Filmhaus Hasnerstraße - Filmkultur in Ottakring



In Österreich am 25. September 1998 neu angelaufene Kinofilme


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HERBSTGESCHICHTE (CONTE D’AUTOMNE)

F 1998. 110 Min
Regie: Eric Rohmer, Buch: Eric Rohmer, Musik: Claude Marti, Gérard Pansanel, Pierre Peyras, Antonello Salis, Kamera: Diane Baratier, Schnitt: Mary Stephen, Darsteller: Marie Rivière (Isabelle), Béatrice Romand (Magali), Alain Libol (Gérald), Didier Sandre (Etienne), Alexia Portal (Rosine), Stéphane Darmon (Léo), Aurelia Alcaïs (Emilia), Matthieu Davette (Grégoire), Yves Alcaïs (Jean-Jacques)
Kinostart: 25/9/1998

Herbst, das ist – nicht nur für Rohmer – vor allem der Midi: der französische Süden. Das Tal der Rhône und der Ardèche, die Gegend zwischen Lyon und Marseille, um Nîmes und Orange und Montpellier. Eine Sonne, die das Land in warme Farben taucht, ein Gefühl von Wärme und Reife, von alles erfassender wohliger Sinnlichkeit. Die Früchte werden reif, die Ernte steht bevor. Die Städtchen halten Siesta, die Menschen verlieren sich in ihren Träumen. So ist der Herbst die Zeit der Melancholie und der Selbstzweifel – nicht unbedingt im tragischen Sinn, aber doch der Moment der Einsicht: So schnell vergeht ein Jahr, ein Leben.
Schluß mit dem Gejammer, konstatiert Isabelle, nun muß ein Mann her für Magali. "In meinem Alter", klagt die Freundin, "ist das viel schwieriger als einen Schatz unter den Weinreben zu finden."
Magali ist Mittvierzigerin. Ihr Mann ist gestorben, die Tochter nach Orange gezogen, und nun fängt auch der Sohn an, eigene Wege zu gehen. Seither hat sie sich auf ihren Weinfeldern in Bourg-Saint-Andéol zurückgezogen. Doch Magali fühlt sich allein, sie hat mehr Zeit als ihr lieb ist, sodaß sie ins Nachdenken kommt und sich zu fragen beginnt, ob vielleicht nicht doch noch ein Mann kommen könnte, der ihrem Single-Dasein ein Ende setzt. Wie im Märchen müßte es sein, und ohne daß man etwas dazutäte.
"Aber du bist schön, und nicht alle Männer wollen junge Frauen", versucht Isabelle sie zu motivieren. Mit einer Kontaktanzeige könnte man ... Magali reagiert allergisch: "Ich hätte das Gefühl, mich zu verkaufen... Ich könnte nie jemanden lieben, den ich so kennengelernt habe."
Isabelle wird aktiv. Für die Freundin setzt sie eine Anzeige in die Zeitung: "45 Jahre, Witwe. Ein Kästchen freilassen. Zwei erwachsene Kinder. Komma und Kästchen freilassen. Fröhlich. Lebhaft. Gern in Gesellschaft. Komma, aber isoliert auf dem Land. Sucht einen Mann, liebevoll. Liebevoll ist nicht gut. Sucht Mann, der körperliche und moralische Schönheit liebt. Ja."
Noch ein Problemfall: Magalis Sohn Léo und die junge Rosine. Rosine ist launisch, altklug, unberechenbar. Sie nimmt Léo nicht sonderlich ernst, sieht ihn als Übergangslösung, findet die Mutter, Magali, viel faszinierender. Und hat sich, allen Bekundungen zum Trotz, noch nicht von ihrem vorigen Geliebten gelöst, ihrem um einiges älteren Philosophielehrer Etienne. Auch Etienne ist noch nicht losgekommen von Rosine.
Rosine verehrt Magali, will ihr eine Art Tochterersatz sein. Sie liest viel, bewundert sie als Frau, man kann sich mit ihr über Philosophie unterhalten. Nun fängt auch Rosine an, für Magali einen Mann zu suchen – sie denkt, natürlich, an Etienne ... Wenn er erst die Frau fürs Leben, eine reife, kluge Frau wie Magali gefunden hat, wird er von ihr - Rosine - loskommen. Dann erst wird zwischen ihnen eine Freundschaft ohne Liebe möglich werden. Auf der Hochzeit von Isabelles Tochter sollen die beiden sich kennenlernen.
Isabelle sortiert inzwischen die Antworten auf die Kontaktanzeige, die meisten sind uninteressant, nur die von Gérald zeugt von angenehmer Selbstsicherheit. Isabelle nimmt mit Gérald Kontakt auf. Zunächst gibt sie sich als Magali aus, um ihn für sie auszutesten. Auf der Hochzeit ihrer Tochter will sie die beiden "zufällig" zusammenbringen.
Magali selbst ziert sich, überhaupt zur Hochzeit zu kommen. Die Weinernte fordert sie voll und ganz, und dann die Vorstellung, ihre Felder zu verlassen, sich auf fremdes Terrain zu begeben...

Eric Rohmer über...
...Natur
"In meinen Filmen spürt man sicher eine gewisse Zärtlichkeit für die Natur, wenn ich sie auch oft als Naturerscheinung auftreten lasse. Das geht sicher auf einen romantischen Ursprung zurück, das gab es schon in der romantischen Literatur.
Für mich ist das französische Kino heute insgesamt ein städtisches Kino. Es ist schwierig, das Land zu zeigen, auch deshalb, weil man bei uns auf dem Land mit einem sehr ausgeprägten Akzent spricht und weil man diesen Akzent auf jeden Fall erhalten muß.
Andererseits will ich das französische Kino nicht unbedingt verändern, und es ist zweifellos ein zentralisiertes Kino, ein Kino, das in Paris zu Hause ist und das seine Schauspieler in Paris findet. Früher, zu Zeiten von Renoir, gab es noch ein südfranzösisches Kino mit südfranzösischen Schauspielern, die mit ihren verschiedenen Akzenten in das Kreuzfeuer der Kritik gerieten."

