Bundesministerium für
Arbeit, Gesundheit und Soziales
Stubenring 1
1010 W I E N

Arbeiterkammerwahlsache:

Anfechtungswerber/innen:

  1. Wahlwerbende Gruppe Wahlvorschlag "Liste Gemeinsam Zajedno / Birlikte Alternative und Grüne Gewerkschafterinnen / UG", vertreten durch den Zu stellbevollmächtigten Mario Lechner, Wellenau 7, 6900 Bregenz und

  2. Aydemir Haydar, türkischer Staatsbürger, Webergasse 28, 6973 Höchst,

  3. Aydemir Hüsniye, türkischer Staatsbürger, Webergasse 28, 6973 Höchst,

  4. Demir Sadettin, türkischer Staatsbürger, Unterdorf 361, 6870 Bezau,

  5. Yilmaz Firat, türkischer Staatsbürger, Gmeind 56, 6934 Sulzberg

  6. Özmen Rifat , türkischer Staatsbürger, Bahngasse 27, 6858 Schwarzach

alle vertreten durch

Dr.Wilfried Ludwig Weh, Rechtsanwalt, Wolfeggstraße 1, 6900 Bregenz

Gemäß § 8 Abs. 1 RAO erfolgt Berufung auf die erteilte Vollmacht

Belangte Behörde: Hauptwahlkommission der Arbeiterkammer Vorarlberg

wegen: Anfechtung der Arbeiterkammerwahl Vorarlberg 1999 wegen Rechtswidrigkeit des Wahlverfahrens

A N F E C H T U N G

des Wahlverfahrens zur Vorarlberger Arbeiterkammer

Bregenz, am 5.5.1999-Lä/lechma\anf1 1-fach

In umseits bezeichneter Arbeiterkammerwahlsache fechten die oben genannten Anfechtungswerber/innen (im folgenden wird jeweils die Kurzform verwendet) die Gültigkeit der Arbeiterkammerwahl Vorarlberg 1999 nach § 42 Abs 1 Arbeiterkammergesetz 1992 wegen Rechtswidrigkeit des Wahlverfahrens an und beantragen, diese Wahl wegen Verstößen gegen zwingendes Recht der Europäischen Gemeinschaft für ungültig zu erklären und auszusprechen, daß die angefochtene Wahl zur Arbeiterkammer Vorarlberg zu wiederholen ist.

1. Zur Rechtzeitigkeit der Anfechtung

Der Hauptwahlkommissär der Arbeiterkammerwahl Vorarlberg 1999, Dr. Bernhard Wiederin, hat dem Zustellungsbevollmächtigten der Erstanfechtungswerberin, Mario Lechner, auf Briefpapier der Arbeiterkammer - nicht eingeschrieben - das Ergebnis der Arbeiterkammerwahl Vorarlberg 1999 mit Schreiben vom 27.4.1999 bekanntgegeben.

Mit heutigem Tag steht sohin die 14-tägige Frist zur Anfechtung dieser Wahl gemäß § 42 Abs 1 Arbeiterkammergesetz 1992 noch offen.

Die amtliche Veröffentlichung des Wahlergebnisses erfolgte in der Wiener Zeitung vom 5.5.1999, Seite 29, sodaß auch eine amtliche Kundmachung vorliegt, die innerhalb der letzten vierzehn Tage liegt. Auch diesbezüglich erfolgt die Wahlanfechtung innerhalb der vierzehn Tage des § 42 Arbeiterkammergesetz 1992.

2. Sachverhalt

An der Wahl zur Vorarlberger Arbeiterkammer 1999 hat neben anderen die wahlwerbende Gruppe "Gemeinsam Zajedno / Birlikte Alternative und Grüne GewerkschafterInnen / UG (Gemeinsam)" kandidiert. Zustellbevollmächtigter dieser Liste ist Mario Lechner.

Die von der Erstanfechtungswerberin eingereichte Liste umfaßte insgesamt 26 Kandidaten und Kandidatinnen, bestehend aus Österreichern mit österreichischen Vorfahren, Österreichern mit Vorfahren ausländischer Staatsbürgerschaft, eingebürgerten Österreichern und fünf türkischen Arbeitnehmern, nämlich den Zweit- bis Sechstanfechtungswerbern, die allein die türkische Staatsbürgerschaft besitzen, aber jeweils im Besitz von Befreiungsscheinen nach § 4 c AuslBG, also assoziationsintegriert im Sinne des Art. 6 Abs. 1 dritter Gedankenstrich des Assoziationsratsbeschlusses Nr. 1/80 sind.

