An die Nachgeborenen (1933)
(Bertholt Brecht)
I
Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten!
Das arglose Wort ist töricht. Eine glatte Stirn
Deutet auf Unempfindlichkeit hin. Der Lachende
Hat die furchtbare Nachricht
Nur noch nicht empfangen.
Was sind das für Zeiten,
wo
Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist
Weil es ein Schweigen über so viel Untaten
einschließt!
Der dort ruhig über die Straße geht
Ist wohl nicht mehr erreichbar für seine Freunde
Die in Not sind?
Es ist wahr: ich verdiene noch
meinen Unterhalt
aber glaubt mir: das ist nur ein Zufall. Nichts
Von dem, was ich tue, berechtigt mich dazu, mich sattzuessen.
Zufällig bin ich verschont. (Wenn mein Glück aussetzt, bin ich verloren.)
Man sagt mir: Iß und trink du! Sei froh, daß du hast!
Aber wie kann ich essen und trinken, wenn
Ich dem Hungernden entreiße, was ich esse, und
Mein Glas Wasser einem Verdurstenden fehlt?
Und doch esse und trinke ich.
Ich wäre gerne auch weise.
In den alten Büchern steht, was weise ist:
Sich aus dem Streit der Welt halten und die kurze Zeit
Ohne Furcht verbringen
Auch ohne Gewalt auskommen
Böses mit Gutem vergelten
Seine Wünsche nicht erfüllen, sondern vergessen
Gilt für weise.
Alles das kann ich nicht:
Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten!
II
In die Städte kam ich zur Zeit der Unordnung
Als da Hunger herrschte.
Unter die Menschen kam ich zu der Zeit des Aufruhrs
Und ich empörte mich mit ihnen.
So verging meine Zeit
Die auf Erden mir gegeben war.
Mein Essen aß ich zwischen
den Schlachten
Schlafen legte ich mich unter die Mörder
Der Liebe pflegte ich achtlos
Und die Natur sah ich ohne Geduld.
So verging meine Zeit
Die auf Erden mir gegeben war.
Die Kräfte waren gering.
Das Ziel
Lag in großer Ferne
Es war deutlich sichtbar, wenn auch für mich
Kaum zu erreichen.
So verging meine Zeit
Die auf Erden mir gegeben war.
III
Ihr, die ihr auftauchen werdet aus der Flut
In der wir untergegangen sind
Gedenkt
Wenn ihr von unseren Schwächen sprecht
Auch der finsteren Zeit
Der ihr entronnen seid.
Gingen wir doch, öfter
als die Schuhe die Länder wechselnd
Durch die Kriege der Klassen, verzweifelt
Wenn da nur Unrecht war und keine Empörung.
Dabei wissen wir doch:
Auch der Haß gegen die Niedrigkeit
Verzerrt die Züge.
Auch der Zorn über das Unrecht
Macht die Stimme heiser. Ach, wir
Die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit
Konnten selber nicht freundlich sein.
Ihr aber, wenn es so weit sein
wird
Daß der Mensch dem Menschen ein Helfer ist
Gedenkt unsrer
Mit Nachsicht.
(c) Bertholt Brecht
Von den Nachgeborenen (2001)
I
Wirklich ich lebe in finsteren Zeiten!
Jedes Wort ist Politik, der Glückliche
Betrogen, fern der Wirklichkeit.
Jeder spricht über Bäume,
doch niemand
Vermag sie zu retten
Jeder der über die Strasse geht ist ein Fremder.
Einer verdient seinen Unterhalt,
der Andere
Erhält ihn unverdient
Doch alle essen sich satt.
Auch ich; der Verdurstenden verdrängend
Damit das Leben erträglich wird.
Ich wäre auch gerne weise,
ich habe viel aus den alten Büchern gelesen,
doch ihre Weisheit
erkenne ich nicht mehr
Ihre Tugenden erscheinen mir töricht
Jeder ist sich selbst der nächste, strebt
Möglichst viele seiner Wünsche zu erfüllen
Und die Weisheit kennt niemand mehr
Wirklich ich lebe in finsteren Zeiten!
II
In den Städten erkenne ich Wohlstand
Gespickt von hoffnungsloser Armut
Doch der Aufruhr hat sich gelegt
Und auch ich empöre mich nur noch selten
So vergeht meine Zeit
Die auf Erden mir gegeben ist.
Gegessen wird zwischen Tür
und Angel
Schlachten schlagen wir
Schon lange nicht mehr
Müde erkenne ich keinen Mörder mehr
Tödliche Liebe mahnt zur Vorsicht
Die Natur sehe ich nicht mehr
So vergeht meine Zeit
Die auf Erden mir gegeben ist.
Ich bleibe schwach, das Ziel
undefiniert
Es ist verschwommen, für mich
Kaum zu erreichen
So vergeht meine Zeit
Die auf Erden mir gegeben ist.
III
Ihr, die ihr in der Flut untergegangen seid
Aus der wir emporstiegen
Seid vergessen
Eure Schwächen sind die unseren geworden
Der einen finsteren Zeit entronnen
Hat uns die nächste Finsternis eingeholt.
Wir kaufen uns mehr Schuhe als
wir wechseln können
Beobachten Krieg, unberührt
Das stetige Unrecht inspiriert
Nur gelegentlich Empörung.
Auch uns wird gelehrt "Hass
gegen die Niedrigkeit
Verzerrt die Züge,"
Doch heute tragen wir Masken
Heucheln eure ersehnte Freundlichkeit.
Ihr aber, die ihr wartet
Auf den Menschen, der dem Menschen ein Helfer ist
Euch bitte ich jetzt
Um Nachsicht.
(c) puk
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