...Sprache
"Ich habe in meinen Anfängen einen Artikel geschrieben "Pour un cinéma parlant" (Für ein Kino der Sprache, des Sprechens)", der besagt, daß ein guter Dialog im Kino ein Dialog ist, in dem man lügt. Wenn die Leute die Wahrheit sagen, sind wir im Theater, wenn sie lügen, sind wir im Kino. Das ist vielleicht etwas scharf formuliert, aber es ist sicher, daß es im Kino eine gewisse Ambiguität geben muß. Im Kino muß man das, was die Leute sagen, auch wenn sie nicht lügen, immer etwas in Zweifel ziehen."
"Wenn man mich mit Marivaux vergleicht, fühle ich mich geschmeichelt, aber ich glaube nicht, daß er mich besonders beeinflußt hat... Und Marivaudage, das benutzt man gern in einem negativen Sinn, als bavardage, als Geschwätz. Ich denke aber, daß die Sprache im Leben des Menschen eine sehr wichtige Sache ist, und ich glaube, daß viele Cineasten das Wort als ein unreines Element ansehen, das man am besten meiden sollte. Ich bin nicht dieser Meinung, denn das Kino soll das Leben zeigen, und ohne das Wort gibt es kein Leben oder nur sehr wenig. Ich bin für ein Kino der Worte." (alle Texte: Filmcasino/polycollege)


Zwei Frauen aus unterschiedlichen Generationen wollen für eine verwitwete Winzerin einen Mann finden und bedienen sich dabei unterschiedlicher Tricks, Lügen und Halbwahrheiten. Erst als sich alle Beteiligten zur Wahrheit bekennen, ist für die Mittvierzigerin eine glückliche Zukunft möglich. Ein beschwingt erzählter Film, der bei aller Gelöstheit das existentielle Thema der Glückssuche nie auf die leichte Schulter nimmt. Sorgfältig inszeniert, mit einer dezenten Kamera und dem Schwerpunkt auf den pointierten Dialogen, bietet er subtile Unterhaltung, die zum Nach- und Überdenken einlädt. (Kinotip der katholischen Filmkritik)

Spätsommer über der herrlichen Landschaft des Midi. Das Rhonetal bietet einen der Welt ein wenig entrückten Reiz, der beständige Werte in Erinnerung ruft, auch wenn in der Ferne ein Atomkraftwerk lauert, das nicht wegzudenken und wegzudiskutieren ist. Hier baut die Mittvierzigerin Magali, eine scheinbar zufriedene Witwe, ihren biologischen Wein an, versucht das Ungewohnte: den "vin de table" durch Lagerung zu adeln, zum Spitzengewächs reifen zu lassen. Eine Aufgabe, die viel Liebe verlangt. Und genau die Liebe ist es, an der es Magali mangelt; gewiß nicht an der Liebe zum Wein, sondern an dem wunderbar passiven Gefühl, geliebt zu werden. Sie sehnt sich nach einem Mann, doch sie würde sich diese Sehnsucht nie eingestehen, geschweige denn, ihr aktiv entgegenwirken. Doch zum Glück gibt es Freundinnen: die Buchhändlerin Isabelle etwa, seit 25 Jahren glücklich verheiratet, die Magalis Unglück ebenso kennt wie Rosine, die Freundin ihres Sohnes. Beide kümmern sich in der Folgezeit um das Schicksal der Winzerin, wobei Rosine das Geschäft nicht ganz uneigennüzig betreibt: Sie will sich erst dann von Magalis Sohn trennen, wenn sie sich von ihrem Ex-Geliebten Etienne, dem Philosophie-Professor mit latenter Neigung zu jüngeren Frauen, abgenabelt hat. Rosine nistet sich bei der seelenverwandten Magalie ein, das Gastgeschenk soll Etienne sein - zwei oder drei Fliegen mit einer Klappe. Zur gleichen Zeit und ohne Wissen um die Ränke Rosines plant Isabelle einen Kontaktanzeigen-Coup, etwas, was Magali kategorisch ablehnt. Isabelle stößt auf Gérald, den sie an Stelle der Freundin trifft, und dem sie, nachdem beim ersten Rendezvous, das sie in Vertretung Magalis wahrnimmt, die Funken zu fliegen beginnen, ihre Stellvertreter-Funktion offenbaren muß. Das ist peinlich, aber nicht unbedingt beziehungshemmend. Gérald willigt ein, zur Hochzeitsfeier von Isabelles Tochter zu kommen, ein erster Kontakttermin, den sich auch Rosine auserkoren hat. Ein Abend, an dem alle (freundschaftlich) intriganten Pläne zusammenlaufen, der Sympathien und Antipathien offenbart und der in einem Fiasko enden würde, wenn zum Ende nicht alle Geheimnistuereien geklärt und alle Beteiligten über ihren Schatten springen würden. Die Zukunft ist also möglich, und die Zukunft wird es zeigen.
Mit "Herbstgeschichte" beschließt Eric Rohmer seinen Zyklus der "Vier Jahreszeiten" (vgl. auch fd 18/1998, S. 4). Wie immer bestimmt das Wort die Inszenierung, belauscht die Kamera geschliffene Dialoge, macht den Zuschauer zum Beobachter der kleinen Lügen, Halb- und Unwahrheiten, aus deren Summe sich die Defizite der Personen erschließen lassen, die ihren Charakter und damit ihr Leben ausmachen. Mit der ihm eigenen Feinfühligkeit zeigt Rohmer aber auch, daß dieses zeitlebens eingeübte Versteckspiel immer wieder zu Irrungen und Wirrungen führt, und daß nur Offenheit, gepaart mit aufrichtiger Zuneigung und einer "Weisheit des Herzens", zum eigentlichen Ziel führen kann - zum Glück. Wer dies beherzigt, lernt, daß er weder Augen noch Ohren trauen kann, sondern seinem Gefühl folgen muß, auch wenn dadurch die Gefahr gegeben ist, sich anderen auszuliefern, enttäuscht und mißbraucht zu werden. Erst ganz am Ende, wenn Magali und Gérald jenseits aller Tricks und Finten angekommen sind, wenn alle möglichen Mißverständnisse ausgeräumt sind, ist Hoffnung möglich: kein Glücksversprechen, aber eine Verheißung. Genauso beiläufig, wie die pointierten Dialoge die Handlung vorantreiben, beobachtet die sehr dezente Kamera das in pastellene Farben eingebettete Geschehen. Zurückhaltend, fast scheu nähert sie sich den Charakteren, wohl wissend, daß in die Intimität der Menschen einzudringen, bedeutet, sie preisgeben zu müssen, während sie zugleich ihr Geheimnis wahren will. Auch in dieser Achtung vor der Würde seiner Charaktere drückt sich die Regiekunst Rohmers aus, der mit einfachen kameratechnischen Mitteln größtmögliche Wahrhaftigkeit schafft. Mit seinen Hauptfiguren zeigt er weitgehend gelöste Menschen, die in ihrem Leben genauso ruhen wie in der Landschaft, die sie umgibt, und die ebenso zärtlich wie sie abgebildet wird. Hier zeigt sich ein "romantischer Konservatismus", der an das Gute und das Wahre glaubt, auch wenn in der Ferne eine Kernkraftwerk steht, auch wenn viel Arbeit vonnöten ist, um Wahrhaftigkeit zu erlangen.
Bestimmten in der Vergangenheit zumeist Mittzwanziger das Geschehen in Rohmers Filmen, so hat er nun einen Zeitsprung um 20 Jahre gemacht, zeigt Mittvierziger, die nicht unbedingt weiser sind, aber ihre Ziele mit einer weitgehend in sich ruhenden Abgeklärtheit verfolgen. Da ist kein jugendliches Ungestüm mehr, sondern Erwartung, da gibt es keine planvollen Arrangements und Ränke, sondern eine Reife, die sich auch in den ausdrucksstarken Gesichtern der Darsteller spiegelt. Insofern wagt der Regisseur, der seinem Thema, der Glücksuche, erneut treu bleibt, zugleich etwas für ihn völlig Neues. In diesem Zusammenhang ist auch die zentrale Metapher des Films zu sehen: Ein guter Wein verlangt Reife, Ruhe und Lagerung, um seine ganze Qualität entfalten zu können; mit den Menschen scheint es sich ganz ähnlich zu verhalten. Für beide trifft jedenfalls der Refrain des Schlußliedes zu: "Wenn das Leben eine Reise ist, dann wünsch' ich schönes Wetter, gute Zeit." Schon das sagt alles über den Menschenfreund Rohmer. (Hans Messias, film-dienst)