Schon im Vorfeld der Arbeiterkammerwahl ist es zu Diskussionen über das passive Wahlrecht der Anfechtungswerber gekommen. Die Tagespresse hat berichtet, daß Kenner des Gemeinschaftsrechts vom passiven Wahlrecht assoziationsintegrierter türkischer Arbeitnehmer zur Arbeiterkammerwahl ausgingen.

Aktenkundig ist eine Stellungnahme des Bundeskanzleramts-Verfassungsdienst vom 19. November 1998, GZ 600.058/3-V/4/98, an die Bundesministerin für Arbeit, Gesundheit und Soziales (im folgenden nur: "Stellungnahme"), nach der EG-Bürger zweifellos passives Wahlrecht genießen, wenn sie im Kammersprengel als Arbeitnehmer erwerbstätig sind, und in der der Verfassungsdienst auch keine ernsthaften Zweifel äußert, daß diese Rechtsstellung der EG-Bürger auch auf assoziationsintegrierte türkische Arbeitnhmer übertragbar sei.

Am 08.02.1999 hat die Hauptwahlkommission der Arbeiterkammer Vorarlberg gegen die Stimme ihres Vorsitzenden entschieden, daß die Zweit- bis Sechstanfechtungswerber vom passiven Wahlrecht zur Arbeiterkammer ausgeschlossen seien, und hat diese fünf Bewerber/innen vom Wahlvorschlag der Erstanfechtungswerberin gestrichen.

Der Hauptwahlkommissär, Bezirkshauptmann Dr. Bernhard Wiederin, hat das passive Wahlrecht der Anfechtungswerber aus dem EG- und Assoziationsrecht abgeleitet, während der Arbeiterkammerpräsident den gegenteiligen Standpunkt der politischen Mitglieder der Hauptwahlkommission mit folgender richtungweisender Begründung zusammenfaßt (Vorarlberger Nachrichten vom 9.2.1999):

AK-Präsident Josef Fink warnte vor "einer unnötigen Auseinandersetzung, die den Ausländern schadet". Das "vorgeschobene Argument" der Grünen, daß mit der Kandidatur die Integration der Ausländer beschleunigt werde, bewirke das Gegenteil. Damit würden die Gründen "Ausländerfindlichkeit provozieren", und Polarisierung schade allen. "Wenn Gefühle und Haltungen der Einheimischen nicht berücksichtigt wwerden, wird die Ausländerfeindlichkeit massiv verstärkt".

Aus dem Mitteilung der Hauptwahlkommission vom 27.4.1999 und der amtlichen Kundmachung vom 5.5.1999 ergibt sich folgendes Wahlergebnis der Arbeiterkammerwahl 1999:

Vorarlberger Arbeiter- und Angestelltenbund (ÖAAB): 27.272 Stimmen, 43 Mandate

FSG - Walter Gelbmann - mit euch ins nächste Jahrtausend: 7.323 Stimmen, 11 Mandate

Freiheitliche und parteifreie Arbeitnehmer Vorarlberg - FPÖ: 5.788 Stimmen, 9 Mandate

Gemeinsam Zajedno / Birlikte Alternative und Grüne GewerkschafterInnen / UG (Gemeinsam): 1.535 Stimmen, 2 Mandate

Gewerkschaftlicher Linksblock: 268 Stimmen, 0 Mandate

NBZ - Neue Bewegung für die Zukunft 3.258 Stimmen, 5 Mandate

Wahlberechtigte: 102.384

abgegebene Stimmen: 46.477

davon ungültig: 1.033

daher gültig: 45.444

Die Gültigkeit der Arbeiterkammerwahl Vorarlberg 1999 wird wegen Rechtswidrigkeit des Wahlverfahrens infolge ungerechtfertigten Ausschlusses der Zweit- bis Sechsanfechtungswerber vom passiven Wahlrecht angefochten.

3. Zur Legitimation der Zweit- bis Sechstantragsteller

Nach § 42 AKG kann die Gültigkeit einer Wahl von der jeweiligen wahlwerbenden Gruppe beim Bundesminister für Arbeit und Soziales angefochten werden. Die Anfechtungslegitimation der Erstanfechtungswerberin kann daher nicht fraglich sein.

Andererseits ist offenkundig, daß die Diskriminierung auch oder gerade in den Personen und Rechten der Zweit- bis Sechstbeschwerdeführer erfolgt ist. Auch die indirekte Diskriminierung der in der Lage der Zweit- bis Sechstanfechtungswerber befindlichen Kollegen (assoziationsintegrierte türkische Arbeitnehmer, auch Befreiungsscheininhaber allgemein), die keinen Kandidaten mit gleicher Interessenlage wie ihre eigene als Arbeiterkammerrat wählen können, liegt in deren Gleichbehandlungsanspruch begründet.

