Geschichten - Das Taschentuch


"Hey Kleines, willst du mir nicht Hallo sagen?" Er schaut auf mich herab. Ich nicke.
-Ich will dir nicht Hallo sagen!!!- Ich umarme ihn. Er streicht mir mit seinen großen Händen über den Kopf, verwuschelt das blonde Haar. Ich kann hören wie er in die Küche geht, er redet mit ihr. Er fragt, wann er mich zurück bringen soll. Kann es nicht schon Sonntag sein? Ich spiele weiter, ich spiele, spiele, spiele. Mama kommt zu mir. Umamrt mich und gibt mir einen Kuss. Viel Spaß wünscht sie mir und ich nicke. -Spaß an meinem Tod?-
Er bringt meine Tasche zum Auto, meinen Teddy schmeißt er in den Kofferraum. -Ich will nicht mit!- Ich versuche meine Tränen zurück zu halten.
Im Auto sitze ich neben ihm. Ich beobachte wie die Regentropfen an den Scheiben hinab kullern. Wie kleine Tränen, denke ich mir.
Die Tür geht auf, ein kalter Luftzug weht mir ins Gesicht. Jetzt sitzt er neben mir, wir sind allein, ich werde das ganze Wochenende mit ihm allein sein. Er legt seine Hand auf meinem Oberschenkel und drückt leicht zu. -Will hier raus, lass mich gehen!-
Ich kann spüren das er mich küsst. Seine Stopel kratzen meine Haut, wie ich dieses Gefühl hasse. Geschieht dies wirklich? Ich bekomme von der Welt nicht mehr viel mit. Wir fahren los.

*

"Willst du nicht mit spazieren gehen? Wir können auch spielen." Er lächelt mich an, streckt mir seine Hand entgegen. "Will Fernsehen gucken." Ich schaue ihn nicht an. "Die frische Luft wird dir gut tuen, es ist nicht gesund, wenn du nur Fernsehen schaust." Ich kann hören, wie er mehr Druck in seine Stimme legt.
Jetzt kommt er zu mir und macht den Fernseher aus. "Zieh dich an" -Warum, du ziehst mich doch gleich wieder aus...- Ich brauche lange um mich anzuziehen. Er steht da und wartet, den Knirps in der Hand, den Hut auf den Kopf, diese graue Jacke und eine Plastiktüte in der Hand in der sich ein kleines Taschentuch befindet. Es ist blau. Es ist immer blau.
Wir gehen zum Fahrstuhl, Oma sagt mir Tschüß, sie wird das Essen fertig haben wenn wir wieder da sind. -Ich könnte mich jetzt schon übergeben- Im Fahrstuhl küsst er mich wieder, drückt mich ganz fest an sich, so dass ich kaum noch Atmen kann. Er lacht. Wir werden viel Spaß haben, sagt er. Ich muss schon wieder meine Tränen zurückhalten.

Draussen ist es kalt, ich friere und der kalte Wind tut auf meiner Haut weh. Es ist als schneidet er in meine Lungen, als würde er mich hindern wollen zu atmen. Es tut so weh.
Er nimmt mich an die Hand und wir gehen los. Erst über die große Straße, dann sofort auf den kleinen Patt. Erst zum kleinen Spielplatz, da spielen immer die anderen Kinder aus der Nachberschaft.
Ich rutsche ein paar mal die Rutsche runter, dann nimmt er wieder meine Hand und wir gehen weiter. Ich kann kaum mithalten, seine Beine so lang und groß, meine so klein und kurz. Wie die eines kleinen Kindes eben.
Wir sind jetzt beim zweiten Spielplatz. Der ist groß und hat ein Klettergerüst mit einem kleinen Häuschen, einer gelben Rutsche und 2 Schaukeln. Daneben ist die Schnellstraße, man kann die Böschung hochklettern und dort Himbeeren flücken. Aber heute geht er nicht mit mir dort hin, Himbeeren gibt es um die Zeit nicht. -Ich hasse Himbeeren!-
"Willst du nicht spielen? Wollen wir beide nicht spielen?" Ich blicke ihn an, nicke und schlucke mein Schreien hinunter, vergrabe meinen Schmerz irgendwo ganz unten, dort wo ihn niemand findet.
Er hebt mich hoch in das kleine Spielhaus. Wir spielen "Nachber und Nachberin". Das "spielen" wir immer. Ich bin die Nachberin, er der neue Nachber. Irgendwann sind wir dann ein richtiges "Liebespaar", wie die "Großen" und wir zeigen uns, wie sehr wir uns lieb haben, so wie die "Großen" es machen, wenn sie sich lieb haben... -Aber ich hasse dich doch!-