Die Buchhändlerin Isabelle will ihre allein stehende Freundin Magali verkuppeln und prüft gleich selbst den ahnungslosen Vertreter Gérald, der sich auf ein Inserat gemeldet hat. Doch Rosine, die Freundin von Magalis Sohn Léo, kommt auf dieselbe Idee und will Magali mit ihrem Ex-Geliebten, dem Philosophie-Lehrer Etienne verbandeln. Die burschikose, aber schüchterne Winzerin Magali fällt aus allen Wolken, als sie den beiden auf Isabelles Party "zufällig" begegnet. Eric Rohmer gelang eine faszinierende Beziehungskomödie über den hinterlistigen Charme der Freundschaft und den Zufall der Liebe.
Die glücklich verheiratete Buchhändlerin Isabelle (Marie Rivière) sorgt sich um ihre beste Freundin Magali (Béatrice Romand), die zurückgezogen auf ihrem Weingut im Rhônetal lebt. Kurz entschlossen macht Isabelle sich daran, sie heimlich zu verkuppeln. Sie gibt eine Kontaktanzeige auf und trifft sich gleich selbst mit dem ersten Interessenten, dem charmanten Handelsvertreter Gérald (Alain Libolt). Ahnungslos beginnt er, sich allmählich in sie zu verlieben, auch wenn er sich über ihre Nervosität und Geheimniskrämerei ziemlich wundert. Doch auch Isabelle bleibt etwas verborgen. Sie ahnt nicht, dass Rosine (Alexia Portal), die kecke Freundin von Magalis Sohn Léo (Stéphane Darmon), auf dieselbe Idee gekommen ist. Sie fühlt eine starke Seelenverwandtschaft mit Magali und möchte, dass sie endlich einen Mann findet. Nicht ganz uneigennützig will Rosine Magali mit ihrem Ex-Liebhaber, dem Philosophie-Lehrer Etienne (Didier Sandre), zusammenbringen, damit er sie mit seinen unermüdlichen Liebesschwüren endlich in Ruhe lässt. Auf der Hochzeitsfeier von Isabelles Tochter Emilia (Aurélia Alcais) ist die schüchterne Magali überrascht, als ihr ganz "zufällig" nicht nur Etienne, sondern auch Gérald Komplimente machen. Sie beginnt sogar, sich in den charmanten Weinkenner Gérald zu verlieben. Auch Gérald ist von ihrer Natürlichkeit fasziniert, doch als er sich für das erfolgreiche Rendezvous bei Isabelle mit einem Freundschaftskuss bedanken will, späht plötzlich Magali durch die Küchentür. Sie hält Gérald für den heimlichen Geliebten ihrer Freundin. Enttäuscht und entnervt verlässt sie die Party, aber dann kommt alles doch ganz anders.
Mit einer Geschichte aus dem so genannten "Herbst des Lebens" vollendete Eric Rohmer 1998 seinen filmischen Zyklus über die "vier Jahreszeiten", der 1989 mit der "Frühlingserzählung" begann; gefolgt vom "Wintermärchen" (1991) und dem "Sommer" (1996). Mit abgeklärter Gelassenheit, feiner Ironie, Präzision und Eleganz beobachtet der Regisseur erneut die ironischen Launen der Liebe und hört augenzwinkernd den scheinbar so wissenden Reden seiner Charaktere zu, die aber noch nicht einmal ihre eigenen Gefühle ganz verstehen. (ARD)

(...) Und wenn hier schon ein Favorit für einen Goldenen Löwen genannt werden muß, so ist es, nach heftigem Publikums-Jubel, Eric Rohmers Abschluß seiner Jahreszeiten-Tetralogie - die Herbsterzählung: Einer etwas vereinsamten Mutter und Weinbauerin im Rhônetal (Beatrice Romand) wollen zwei Freundinnen einen Lebensgefährten zuführen: Dies zeitigt, wie bei Rohmer gewohnt, ein leichtfüßiges Spiel kleiner Eitelkeiten, dem der mittlerweile 78jährige Altmeister am Ende fast einen Abschied beifügt: Das Leben sei eine Reise, singt da ein Dorfmusikant, das ist alles, macht's gut.
Mit Naivität hat dies allerdings nichts zu tun: Wie bei Festivals allgemein, muß man bei Rohmers Filmen eben besonders genau hinsehen. Der herbstliche Reigen, er findet im Schatten eines Kernkraftwerks statt, das nur manchmal beiläufig am Horizont zu sehen ist. Da verspürt man ihn wieder, den Taumel. Und die Angst, daß Bilder wie diese inzwischen immer seltener gezeigt werden. (Claus Philipp, DER STANDARD, 8/9/1998)