Im Recht der Europäischen Gemeinschaft ist für jeden Rechtsanspruch ein Rechtszug zu einem Gericht gewährleistet. Andernfalls würde Art. 234 EG (ex 177 EGV) ins Leere laufen. Es gilt also der Grundsatz "ubi jus, ibi remedium", oder anders formuliert, aus dem materiellen Rechtsanspruch ergibt sich ein Rechtsanspruch auf verfahrensmäßige Durchsetzung bis hin zu einem in der Sache entscheidungsbefugten Gericht.

Der Verfassungsgerichtshof hat erst dieser Tage in seinem Erkenntnis vom 24. Februar 1999, B 1625/98-32, ausdrücklich bejaht, daß das Gemeinschaftsrecht Rechtswege eröffnet, wo es einen Anspruch gewährleistet und ein Rechtsweg an sich ohnehin bereits besteht, weil es

irgend ein wirksames (aufsteigendes) Rechtmittel an eine unabhängige Stelle geben muß. (Seite 11)

Demnach ist davon auszugehen, daß den Zweit- bis Sechsanfechtungswerbern als Arbeitnehmern, die aus Gemeinschaftsrecht einen Rechtsanspruch auf passives Wahlrecht ableiten können, auch der Rechtsweg offen steht, um diesen Rechtsanspruch im Instanzenweg und schließlich jedenfalls bei einem Gericht durchzusetzen.

4. Anfechtungsgründe

§ 42 Arbeiterkammergesetz bestimmt:

(1) Die Gültigkeit der Wahl kann innerhalb von 14 Tagen nach Kundmachung des Wahlergebnisses von jeder wahlwerbenden Gruppe, die Walvorschläge eingebracht hat, wegen behaupteter Rechtswidrigkeit des Wahlverfahrens beim Bundesminister für Arbeit und Soziales angefochten werden kann. Der Anfechtung ist stattzugeben, wenn Bestimmungen des Wahlverfahrens verletzt wurden und hiedurch das Wahlergebnis beeinflußt werden konnte.

(2) Gibt der Bundesminister für Arbeit und Soziales der Anfechtung statt, so hat die Neuausschreibung der Wahl innerhalb von drei Monaten zu erfolgen, wobei der Wahltermin so festzulegen ist, daß die für eine ordnungsgemäße Durchführung der Wahl notwendigen Vorbereitungsarbeiten rechtzeitig abgeschlossen werden können, es sei denn, daß der Verfassungsgerichtshof in einem Verfahren gemäß Art 141 B-VG der Anfechtung aufschiebende Wirkung zuerkannt hat.

Unstreitig ist, daß die Zweit- bis Sechstanfechtungswerber die Voraussetzungen des österreichischen Gesetzesparagraphen für das passive Wahlrecht zur Arbeiterkammer nicht erfüllen, weil dieses ausdrücklich auf die Wählbarkeit zum Nationalrat abstellt, die allein österreichischen Staatsbürgern gewährleistet sein kann.

Zu prüfen ist im folgenden aber, ob Normen des Gemeinschaftsrechts oder des Assoziationsrechts eine eigenständige Grundlage für das passive Wahlrecht der Zweit- bis Sechstanfechtungswerber bilden können.

In diesem Zusammenhang stellt sich damit das Problem der unmittelbaren Anwendbarkeit von EG- und Assoziationsrecht, also die Frage, ob dieses zum österreichisches Recht hinzutritt. Ein Problem der Verdrängungswirkung kann sich schon deshalb nicht ergeben, weil der Text des Arbeiterkammergesetzes Arbeitnehmer mit EU-Staatsbürgerschaft und assoziationintegrierte türkische Arbeitnehmer von der Wahl nicht ausdrücklich ausschließt.

Völlig klar ist, daß EG-Wanderarbeitnehmer bei Arbeiterkammerwahlen passiv wahlberechtigt sind. Dies ergibt sich aus der Stellungnahme des Verfassungsdiensts ebenso zweifelsfrei wie aus der dort erwähnten Korrespondenz zwischen der Republik Österreich und der Europäischen Kommission und aus der für alle Mitgliedstaaten verbindlichen Auslegung des Art. 8 der Verordnung 1612/68 (EWG) des Rates in den beiden Urteilen des Europäischen Gerichtshofs vom 04. Juli 1991, Rs C-213/90, ASTI und vom 18. Mai 1994, Rs C-118/92, Kommission / Luxemburg ("ASTI II") zweifelsfrei.

