen Eltern, mit
anderen Menschen zusammen, oder in der Klinik lebt - ist in seiner
Isolation gezwungen, sich immer vollständiger auf die Signale,
Botschaften und Bestimmungen seiner Kontaktperson auszurichten. Der
akute Ausbruch bedeutet eine vollständige Umkehr des Verhaltens
des 'Patienten'. Sein Verhalten im 'Schub' macht jedem klar, dass da
keineswegs die Erfüllung der Wünsche anderer angestrebt wird.
Der 'Schub' richtet sich deutlich gegen die näheren und
bestimmenden Bezugspersonen des Opfers. Der 'Schub' bedeutet aber nicht
nur Revolte, er bedeutet auch Resignation; er signalisiert, dass der
'Patient' die Hoffnung aufgegeben hat, je einmal zu erreichen, was von
ihm verlangt wird. 'Ich bemühe mich nun seit langem angestrengt,
eure verwirrenden und widersprüchlichen Wünsche zu
erfüllen; doch offenbar wird es mir nie gelingen, euch
zufriedenzustellen; noch immer behandelt ihr mich als hilflos und
krank; dies wird sich offensichtlich nie mehr ändern, ja es nimmt
sogar laufend zu. Ich gebe auf; wenn es mir schon nicht gelingt, euch
zufrieden zustellen, dann zeige ich euch, wie sehr ihr mich im Grunde
ankotzt; die Zeit meiner Rücksichtnahme ist beendet, von jetzt an
zeige ich mein wahres Gesicht.' So ungefähr könnte der
'Patient' den Ausbruch des 'Schubs' begründen.
Psychopharmaka-'Therapie'
- extreme Form von double bind und Mystiifizierung
Nachdem
durch die Tatsache der Hospitalisierung das Vertrauen des 'Patienten'
in seine eigenen Wahrnehmungen und Gefühle noch weiter untergraben
wurde (ähnlich schwierige Situationen musste er ja schon seit
langem in seiner Familie erleben), verschärft die sofortige Gabe
von Psychopharmaka seine unerfreuliche Lage massiv: 'Wir wollen dir
helfen, zu dir und deinen Gefühlen vorzustossen, eine eigene
Identität aufzubauen', behaupten 'fortschrittliche' Psychiater und
geben gleichzeitig dem 'Patienten' Psychopharmaka (oder
Elektroschocks), was erstens das Gefühl und die Angst des Opfers,
'krank' zu sein, bestätigt und zweitens jegliche
Gefühlswahrnehmung weg dämpft. Besonders gefährlich sind
die so genannten Neuroleptika. Neuroleptika wirken direkt
schädigend am Gehirn, sie unterdrücken die
Gefühlswahrnehmung, verändern grundlegend die
Persönlichkeit der 'Kranken' und lassen sie abgestumpft und
abgebaut erscheinen. Für den schon vor seinem ersten Kontakt mit
der Psychiatrie an sich und seinen Gefühlen zweifelnden Menschen
ist diese Medikamentenwirkung verheerend; er wird damit manipulierbar
und wirklich, oft dauernd auf fremde Hilfe angewiesen. Die Gabe
von Psychopharmaka zur 'Behandlung' von psychischen 'Störungen'
erzeugt einen echten double bind. Einerseits wird vom 'Patienten' eine
'Besserung' seines Zustandes erwartet, ein Aufwachen aus Verwirrung und
Orientierungsverlust, andererseits wird ihm deutlich gezeigt, dass dies
ohne die 'Hilfe' der Medikamente nicht gelingen kann. Der Rückfall
nach Absetzen dieser 'Behandlung' ist also vorprogrammiert - ein
Rückfall in eine schwierige Situation: Der Eingriff der Psychiater
verwirrte zusätzlich, und die ursprüngliche,
'verrückt'-machende Situation besteht unverändert weiter. Nach der
Einnahme der sein Gefühlsleben unterdrückenden Medikamente
ist der 'Patient' oft wieder in der Lage, den Ansprüchen seiner
Umgebung - die ihn eben nicht als selbstsicheren, selbständigen
Menschen und auch nicht als Rebellen akzeptieren will - zu
genügen; er wird die ihm angedichteten Gefühle, Ängste
und Hemmungen als die eigenen erkennen; und er wird sein Handeln, Leben
und Fühlen wieder vollständig auf die anderen ausrichten,
ohne dass sich seine eigenen Bedürfnisse und Wahrnehmungen
störend einschalten können. Auf den ersten Blick mag die
medikamentös vermittelte Beruhigung der Situation als eine
Besserung erscheinen. In Wirklichkeit handelt es sich um eine
Pseudobesserung. Es ist
sehr schwierig, eine Psychopharmaka-'Behandlung' zu beenden.
Neuroleptika-'Behandlungen' bei 'Schizophrenen' werden von vielen
Ärzten von Anfang an als Dauermedikation geplant und
durchgeführt. Falls es nun in diesem Stadium der Pseudobesserung
'gewagt' wird, die Medikamente abzusetzen, wird vom 'Patienten'
natürlich weiterhin 'Symptom'- Freiheit verlangt. Doch diese
'Symptom'-Freiheit - die nicht anstossende Anpassung, die Ausrichtung
seiner Handlungen auf die Erwartungen der anderen - konnte er nur unter
dem Einfluss der medikamentösen Zwangsjacke erbringen. Wie sollte
ihm, ohne die gefühlsunterdrückende Wirkung der
Psychopharmaka, dieser 'Symptom'-freie Zustand möglich sein ? Die
Tatsache des 'psychotischen' Ausbruchs hatte sehr deutlich - als
Aufschrei - gezeigt, dass er so nicht mehr leben konnte. Nach der
Hospitalisation und der Psychopharmaka-'Behandlung' ist dies noch
unwahrscheinlicher. So werden denn von den Psychiatern nach
'Absetzversuchen' der Medikation schnell und fleissig
Rückfälle 'diagnostiziert', was selbstversändlich als
'Indikation' für die erneute Verabreichung von Psychopharmaka,
meist in noch höherer Dosierung, gilt.
Auszug
aus:
Marc Rufer: Irrsinn Psychiatrie. Zytglogge Verlag, Bern 1997, ISBN
3-7296-0536-4
Mit
freundlicher Genehmigung des Verlages.
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Zytglogge Verlag, Bern
1997
ISBN
3729605364