"Ich weiß schon - aber trotzdem". Eric Rohmers letzter "Jahreszeiten"-Film "Herbsterzählung"
Von einer echten Notwehr-Reaktion muß man sprechen, wenn erst kürzlich ein Rezensent im profil Eric Rohmers jüngsten Film mit einer "fetten Ballett-Tänzerin" verglich. Er wollte sich wohl nicht damit abfinden, daß das Alterswerk des 78jährigen französischen Regisseurs weitgehend auf geradezu vorauseilende Begeisterung stößt.
Tatsächlich geraten die Jubelhymnen dann oft ein wenig erschöpft vor lauter Beglücktheit, aber mit dem polemischen Verweis, Rohmer beschränke sich in seiner Montage auf ein bebildertes Hörspiel, verschließt der feuchtforsche Kritiker in vielerlei Hinsicht die Augen. Der Aufbau von Rohmers Erzählungen wird immer schlichter, keine Frage. Im aktuellen Fall scheint Rohmer an der Partnersuche, die zwei Freundinnen für eine vereinsamte Weinbäuerin in mittleren Jahren starten, nur im Zusammenhang zwischen Jahreszeit und zunehmender Lebensreife interessiert.
Gleichzeitig eignet vielen seiner Figuren zunehmend etwas Gekünstleltes, das sich in einem Übermaß an Verbalisierungsfähigkeit und - vorallem bei jugendlichen Charakteren - Reinheit äußert. Diese Künstlichkeit grenze "an Befremdlichkeit, ja an Obszönität", schrieb der Autor Pascal Bonitzer einmal über Pauline à la plage (1983). "Man kann die Filme Rohmers letztlich vielleicht nur in der Form lieben, wie seine Protagonisten denken: ,Ich weiß schon - aber trotzdem.'"
In diesem "Trotzdem" tun sich Welten auf: Es erzählt letztlich vom Glauben an einen sicheren Blick auf Umwelt - im Fall der Herbsterzählung das Rhonetal -, der sich nicht hinter schaler Kunstfertigkeit verstecken muß. Es erzählt vom Wissen um das Unwohlsein, das diese mitunter wie hingemalt undurchdringlichen Gesichter hervorrufen. Und es erzählt davon, daß dieses Unwohlsein vom Betrachter produktiv gemacht werden muß, daß dieser Position beziehen muß, dem Erzähler, dem Erzählten und vor allem deren Umfeld gegenüber: "Wer zuviel redet, setzt sich selbst ins Unrecht."
Aus diesem Unrecht heraus, das alles an Rohmers Filmen so wunderbar angreifbar macht (auch in einem durchaus taktilen Sinn), obwohl es nie in "souveräne" Arroganz mündet, entsteht dann das, was der Filmemacher immer angestrebt hat. "Schönheit, die nicht einer Laune des Schreibens entspringt, sondern einer Sichtweise, die das Begreifen (!) der Dinge bedeutet", beschwor Rohmer bereits 1961. Ein Kino, das den Dialog und Vergleich mit anderen Kunstformen zwar provoziert, indem es "theatralische" und "literarische" Stilmittel aufgreift, aber nicht als akademische Werte, sondern als Lebenserfahrungen. Wie einen Sonnenuntergang, den man auf einer Veranda erlebt, während man auf eine Frau wartet, in die man sich soeben verliebt hat. Trotzdem. (Claus Philipp, DER STANDARD, 29/9/1998)

Strategien der Überredung, Methoden der Verkuppelung. "Herbstgeschichte", der Abschluß des "Jahreszeiten"-Zyklus Eric Rohmers, bespricht die kompliziertesten Dinge (die Liebe, das Kino) - und tut dabei ganz selbstverständlich. Kleines Plädoyer für einen großen Liebesfilm.
Eine Frau arbeitet. Magali (Béatrice Romand), die Heldin dieses Films, ist Winzerin. In den Weinhügeln geht der Wind, der in ihren Haaren spielt und im Mikrophon des Filmemachers leise Störgeräusche verursacht. Wieviel action, wieviel natürliche Dramatik allein im Übergang vom Spätsommer zum Frühherbst liegt, darauf weist Eric Rohmers neuer Film, seine Herbstgeschichte, auch hin. Aber mehr noch als um die Landschaften Südfrankreichs geht es ihm um die menschliche Natur: Zwei Intrigantinnen - eine junge (Alexia Portal) und eine etwas ältere (Marie Rivière) - gruppiert Rohmer um seine Heldin, die nicht zufrieden ist mit ihrem Leben allein, ohne Partner. Herbstgeschichte dreht sich, dementsprechend, um Verkuppelungsarbeit: Jede der beiden Intrigantinnen findet, ohne von der anderen zu wissen, einen Mann, den man zu Magali einladen, den man ihr zumuten könnte. Am Ende werden es zwei Herren zugleich sein, die auf Magali treffen und die Dinge unnötig kompliziert machen: Solche Geschichten kennt man, wenn auch gewöhnlich nicht aus dem Kino. Isabelle (Rivière), die eine Intrigantin, kontaktiert einen seltsamen Fremden (Alain Libolt), den ihr eine Kontaktanzeige verschafft hat. Sie testet den Mann für ihre Freundin und gibt sich als diese aus: Auch daran kann man Rohmers Interesse am Schau-Spiel erkennen, das immer Lüge, Stilisierung ist. Rosine, die andere Intrigantin, geht einen direkteren Weg: Sie versucht, mit Magalis Sohn liiert, ihren Ex-Freund zum eigenen Schwiegervater machen. Rohmers Herbstgeschichte konzentriert sich auf Strategien der Überredung, auf das Manövrieren, das Spielen und Schwindeln für einen guten Zweck.
Daneben ist der Film aber auch Kino über die Natur, über das Außen, das im Drehbuch steht: darüber, was die Sonne im Kino anrichtet und wie etwa ein bedeckter Himmel bestimmte Geschichten prägt. In Rohmers Filmen wird viel geredet, immer noch. Aber in den Debatten, die er veranstaltet, ändert sich die Richtung ständig, da gibt es alle Augenblicke eine neue Finte, auf die man sich erst einstellen muß: Die radikale Ökonomie in den scheinbar so einfachen und so verbalen Erzählungen Eric Rohmers sucht immer noch, selbst im französischen Kino, ihresgleichen. Sprache ist ihm wichtig, vor allem auch die, die man sehen kann: Was die Körper sagen und was das Kino spricht, wie anstrengungslos es existentielle Dinge vermitteln kann, darum geht es bei Rohmer.
Mit Fortdauer der Erzählung, die - wie immer bei Rohmer - ganz sachlich startet, beginnen sich die Unsicherheiten und die Mißverständnisse, die Verstellungen und Intrigen zu verdichten: bis man auf einmal selbst nicht mehr sicher ist, wer hier nun mit wem spielt. Machtverhältnisse, heißt das, sind auch unter denen, die sich lieben, unvermeidbar. In einem wunderbaren Lied geht Rohmers Herbstgeschichte auf, im Hereinbrechen der Nacht und in einem Fest, natürlich draußen, im Grünen, im Herbst: Und Rohmer legt sich nicht fest, bringt nichts zu Ende, auch hier nicht, weil er weiß, daß ein Liebesfilm einen schöneren Schluß als das Vielleicht nicht kennen kann. (Stefan Grissemann, DIE PRESSE, 26/9/1998)