Wie offensichtlich das passive Arbeiterkammerwahlrecht für EG-Wanderarbeitnehmer garantiert ist, ergibt sich aus dem Verfahren Kommission / Luxemburg, ASTI II, in dem Luxemburg nicht einmal den Versuch einer Rechtfertigung für seinen Gemeinschaftsrechtsverstoß gemacht, sondern vor dem Europäischen Gerichtshof uneingeschränkt submittiert hat.

Fraglich ist allein, ob die Urteile ASTI I und ASTI II uneingeschränkt auf assoziationsintegrierte türkische Arbeitnehmer übertragbar sind. (Die Frage, ob sie allenfalls auch auf noch nicht assoziationsintegrierte, aber dem regulären Arbeitsmarkt angehörige türkische Arbeitnehmer anwendbar sind, wie dies Feik a.a.O. annimmt, stellt sich angesichts des bei allen Einspruchswerbern vorhandenen Befreiungsscheines nach § 4 c AuslBG nicht).

Die Stellungnahme des Verfassungsdiensts ließ eine Bejahung des passiven Arbeiterkammerwahlrechts assoziationsintegrierter türkischer Arbeitnehmer erkennen, ließ aber einen Restzweifel offen und stellt eine Vorlage an den Europäischen Gerichtshof zur Diskussion.

Nicht behandelt wurde in der Stellungnahme des Verfassungsdiensts das Urteil Gaygusuz des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 6. September 1996, 36/1995/545/631, das massiv für das passive Arbeiterkammerwahlrecht aller beitragspflichtigen Arbeitnehmer spricht. Nicht erwähnt wurde darin auch Art. 28 der European Convention on the legal status of migrant workers vom 24.11.1977, der das Recht der Wanderarbeitnehmer garantiert, sich gleich wie Staatsbürger des Arbeitgeberstaats zu organisieren und insofern diskriminierungsfrei behandelt zu werden.

Nicht berücksichtigen konnte der Verfassungsdienst spätere Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, die auch die Restzweifel des Verfassungsdiensts am passiven Wahlrecht der Anfechtungswerber (die diese nicht haben) beseitigt hätte.

Vorerst erscheint es hilfreich, auf die Grundlagen zurückzuführen.

Die Arbeitnehmerfreizügigkeit ist in Art. 48 ff EG-V grundgelegt.

Von der Arbeitnehmerfreizügigkeit ausgenommen sind allein Personen, die im Kernbereich der öffentlichen Verwaltung tätig sind. Bei Heranziehung der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs kann nicht der geringste Zweifel daran bestehen, daß Kammerräte keine hoheitlichen Aufgaben im Kernbereich der Verwaltung haben und vor allem nicht nach Art. 48 Abs. 4 EG-V als Beschäftigte der öffentlichen Verwaltung anzusehen sind. Daran läßt auch die Stellungnahme des Bundeskanzleramts keinen Zweifel.

Die Durchführung der Arbeitnehmerfreizügigkeit ist vorerst einmal durch die Verordnung 1612/68 (EWG) des Rates erfolgt. Deren Art. 8 gewährleistet einem EG-Wanderarbeitnehmer Anspruch auf gleiche Behandlung hinsichtlich der Zugehörigkeit zu Gewerkschaften und der Ausübung gewerkschaftlicher Rechte, einschließlich des Wahlrechts.

In den bereits erwähnten Urteilen ASTI I und ASTI II hat der EuGH daraus unmißverständlich das passive Wahlrecht von EG-Wanderarbeitnehmern zu Privatbeamtenkammern abgeleitet. Dabei spielt deren Organisationsform keine bestimmende Rolle.

Bis hierher besteht zwischen den Einspruchswerbern und dem Verfassungsdienst weitgehender Konsens. Allerdings hat die jüngere Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs mehrere vom Verfassungsdienst noch als nicht restlos klar dargestellte Fragen im Sinne des Rechtsstandpunkts der Anfechtungswerber geklärt.