Das blaue Taschentuch. Er hohlt es hervor und putzt mir die Finger ab. Sonst wird ja alles klebrig, wenn ich was anfasse lacht er. Wir gehen weiter, nachdem er mir die Jacke zu gemacht hat. Wir gehen durch die Unterführung. Er fragt mich, warum ich denn nicht "Hallo" rufe, das hallt doch so schön. Ich rufe. Ist das meine Stimme? Ich spüre mich nicht mehr. Ist das mein Körper, meine Stimme? Ich will endlich nach Hause! Ich quengel, meine Füße tuen weh und ich kann nicht mehr so schnell laufen, ausserdem ist mir kalt und alles klebt an mir.
"Ein bisschen wirst du noch durchhalten können oder nicht? Du bist doch schon groß und stark, ein kleines Fräulein." Er schaut auf mich hinab und lächelt. Ich mag dieses Lächeln nicht. Wieder ein Spielplatz. Der ist immer leer. Der ist nur für die Kinder von den Schrebergärtenbesitzer. Trotzdem "darf" ich ein bisschen mit dem Pferd schaukeln. Er sitzt hinter mir und hält mich fest. -Lass mich los, lass mich gehen, ich will weg!- Endlich gehen wir weiter. Ich weiß das es jetzt nicht mehr weit ist, ich kann schon das schwarze Hochhaus sehen. Unterwegs treffen wir noch einen "Bekannten". Ich kenne ihn nicht, aber er streichelt mir über die Wangen. Ich zieh den Kopf weg. Sie lachen. -Wie könnt ihr nur lachen?!-

Oma hat Kartoffelbrei mit Spiegelei und Spinat gemacht. "Das magst du doch so." Daneben steht eine Cola. Artig esse ich, wie man von mir erwartet. Ich rede nicht viel, ich gucke wieder Fernsehen. Der und der ist Tod, die und die ist ja jetzt auch so krank... Bekomme nur Gesprächsfetzen mit. Es ist wie immer. "Satt." Ich schiebe den Teller von mir weg. Es ist komisch. Früher redete ich wie ein Wasserfall. Jetzt verständige ich mich mit Zeigen oder einzelnen Wörtern.
Ich soll mir die Hände waschen. Ich stehe auf, gehe zur Toilette, er kommt mir nach. -Lass mich in Ruhe!- Er will mir helfen, fasst meine kleinen Finger und hält sie unter das kalte Wasser und wieder dieses blaue Taschentuch. Es ekelt mich. Mag nicht.

*

"Magst du was süßes?" Ich nicke und Oma hohlt mir Chips und Cola. Aber ich habe eigentlich keinen Hunger, ich schaue wieder Fernsehen, liege auf dem Sofa und bürste Kathrin. Kathrin mag ich. Sie ist so klein und man kann ihr ganz toll die Haare flechten. Das mache ich immer gerne, ihre Haare sind so weich und blond. Ich hab sie so lieb, sie ist meine beste Freundin. Er fährt jetzt mit dem Fahrrad. Eine knappe Stunde darf ich mich in Sicherheit wiegen. Aber die Zeit vergeht viel zu schnell und schon kommt er auch wieder zur Tür herrein, lacht mich an. -Schrei doch, wein doch, tu etwas, lasss ihn nicht hierher!!!- Sie ist jetzt weg, sie ist immer weg wenn er da ist. Sie badet. Es wird lange dauern. "Willst du das ich dich streichel? Das magst du doch oder nicht? Ich will nur das du glücklich bist, ich hab dich doch so lieb." Er sitzt neben mir, ich schaue nach draussen, sehe wie die Wolken ganz schnell am Himmel entlang ziehen, genau so wie meine Kindheit ganz schnell an mir vorbei zieht.
Mir ist kalt, ich will meinen Pulli wieder anziehen. "Leg dich lieber auf mich, ich wärme dich."
-Mir ist doch gar nicht kalt, geh doch weg-

Und ich liege doch wieder in seinem Bett! Ich mag mich gar nicht mehr, ich mag das alles hier gar nicht. Ich will nach Hause. Morgen ist Sonntag.
Ich kann seinen Geruch riechen. Er liegt neben mir. Ich kann ihn atmen hören, Ganz laut neben meinem Ohr. Wo ist mein Teddy? Oder Kathrin? Nie sind sie da, wenn er da ist.
Ich bin ganz lange wach, ganz lange. Ich kann sogar schon sehen wie es ein bisschen hell ist. Ich höre ihn schnarchen. Ich kann schlafen, aber wenn ich schlafe ist er wieder da! Aber ich bin so müde. In diesem dämmrigen Licht sehe ich das blaue Taschentuch. Es liegt neben mir. Das blaue Taschentuch. Ich schlucke meinen Schmerz.

*

Sie fragt mich, ob es mir gefallen hat. Ich nicke wieder, spüre seine Hand auf meiner Schulter liegen, sie drückt ganz leicht zu. Ich gehe ganz schnell weg, gehe auf mein Zimmer und ich weine all die Tränen die ich nicht zeigen durfte. Nach kurzer Zeit kommt sie hoch und fragt, warum ich weine, ob es mir nicht gefallen hätte? -Nein hat es nicht, ich hasse es!!!- Ich schüttel den Kopf. "Warum weinst du denn? Vermisst du Oma und Opa?" -Nein, nein, nein!- Nicke wieder.
"Er sagt, du darfst nächstes Wochenende wiederkommen. Es gibt gleich Essen." Und sie geht raus.

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