Eric Rohmers Jahreszeiten-Zyklus endet mit einem überraschend jungen Film ohne die charakteristischen Dialogtiraden.
Vor zwanzig Jahren war es mit ein wenig Glück noch der Beginn einer wunderbaren Freundschaft, wenn man dem Mädchen oder dem Jungen seiner Träume erklärte: Komm, heute abend gehen wir ins Kino zu Rohmer! Inzwischen kann so eine Einladung der beste Weg sein, jemanden gleich wieder loszuwerden - so abschreckend wirken die Dialogtiraden des französischen Filmemachers. Die Neurosen und Komplexe, von denen er in "Die Frau des Fliegers", "Das grüne Leuchten" oder "Vollmondnächte" erzählte, sind nicht mehr die ihren, und in seinen jüngeren Filmen scheint ihm überhaupt die Luft ausgegangen zu sein. Im Alter von 78 Jahren ist das eigentlich auch kein Wunder - wenn sich der große alte Mann nicht doch noch einmal zu einer charmanten Komödie aus dem Midi aufgerappelt hätte, die jedes böse Wort über seine Filme Lügen straft.
"Herbstgeschichte" ist der Abschluß seines Jahreszeiten-Zyklus und erzählt, wie Isabelle (Marie Riviere), eine verheiratete Buchhändlerin, ihrer besten Freundin Magali (Béatrice Romand), einer verwitweten Weinbäuerin, einen Mann besorgt. Zu diesem Zweck gibt sie eine Kontaktanzeige auf, trifft einen Kandidaten (Alain Libolt), macht ihn in sich selbst verliebt und versucht, ihn dann an ihre Freundin abzustoßen. Das ist der Rahmen einer komplexen Intrige, die zunächst ziemlich schiefgeht.
Rohmers Heldinnen und Helden sind - mit Anfang bis Mitte 40 - deutlich älter geworden, als sie es noch vor ein paar Jahren waren. Aber sein Kino, das immer noch mit spartanischen (Kamera-) Mitteln arbeitet, ist so jung wie zu seinen besten Zeiten. Bei den Filmfestspielen in Venedig, wo die "Herbstgeschichte" im Wettbewerb lief, bezauberte er auch den hartnäckigsten Skeptiker und ergatterte immerhin einen Preis für das beste Drehbuch - auch wenn man das quicklebendige Auftreten seiner drei Hauptdarsteller mindestens so sehr hätte würdigen müssen. (Gregor Dotzauer, SPIEGEL ONLINE 40/1998)

Altweibersommer mit Schubumkehr ins Glück
Derart belustigend wie hier, für seine Begriffe geradezu spritzig, war Eric Rohmer bisher noch nie. Aber in seinem Erzählatem weht immer noch reichlich fade heiße Luft über weites Land.
Der französische Frauenbeglückungsfilmer mit Vorliebe für bewegte Stilleben und Endlosdialoge finalisiert seinen Jahreszeiten-Zyklus mehr mit einem Altweibersommer als einem echten Herbst. Thema: Die Sehnsucht hier eher psychisch welker Frauen, auch für den Winter etwas Männliches zum Kuscheln zu finden. Wieder verläßt sich Rohmer auf sein bevorzugtes Schema verfilmter Silviaromane fürs Maturaniveau. Meist kleinbürgerliche, kleinmädchenhafte Kleinbürgerinnen mit kleinen Oberweiten, die in ihren Lebensfibeln stets das Kleingedruckte übersehen und dann wie durch ein Wunder happyendlich doch noch die große Liebe finden.
Die traurige Situation einer singulären Weinbäuerin im fortgeschrittenen Alter, die sich männermäßig zu Recht schwer vermittelbar wähnt, wird bei Rohmer verspielt schubumgekehrt: zur abkürzungslosen Gratwanderung in spätes Glück.
Am Pfad der Liebe - immer der Markierung nach: die Begegnungen mit den passenden Herren werden auf Kupplerfäden herbeigezogen. Denn Magali, eher Märchen- als Bilderbuchwinzerin, hat eine beste Freundin: die gibt für sie eine Kontaktannonce auf und selektiert auch gleich. Das Ergebnis ist so vorzeigbar, daß die verheiratete Freundin selbst ein bißchen in Versuchung gerät. Da ist auch noch der Philosophieprofessor (!), welchen die Freundin von Magalis Sohn dem einsamem Mütterchen auflegen will... Idylle, in der am meisten wieder der Schafsblick des Filmemachers auf seine Heldinnen stört, indem er Frauen offensichtlich als eine Art von Behinderten sieht, die besonderer Wunder bedürfen in unserer feindseligen Welt. Rohmer bleibt der spitzwegerische Waldmüller des Frauenfilms, auch wenn ihn hier manchmal der ironische Hafer gestochen hat. (Rudi "Um Gotteswillen" John)

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LOLA RENNT

D 1997. 79 Min
Regie: Tom Tykwer, Buch: Tom Tykwer, Musik: Tom Tykwer, Johnny Klimek, Reinhold Heil, Kamera: Frank Griebe, Schnitt: Mathilde Bonnefoy, Darsteller: Franka Potente (Lola), Moritz Bleibtreu (Manni), Herbert Knaup (Lolas Vater), Joachim Król (Penner), Armin Rohde (Herr Schuster, der Wachmann), Nina Petri (Frau Hansen), Heino Ferch (Ronnie)
Kinostart: 25/9/1998

Loa und Manni sind ein Liebespaar in Berlin - heute. Von einem Moment zum anderen stehen sie vor einem Riesenproblem. Manni, der für einen Autoschieber als Geldkurier arbeitet, hat eine Tüte mit 100.000 DM in der U-Bahn liegen gelassen. Jetzt müssen beide innerhalb von 20 Minuten die Summe auftreiben - oder Manni wird sterben. Doch Lola zögert nicht, rennt los und versucht, das Geld von ihrem Vater zu bekommen. Manni überfallt aus lauter Verzweiflung einen Supermarkt - eine Entscheidung mit weitreichenden Folgen.
Ein deutscher Film, den man so oder in ähnlicher Form noch nicht gesehen hat. In einer wilden und rasanten Mischung diverser Genre, Kameraeinstellungen und mit bestens besetzten Rollen bis in die Nebenfiguren überrascht Tom Tykwer alle gelangweilten Pessimisten in puncto Filmen aus Deutschland. (film.de)

Um ihren Freund aus einer verzweifelten Lage zu retten, muß eine junge Frau in 20 Minuten 100.000 DM besorgen. Aus dieser Grundkonstellation entwickelt der Film drei Variationen der Geschichte. Unter Einsatz unterschiedlichster formaler Mittel erzeugt der Regisseur überaus gekonnt einen stakkatoartigen Rhythmus, der den Zuschauer mitreißt. Die Ansätze zu einer Vertiefung des brillanten visuellen Feuerwerks in Richtung Reflexion über Zeit und Zufall überzeugen nicht völlig, da die Geschichte in ihren Dimensionen eng begrenzt und zu wenig übertragbar ist.