So hat der Europäische Gerichtshof im Urteilen Birden vom 26.11.1998, Rs. C-1/97, RZ 65 und Akman vom 19.11.1998, Rs. C-210/97 ausdrücklich ausgesprochen, daß die Vorschriften des Kapitels II Abschnitt 1 des Assoziationsratsbeschlusses Nr. 1/80 einen weiteren, durch die Art. 48, 49 und 50 EG-V geleiteten Schritt zur Herstellung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer türkischer Staatsbürgerschaft darstellten, denn:

Der Gerichtshof hat in ständiger Rechtsprechung aus dem Wortlaut des Artikels 12 des Assoziierungsabkommens EWG-Türkei und des Artikels 36 des Zusatzabkommens, das am 23. November 1970 unterzeichnet, dem Abkommen als Anlage beigefügt und durch die Verordnung (EWG) Nr. 2760/72 des Rates vom 19. Dezember 1972 (ABl. L 293, S.1) abgeschlossen wurde, sowie aus dem Zweck des Beschlusses Nr. 1/80 hergeleitet, daß die im Rahmen der Artikel 48, 49 und 50 EG-Vertrag geltenden Grundsätze soweit wie möglich auf die türkischen Arbeitnehmer, die die im Beschluß Nr. 1/80 eingeräumten Rechte besitzen, übertragen werden sollen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 06. Juni 1995 in der Rechtssache C-434/93, Bozkurt, Slg. 1995, I-1475, Randnrn. 14, 19 und 20, vom 23. Janurar 1997 in der Rechtssache C-171/95, Tetik, Slg. 1997, I-329, Randnrn. 20 und 28, sowie die Urteile Günaydin, Randnr. 21, und Ertanir, Randnr. 21).

Aus der Bezugnahme auf diese Artikel ergibt sich, daß die Assoziationsfreizügigkeit aus der gleichen Quelle schöpft wie die Freizügigkeit von EG-Wanderarbeitnehmern.

Der Verfassungsdienst stellt zudem auf Art. 10 ARB 1/80 ab und trägt dazu vor, daß diese Bestimmung ein arbeitsrechtliches Gleichbehandlungsgebot und Diskriminierungsverbot enthalte. Der Wortlaut der Bestimmung sei eindeutig, nicht an Bedingungen geknüpft und werde auch nicht von der Erlassung weiterer Akte abhängen. Vor diesem Hintergrund scheine dem Verfassungsdienst Art. 10 ARB 1/80 unmittelbar anwendbar zu sein.

Dies vertreten nicht nur Feik, Betriebsrat ist keine Vereinigung iSd Art. 11 EMRK, DRdA 1996, 415 und Egger, Zur arbeits- und sozialrechtlichen Stellung türkischer Arbeitnehmer, DRdA 1997, 412, sondern ebenso auch Gutmann im Zusammenhang mit Art. 10 ARB 1/80 im großen Kommentar zum deutschen Ausländerrecht, mit vielen weiteren Hinweisen.

Tatsächlich enthält Art. 10 ARB Nr. 1/80 ein Verbot der Diskriminierung hinsichtlich des Arbeitsentgeltes und der sonstigen Arbeitsbedingungen.

Das Bundeskanzleramt verweist in seiner Stellungnahme darauf, daß der Europäische Gerichtshof in mehreren Urteilen zu den Kooperationsabkommen mit Algerien und Marokko die unmittelbare Anwendbarkeit ihrer Bestimmungen anerkannt habe, und verweist konkret auf die Urteile Krid vom 05.04.1995, Rs C-103/94, und Babahenini vom 15.01.1998, C-113/97, zu Algerien, und Kziber vom 31.01.1991, Rs C-18/90, Yousfi vom 20.04.1994, Rs C-58/93, und Hallouzi vom 03.10.1996, Rs C-126/95 zu Mraokko.

Daraus schließt der Verfassungsdienst im Größenschluß auf das Assoziationabkommen EWG-Türkei, weil Assoziierungsabkommen einen höheren Integrationsgrad als Kooperationsabkommen bezweckten (sh. dazu auch den unten besprochenen Schlußantrag von La Pergola im Verfahren Sürül).

Tatsächlich hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte niemals einen Zweifel daran gelassen, daß zahlreiche Bestimmungen des Assoziationsratsbeschlusses 1/80 unmittelbar anwendbar sind, etwa in den Urteilen Sevince, 20.9.1990, Rs. C-192/89, Slg. 1990, I-3461, Kus, 16.12.1992, Rs. C-237/91, Slg. 1992, I-6781, Eroglu, 5.10.1994, Rs. C-355/93, Slg. 1994, I-5113, Bozkurt, 6.6.1995, Rs. C-434/93, Slg. 1995, I-1475, Tetik, 23.1.1997, Rs. C-171/95, Slg. 0000, Ertanir, 30.09.1997, Rs. C 98/96, Günaydin vom 30.9.1997, Rs. C-36/96, Birden vom 26.11.1998, Rs. C-1/97, RZ 65 und Akman vom 19.11.1998, Rs. C-210/97.