"Ein rennender Mensch bringt alles zusammen: explosive Dynamik und Emotionen, (...). Diese Dynamik hat etwas Ur-Kinohaftes," meint Regisseur Tom Tykwer. Das Bild einer rennenden Frau war für ihn die Ausgangsidee zu seinem neuen Film, der im wahrsten Sinne des Titels Tempo macht. Franka Potente, mit feuerrot gefärbten Haaren, verkörpert die Titelfigur und läuft in der Tat um ihr Leben und das ihres Freundes das Leitmotiv in einem ungewöhnlichen Filmexperiment, das formal wie inhaltlich ein Spiel mit Zeit und Zufall betreibt.
Aus der Vogelperspektive "schießt" die Kamera auf die Erde, um dort eine wahllos zusammengewürfelte Gruppe von Menschen zu erfassen. Wie zufällig ausgewählt aus all den potentiell erzählbaren Biografien erscheint die Geschichte von Lola, Tochter des Filialleiters einer Berliner Bank. Von ihrem Freund Manni erhält sie einen verzweifelten Telefonanruf. Für einen Gangster hat dieser Luxusautos nach Polen verschoben und 100.000 DM kassiert, aber in der U-Bahn das Geld, das er abliefern sollte, liegen lassen. Ein Penner hat die Plastiktüte mit den Banknoten für sich an Land gezogen. Nun fürchtet Manni um sein Leben, wenn er das Geld nicht auftreibt. Lola ist sein letzter Rettungsanker. Es bleiben nur noch 20 Minuten bis zum vereinbarten Zeitpunkt der Geldübergabe. Wie Lola in 20 Minuten das Geld zu beschaffen versucht, erzählt der Film in drei Variationen: in der ersten rennt Lola in die Bank zu ihrem Vater. Doch der hat keine Zeit, da er in einer persönlichen Krise steckt und sich mit seiner Geliebten, Frau Hansen aus dem Vorstand, auseinandersetzen muß. Lola kommt zu spät zum Treffpunkt, denn Manni hat in seiner Verzweiflung einen Überfall auf den Supermarkt gemacht. Es bleibt kein Ausweg: Denn die Polizei hat die Straße abgeriegelt. Lola wird erschossen. In der zweiten Version setzt Lola ihrem Vater kurzerhand die Pistole auf die Brust und verlangt das Geld von der Bank. Doch nützt es ihr nichts, denn der Zufall will, daß Manni ausgerechnet von einem Rettungswagen überfahren wird. In der dritten Variante versucht Lola es mit dem Glücksspiel: Sie gewinnt in der Spielbank. Gleichzeitig hat auch Manni Glück. Er kann dem Penner die Tüte mit dem Geld abjagen. So kann er seine Schuld begleichen und gleichzeitig bleibt beiden noch die 100.000 DM von Lola.
"Lola rennt" ist in gewissem Sinn eine Übersetzung von Kieslowskis Film "Der Zufall möglicherweise", eine Version für die Techno-Generation. Tykwer brennt ein beispielloses visuelles Feuerwerk ab und nutzt dabei das ganze Arsenal formaler Techniken: rasante Kamerabewegungen, schnelle Schnittfolgen, Jump Cuts, Split-Screen-Techniken, wechselnde Darstellungsebenen (Realfilm, Animationsfilm, Video). Sein Einfallsreichtum ist bestechend. Fünf Minuten seines Films enthalten mehr kreative Ideen als andere deutsche Filme in 90 Minuten Laufzeit! Unterstützt von der u.a. auch von ihm selbst komponierten Musik erzeugt er einen stakkatoartigen Rhythmus, der nur durch wenige ruhigere Passagen unterbrochen wird. Der Zuschauer wird förmlich mitgerissen und kommt nicht zur Ruhe. Der Reiz an der Geschichte, die im Grunde genommen sehr einfach ist, liegt in der Warhnehmung der Variationen, der Spiegelungen, Umkehrungen und Verschiebungen, die jede Variation im Vergleich zu der/den vorhergehenden einbringt.
Tykwer will aber mehr als reine Unterhaltung. Der Film soll "eine wilde Jagd mit Nachwirkungen" sein. Über die spielerische Ebene hinaus will er hin zu einer Reflexion über Zeit und Zufall, wobei die ernste Ebene nie ungebrochen zur Geltung kommt. Das zweifache Motto deutet dies an: neben T.S. Eliots aphoristischer Bemerkung, daß alles menschliche Suchen letztlich zum Ausgangspunkt zurückführt, steht die Einsicht von Sepp Herberger "Nach dem Spiel ist vor dem Spiel". Und in ironischer Zitierung der alten Kulturfilmtradition unterlegt Tykwer seine Anfangsbilder, die eine scheinbar wahllos herausgesuchte Menschengruppe zeigen, mit der feierlich-sonoren Stimme eines Off-Erzählers, der über den Menschen - "ein Mysterium offener Fragen" - nachdenkt. Die Tendenz zur Verallgemeinerung der eigentlichen Geschichte von Lola und Manni ist daran zu erkennen, daß sich um sie ein Kranz von möglichen anderen Geschichten legt: die Schicksale der Menschen, denen Lola zufällig begegnet, werden in Form blitzartig ablaufender Fotoserien gezeigt. Der inhaltliche Tiefgang ist insgesamt dennoch stark begrenzt. Das wird vor allem im Vergleich zu Kieslowskis Film deutlich. Kieslowski entwickelte für seine Hauptfigur drei alternative Biographien, die sich von der gleichen Grundsituation aus entfalten. Tykwer jedoch behält nicht nur die Grundkonstellation, sondern auch wesentliche Elemente des Handlungsverlaufs bei: Es geht in allen drei Episoden darum, in 20 Minuten 100.000 DM zu besorgen und das gelingt entweder mit Gewalt oder mit Glück. Auch die Übererfüllung des Happy-Ends - nicht nur Mannis Problem ist gelöst, sondern es bleibt dem Paar auch noch Lolas Gewinn - trägt nicht unbedingt dazu bei, die möglichen Denkanstöße zu unterstreichen. Da sich vieles wiederholt, treten trotz aller Rasanz gewisse Abnutzungserscheinungen auf. Man hat das Gefühl, daß Tykwer zuletzt doch etwas die Luft ausgegangen ist bei einem Experiment, das höchst spannend, wenn auch nicht in jeder Hinsicht völlig geglückt ist. (Peter Hasenberg, film-dienst)