In gleicher Weise ist es ständige Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, daß Grundfreiheiten und Grundrechte insbesondere das Diskriminierungsverbot unmittelbar anwendbar sind (vlg. etwa Schuster, EG-Recht und Normenlehre, RZ 100, oder Weh, Vom Stufenbau zur Relativität, Das Europarecht in der nationalen Rechtsordnung, Abschnitt 4.1)

Im Fall Sema Sürül, Rs. C-262/96, hat sich der Europäische Gerichtshof zunächst mit der Frage befaßt, ob der Art. 3 Abs. 1 des ARB Nr. 3/80 unmittelbar anwendbar sei und direkten Diskriminierungsschutz gewährleiste. Nach Schluß der mündlichen Verhandlung hat der Europäische Gerichtshof das Verfahren wieder eröffnet und eine zweite mündliche Verhandlung zur Frage abgeführt, ob nicht auch Art. 9 des am 12. September 1963 von der Republik Türkei und den Mitgliedstaaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft abgeschlossenen Abkommens zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Witschaftsgemeinschaft und der Türkei (im folgenden: "Ankara-Abkommen") ein allgemeines, unmittelbar anwendbares Diskriminierungsverbot garantiere.

In seinem insgesamt beachtenswerten und grundsätzlichen Schlußantrag vom 17.12.1998 kommt Generalanwalt La Pergola zum Ergebnis, daß Art. 9 das Ankara-Abkommens ein unmittelbar anwendbares Diskriminierungsverbot vorsehe. Art. 9 weise

alle Merkmale einer Gemeinschaftsvorschrift auf, die vor dem nationalen Gericht geltend gemacht werden kann, und unterscheidet sich insoweit nicht von den entsprechenden Verboten, die in Art. 6 des Vertrages (auf den Art. 9 ausdrücklich verweist) oder in anderen speziellen Bestimmungen zur Durchführung des allgemeinen Grundsatzes (wie den Art. 48 Abs. 2, 52, 59 und 95) verankert sind.

Zwar habe die Französische Regierung in der mündlichen Verhandlung die gegenteilige Auffassung vertreten, daß eine lockere Assoziationsregelung nicht mit Art. 6 des EG-V verglichen werden könne, La Pergola tritt diesem Argument allerdings entgegen mit dem Hinweis auf das Urteil Pabst und Richarz vom 29.04.1982 in der Rechtssache 17/91, in der der Gerichtshof die Anwendbarkeit des allgemeinen Diskrimineriungsverbotes aus Art. 53 Abs. 1 des Assoziierungsvertrages EWG-Griechenland vom 09. Juli 1961 abgeleitet habe.

Wie schon der Verfassungsdienst verweist auch der Schlußantrag von La Pergola auf den Größenschluß zwischen Assoziierungs- und Kooperationsabkommen und die ständige Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zu den Kooperationsabkommen mit Marokko und Algerien, denn:

Assoziierungsabkommen ... schaffen nämlich engere Bindungen zwischen der Gemeinschaft und dem betroffenen Drittstaat als diejenigen, die sich aus einem Kooperationsabkommen ergeben. ...

Verboten der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit in den Kooperationsabkommen EWG-Marokko (vgl. Art. 41 Absatz 1) und EWG-Algerien (Art. 39 Absatz 1) habe der Europäische Gerichtshof bereits mehrfach mittelbare Anwendbarkeit zuerkannt. Im Verhältnis zwischen dem allgemeinen Diskriminierungsverbot des Art. 9 des Ankara-Abkommens 1963 und spezielleren Diskriminierungsverboten sieht La Pergola den Vorrang der unmittelbaren Anwendbarkeit der letzteren.

Letzte Zweifel beseitigt hat die Beantwortung der parlamentarischen Anfrage durch die Frau Bundesministerin für Arbeit, Gesundheit und Soziales vom 11.03.1999, GZ 50.003/19-3/99, in der die Frau Ministerin wie folgt Stellung genommen hat:

Für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die Angehörige eines Staates, der Vertragspartei des EWR-Abkommens ist, sind, ergibt sich das passive Wahlrecht zur Vollversammlung der Arbeiterkammer aus Art. 8 der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer.

Gemäß dieser Bestimmung haben solche Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer u.a. Anspruch auf die gleiche Behandlung "hinsichtlich der Zugehörigkeit zu Gewerkschaften und der Ausübung gewerkschaftlicher Rechte, einschließlich des Wahlrechts, sowie des Zugangs zur Verwaltung oder Leitung von Gewerkschaften". Eine Ausnahmemöglichkeit besteht lediglich hinsichtlich der Teilnahme an der Verwaltung von Körperschaften des öffentlichen Rechts und der Ausübung eines öffentlich-rechtlichen Amtes.