Tempo, Tempo! Mit "Lola rennt" poliert der deutsche Film sein Image nachhaltig auf und präsentiert einen neuen Star: Franka Potente.
Manchmal, wenn man ins Kino ging in den letzten Jahren, beschlich einen die trübe Ahnung, der deutsche Film sei am Ende wirklich so schlecht wie sein Ruf. Was man sich auch anschaute, man wurde das Gefühl nicht los, immer wieder dasselbe zu sehen: adrette Menschen Ende Zwanzig, Anfang Dreißig, die in teuren Wohnungen in trostlosen deutschen Städten vegetieren, die Zeit mit schicken Jobs und die Einsamkeit mit flauen Affären totschlagen, bis nach vielen Irrungen und Wirrungen dann doch immer irgendwie die Richtigen zueinanderfinden und man sich nur wundern kann, warum sie eineinhalb Stunden dafür gebraucht haben.
Die urbane Beziehungskomödie aus Deutschland (aber auch die aus österreich), obschon dutzendfach variiert, arbeitete unterm Strich immer mit denselben Versatzstücken: denselben Intrigen, denselben Pointen, denselben Dialogen, denselben verlogenen Happyends und vor allem denselben ausdruckslosen Gesichtern. Meistens spielte Katja Riemann mit, manchmal Til Schweiger und, wenn man Glück hatte, Joachim Król in einer tragenden Nebenrolle. Wenn Bernd Eichinger ("Der bewegte Mann", "Das Superweib", "Campus") ausnahmsweise nicht selbst produzierte, gaben sich die Beteiligten alle Mühe, es zumindest so aussehen zu lassen. Das war der neue deutsche Kino–Mainstream, und er war so stark, daß sich bald kaum jemand mehr traute, dagegen anzuschwimmen.
High–noon. Und jetzt kommt ein Film ins Kino, der nicht Eichingers Handschrift trägt, ohne Riemann oder Schweiger auskommt und ohne Designerlofts und verquälte Beziehungsneurosen; ein Film, der drei Millionen Mark gekostet hat (soviel wie eine Pfote von Godzilla) und mit frischeren Spezialeffekten aufwarten kann als jeder Hollywood–Blockbuster des vergangenen Sommers. "Lola rennt" heißt der Film, und damit ist eigentlich schon alles gesagt. Lola ist die Hauptfigur, und sie rennt achtzig Minuten, praktisch ohne Pause, so wie jemand, der um sein Leben rennt, nur daß es in diesem Fall nicht Lolas Leben ist, sondern das ihres Freundes Manni. Der nämlich, ein verkrachter Kleinkrimineller, hat Mist gebaut. Er war als Geldkurier unterwegs und hat eine Tasche mit 100.000 Mark in der U–Bahn liegenlassen. Um zwölf Uhr soll die übergabe stattfinden. Manni hat noch genau zwanzig Minuten Zeit, um das Geld aufzutreiben, sonst ist er ein toter Mann. In seiner Verzweiflung ruft er von einer Telefonzelle aus Lola an. "Bleib, wo du bist", schreit sie in den Hörer, "ich komm` zu dir, mir fällt schon was ein." Und los rennt sie.
Lola hat pumucklrotes Haar und ein Tattoo auf dem Bauch, trägt ein schmutziges Unterhemd, grüne Flohmarkthosen und schwere Stiefel, und wenn die Kamera ihr von der Seite beim Rennen zuschaut, denkt man unwillkürlich an den Vorspann von "Jackie Brown". Auch dort sah man eine Frau im Profil, Pam Grier, und noch bevor sie ein einziges Wort gesagt hatte, wußte man: Nichts und niemand kann diese Frau aufhalten.
Lola rennt. Zu ihrem Vater, der Filialleiter einer Bank ist und nicht den Hauch von Verständnis für Lolas Probleme aufbringt, zumal er selber welche hat (die Sorte Probleme, die man aus neuen deutschen Beziehungskomödien kennt). "Scheiße", flucht Lola und schreit, daß die Gläser bersten, macht kehrt und rennt weiter. Sie hat noch sechs Minuten und weiß nur, sie muß jetzt zu Manni, er braucht sie, mit Geld oder ohne, und als sie am Treffpunkt ankommt, steht Manni schon mit gezücktem Revolver im Supermarkt gegenüber. "Manni!" schreit Lola, stürzt in den Laden und zwei Minuten später mit Manni und einem prall gefüllten Plastiksack wieder heraus. Die Polizei hat das Gelände längst abgeriegelt. Ein Schuß fällt. Lola sinkt zu Boden. Der Film ist noch keine dreißig Minuten alt.
Prinzip Zufall. Regisseur Tom Tykwer versucht gar nicht erst, die Geschichte, die er gerade schlüssig zu Ende erzählt hat, elegant zu retten – er läßt sie einfach noch einmal von vorn beginnen, mit derselben Ausgangssituation, denselben Schauplätzen und denselben Figuren. "Lola rennt", das ist nicht ein Film, das sind, in knapp achtzig Minuten, gleich drei Filme. Tykwer erzählt jedoch nicht etwa dieselbe Geschichte aus drei verschiedenen Perspektiven, er fragt sich vielmehr, was passiert, wenn er bestimmte Parameter in seiner Versuchsanordnung verschiebt, und sei es nur um Haaresbreite. Was, wenn Lola ein paar Sekunden früher oder später irgendwo ankommt; was, wenn sie, anstatt das Büro ihres Vaters gleich wieder zu verlassen, handgreiflich wird; was, wenn sie auf dem Weg zu Manni einen kurzen Abstecher ins Casino macht?
Ein ziemlich spekulativer Ansatz, aus dem Tykwer allerdings kein akademisches Filmtraktat im Geiste von Kieslowski bastelt, sondern den frischesten und unverschämtesten deutschen Film der letzten Jahre. Mit minimalen Nuancierungen vertrauter Abläufe gelingt es Tykwer, die Spannung beim Zuschauer aufrechtzuerhalten: Wird Lola dieselbe Passantin wieder anrempeln, und wird daraus für den Verlauf der Geschichte etwas folgen? Wer wird am Ende des 2. Akts sterben, und gibt es im dritten vielleicht ein Happyend? "Lola rennt" ist die geglückte Anwendung des Prinzips Zufall auf das Medium Film im Geiste von Pop.
Tom Tykwer gilt als einer der genuinen deutschen Autorenfilmer der neunziger Jahre. Mit seinen Kollegen Dani Levy ("Stille Nacht") und Wolfgang Becker ("Das Leben ist eine Baustelle") betreibt er in Berlin die Firma X–Filme, die der sterilen Eichinger–ästhetik eine eigene, unverfälschte Bildsprache entgegensetzt. Nach den eher klaustrophobischen Arbeiten "Die tödliche Maria" (1993) und "Winterschläfer" (1997) schlägt Tykwer mit "Lola rennt" eine unverhofft schrille Tonart an. Dabei arbeitet der 33jährige mit allen technischen Tricks, die einem Cineasten seiner Generation zu Gebote stehen. Er hat MTV im Kopf, das Trash– und Action–Kino, Werbung und Comics, House und Techno (Tykwer hat auch den Soundtrack komponiert), doch die einschlägigen Stilmittel werden in "Lola rennt" nicht eingesetzt, um Smartheit und Hipness zu demonstrieren, sondern um dem Film das zu geben, was er am dringendsten braucht: Tempo.
Man mag Tykwer einen gewissen Hang zu Manierismus und Effekthascherei unterstellen, doch damit zielt man haarscharf am Kern der Sache vorbei, und der liegt darin, daß Tykwer sich virtuos der konstitutiven Elemente jener Welt bedient, die er auf der Leinwand abbildet. Die spielerische Sicherheit, mit der er das tut, schlägt sich nieder im Lebensgefühl, das sein Film transportiert. Wem "Lola rennt" also zu plakativ, zu laut, zu schnell und zu atemlos erscheint, der formuliert in Wahrheit ein grundlegendes Unbehagen an der Pop–(und Jugend–)Kultur der neunziger Jahre. Tatsächlich ist die Synthese zwischen Kino und Pop in letzter Zeit nur wenigen so schlafwandlerisch geglückt wie Tykwer: Danny Boyle ("Trainspotting") und Wong Kar–Wai ("Chungking Express") haben es auf ihre Art geschafft, der österreicher Stefan Ruzowitzky hat es vor zwei Jahren mit "Tempo" versucht und ist, wenn auch ehrenhaft, gescheitert.
Das hätte Tykwer genausogut passieren können, wäre er nicht rechtzeitig Franka Potente über den Weg gelaufen, seiner nachmaligen Hauptdarstellerin und Lebensgefährtin. Potente (derzeit auch in Doris Dörries "Bin ich schön?" zu sehen) ist das rennende Medium, in dem Tykwer die Energie seines Films augenfällig bündeln kann. Ihr Gesicht spiegelt Entschlossenheit und Verletzlichkeit zugleich und durchläuft in einer halben Stunde mehr emotionale Schattierungen, als Katja Riemann in fünf Filmen aufbieten kann.
Die 24jährige Potente wird von deutschen Medien bereits als hollywoodtaugliche Kreuzung zwischen DJ–Queen Marusha und dem Schwimmwunder Franziska von Almsick gefeiert, auch wenn sie, wie das "Zeit–Magazin" mäkelt, noch etwas an ihrer Figur arbeiten könnte: Der Film zeige sie häufig "etwas unvorteilhaft von hinten. Jede andere Schauspielerin hätte schnell ein paar Kilo abgenommen." Sie sei schließlich kein Model, parierte Potente patzig, "der Zuschauer bekommt einen realistischen Arsch zu sehen". Der Satz könnte auch aus dem Drehbuch von "Lola rennt" stammen. (Sven Gächter, profil 39/1998)