Aus der Judikatur des Europäischen Gerichtshofes zur Luxemburgischen Angestelltenkammer (Urteil vom 4. Juli 1991, Rs C-213/90; Urteil vom 18. Mai 1994, Rs C-118/92) ergibt sich, daß das aktive und passive Wahlrecht zu den Arbeiterkammern in Österreich als "Ausübung gewerkschaftlicher Rechte" im Sinne des Art. 8 der Freizügigkeitsverordnung zu werten ist.

Die Möglichkeit des Ausschlusses ausländischer Staatsbürgerinnen und Staatsbürger von der Teilnahme an der Verwaltung von Körperschaften des öffentlichen Rechts ist eng auszulegen; gemeint sind damit Kernbereiche der staatlichen Tätigkeit. Auch aus der oben zitierten Judikatur des Europäischen Gerichtshofes ergibt sich in diesem Zusammenhang, daß die Ausübung einiger hoheitlicher Befugnisse, die den Kammern übertragen sind, den Ausschluß vom Wahlrecht nicht zu rechtfertigen vermag.

Im Ergebnis ist also festzuhalten, daß Art. 8 der Freizügigkeitsverordnung kammerzugehörigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern aus Staaten, die Vertragsparteien des EWR-Abkommens sind, das passive Wahlrecht bei den Arbeiterkammerwahlen eröffnet. § 21 Z 8 Arbeiterkammergesetz 1992 ist mit dieser Ergänzung anzuwenden.

Gemäß Art. 10 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates EWG-Türkei räumen die Mitgliedstaaten der Gemeinschaft den türkischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die ihren regulären Arbeitsmarkt angehörigen, eine Regelung ein, die gegenüber den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern aus der Gemeinschaft hinsichtlich des Arbeitsentgelts und der sonstigen Arbeitsbedingungen jede Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit ausschließt.

Diese Bestimmung ist eine unmittelbar anwendbare Vorschrift des Gemeinschaftsrechts.

Das darin normierte Gleichbehandlungsgebot ist dahingehend auslegungsbedürftig, ob unter "Arbeitsbedingungen" auch das passive Wahlrecht zur Vollversammlung der Arbeiterkammer miterfaßt ist oder nicht.

Für eine Auslegung, die das passive Wahlrecht bejaht, sprechen folgende Erwägungen: der Inhalt des Gleichbehandlungsgebotes ergibt sich aus Art. 48 Abs. 2 EG-Vertrag, wonach die Freizügigkeit der Arbeitnehmer die Abschaffung jeder auf der Staatsangehörigkeit beruhenden unterschiedlichen Behandlung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten in bezug auf Beschäftigung, Entlohnung und sonstige Arbeitsbedingungen umfaßt. Dieses Gleichbehandlungsgebot wird durch die Art. 7 bis 8 der Freizügigkeitsverordnung nach herrschender Lehre näher konkretisiert; zu den sonstigen Arbeitsbedingungen im Sinne des Art. 48 Abs. 2 EG-Vertrag zählen daher auch die in Art. 8 der Freizügigkeitsverordnung normieren betrieblichen und überbetrieblichen Mitwirkungsrechte, damit auch das passive Wahlrecht zur Arbeiterkammer.

Dem ist eigentlich gar nichts mehr hinzuzufügen. Das Gleichbehandlungsgebot wurzelt schlußendlich tatsächlich im Art. 48 EG selbst.

Zwar heißt es dann noch im Schlußteil der Anfragebeantwortung, daß man zu einem anderen Ergebnis kommen könnte, wenn man

ein anderes Verständnis des Begriffes "sonstige Arbeitsbedingungen"

anlegen würde, doch aus welcher anderen Quelle als jener des Rechts der Europäischen Gemeinschaft ein solches anderes Verständnis schöpfen könnte, bleibt (zurecht) unerwähnt, weil zur Lösung einer Frage des Gemeinschaftsrechts stets nur deren autonome Begrifflichkeit herangezogen werden kann. Mit anderen Worten, im Hinblick auf das Fehlen einer "allen-falls" in Betracht kommenden anderen Quelle der maßgeblichen Begrifflichkeiten steht fest, daß das passive Arbeiterkammerwahlrecht zu den "sonstigen Arbeitsbedingungen" gehört, worunter es ja im Art. 8 der Verordnung 1612/68/EWG explizit gewährleistet ist.

Das unbedingte Erfordernis der Auslegung des Begriffs der "sonstigen Arbeitsbedingungen" ist allerdings inzwischen auch durch das Urteil Sema Sürül des Europäischen Gerichtshofs vom 04.05.1999, Rs. C-262/96, gemildert, denn in diesem Urteil bestätigt der Europäische Gerichtshof ausdrücklich, daß für assoziationsbegünstigte türkische Arbeitnehmer das allgemeine Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit gewährleistet sei. Dies ergebe sich aus Art. 9 des Assoziationsabkommens EWG/Türkei, der auf Art. 7 EWG-Vertrag (später Art. 6 EG-Vertrag und nach Änderung jetzt Art. 12 EG) verweise, wogegen (Hervorhebung nicht i.O.)

Art. 3 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 3/80 lediglich für den besonderen Bereich der sozialen Sicherheit die Durchführung und Konkretisierung des allgemeinen Verbotes der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit darstellt, das in Art. 9 des Abkommens verankert ist ...

Auch Art. 10 des ARB Nr. 1/80 beinhaltet ein Art. 3 Abs. 1 ARB Nr. 3/80 gleichzuhaltendes spezielles Diskriminierungsverbot. Spezielle Diskriminierungsverbote, die nur Teilaspekte allgemeinerer Diskriminierungsverbote darstellen, dürfen jedenfalls niemals einschränkend ausgelegt werden. Mit anderen Worten, Art. 10 ARB Nr. 1/80 ist nicht einschränkend auszulegen, und selbst wenn Art. 10 ARB 1/80 unanwendbar sein sollte, käme Art. 9 des Ankaraabkommens selbst zum Tragen und wäre aus der Sicht des allgemeineren Diskriminierungsverbots des Art. 9 des Ankara-Abkommens noch offensichtlicher, daß die Anfechtungswerber durch die Entscheidung der Hauptwahlkommission in ihren geschützten Rechten verletzt wurden.

Mit anderen Worten, es besteht jedenfalls ein unmittelbar anwendbares konkretes Diskriminierungsverbot türkischer Arbeitnehmer gegenüber EG-Wanderarbeitnehmern und österreichsichen Staatsbürgern hinsichtlich des passiven Wahlrechts zur Arbeiterkammer.

Damit steht aber fest, daß die Streichung der Zweit- bis Sechstanfechtungswerber aus dem Wahlvorschlag der Erstanfechtungswerberin unmittelbar anwendbares konkretes Recht der Europäischen Gemeinschaft verletzt, nämlich das Diskriminierungsverbot des Art. 10 ARB Nr. 1/80 und des Art. 9 des Ankara-Abkommens iVm Art. 48 - 50 EG-V, Art. 8 der Verordnung 1612/68 (EWG) des Rates, Art. 11 EMRK und Art. 28 der European Convention on the legal status of migrant workers.

Es steht ohne Zeifel fest, daß mit der Streichung der Zweit- bis Sechstanfechtungswerber aus dem Wahlvorschlag der Erstanfechtungswerberin wesentliche Bestimmungen des Wahlverfahrens verletzt wurden und diedurch das Wahlergebnis maßgeblich beeinflußt wurde.

Die gestrichenen Kandidaten hätte eine Wählergruppe repräsentiert, die sich von den anderen Wählergruppen in ihrer Interessenlage - zB im Hinblick auf die Ausgestaltung des Fremdenrechts und des AuslBG - abgrenzbar unterscheidet, nämlich die Gruppe der vom Assoziationsrecht begünstigten oder die in die Integration hineinwachsenden türkischen Arbeitnehmer, die etwa 10 % der aktiv Wahlberechtigten (konkrete Zahlen hat die Arbeitsmarktverwaltung bisher nie publiziert) zur Arbeiterkammer ausmacht.

Es ist offenkundig, daß eine wahlwerbende Liste daran interessiert sein muß, möglichst viele unterschiedlich interessierte Personengruppen anzusprechen, um ein möglichst großes Wählerpotential ansprechen zu können. Der Einfluß auf das Wahlergebnis ist sohin offenkundig.

5. Anträge

Die Anfechtungswerber stellen sohin den

A N T R A G,

das Bundesministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales möge in Stattgebung dieser Anfechtung aussprechen, daß die Wahl zur Arbeiterkammer Vorarlberg 1999 wegen Rechtswidrigkeit des Wahlverfahrens ungültig und daher zu wiederholen ist.

Bregenz, am 5.5.1999 Die Anfechtungswerber