(...) Einer wie der Bierfahrer Hannes (aus Peter Lichtefelds Kino-Erstling "Zugvögel - einmal nach Inari", Anm. FHH) hätte auch in Tom Tykwers Film "Lola rennt" gepaßt. Er wäre dann einer der Passanten gewesen, die Franka Potentes Lola auf ihrem panischen Weg durch Berlin-Mitte anrempelt, anschreit, umkurvt oder einfach ignoriert, und seinen künftigen Lebenslauf hätte man in einer sekundenkurzen Folge von Schnappschüssen gesehen: Sturz vom Fahrrad, Krankenhaus, Liebesglück, Hochzeit. Oder Trauer, Bekehrung, Frömmelei, Zeuge Jehovas. Oder Armut, Lottogewinn, Eigenheim, Champagnerkübel. Oder Autounfall, Lähmung, Selbstmord, Begräbnis. Lauter ungedrehte Filme sind es, die da in Tykwers Geschichte am Rande aufblitzen, lauter Dutzendschicksale. Wie das von Lola. Man muß sich entscheiden. Schnell. Und Tykwer zögert nicht.
Bisher war Tom Tykwer, 33, der Regisseur des bedrückend virtuosen Hinterhofdramas "Die tödliche Maria" (1994) und des ebenso virtuosen, aber noch zwanghafteren Alpen-Alptraumspiels "Winterschläfer" (1997). Jetzt, mit "Lola rennt", ist Tykwer der Regisseur der Stunde. Im buchstäblichen Sinn: "Lola" dauert achtzig Minuten und ist damit der kürzeste deutsche Spielfilm seit langem. Und im übertragenen - denn einen Film wie diesen hat das deutsche Kino noch nicht gesehen.
Berlin, hier und heute: Lola, rothaarig, und Manni, kurzgeschoren (Moritz Bleibtreu), sind ein Paar. Lola und Manni, Manni und Lola, das erinnert an Sailor und Lula bei David Lynch ("Wild at Heart"), und wie bei Lynch geht es auch bei Tykwer ums Ganze: zwei Liebende gegen die Welt. Manni hat bei einer krummen Tour versagt und hunderttausend Mark verschlampt, und Lola bleiben zwanzig Minuten, um sie ihm wiederzubesorgen. Sie rennt quer durch die Stadt zu ihrem Vater, einem Bankdirektor, doch der läßt sie abblitzen; als sie Manni einholt, überfällt dieser gerade einen Supermarkt, die beiden fliehen zusammen, werden von der Polizei umzingelt, ein Schuß fällt, und nach einer halben Filmstunde ist Lola tot.
Da beginnt die Geschichte von vorn.
Von Krzysztof Kieslowski gibt es einen Film von 1981, der die Sache schon im Titel auf den Punkt bringt: "Der Zufall". Darin geht es um einen Studenten, der zum Bahnhof rennt, um den Zug nach Warschau zu erreichen. In drei Variationen wird seine Geschichte erzählt: In der ersten kriegt er den Zug und wird Parteifunktionär, in der zweiten verpaßt er ihn und wird Widerstandskämpfer, in der dritten stirbt er auf einer Auslandsreise. Und über alle drei Geschichten wacht ein kalter, gnadenloser Blick.
Von diesem Blick und von Kieslowskis strenger Schicksalsmechanik überhaupt hat Tykwers Film mehr, als seine bunte und von heftig pumpenden Techno-Beats gekräuselte Oberfläche erahnen läßt. Auch Tykwer setzt dreimal an. Aber die Spielregeln sind noch strenger. Jedesmal geht es um dasselbe: hunderttausend Mark in zwanzig Minuten. Lola rennt noch einmal los. Alles ist jetzt anders: der Weg, die Passanten, die Begegnung mit dem Vater. Und alles ist gleich: die Stadt, die Orte, die Figuren. In dieser erzählerischen Zwangslage erlaubt sich Tykwer die allergrößte filmische Freiheit: Er kombiniert Film-, Video- und Zeichentricksequenzen, Zeitlupe, Zeitraffer und Einzelbilder, ein Universum aus fremden Bildern und Tönen. Darin sitzen Manni und Lola wie unter einer Glasglocke. In den Pausen zwischen den Variationen ihrer love story sieht man sie im Bett liegen, in rotes Licht gehüllt, grübelnd, streitend, schweigend. Womöglich ist alles auch nur ein Traum.
Man sieht dem Film an, was Tom Tykwer gesehen und gelesen hat: Besson ("Nikita"), Tarantino, Lynch, "Tank Girl", "Pippi Langstrumpf" und vieles mehr. Aber "Lola rennt" ist keine Talentprobe. Früher probierte Tykwer mit den Mitteln des Kinos herum, jetzt gebraucht er sie. Deshalb leuchtet Berlin in seinem Film wie seit langem nicht mehr. Und deshalb wird das Märchen von Lola immer zauberhafter, je länger es dauert. Als Franka Potente sich entschließt, im Kasino alles auf eine Zahl zu setzen, bringt sie mit einem Schrei den Mechanismus des Roulettes zum Stillstand. Vielleicht gelingt es ja auch Tykwers Film, die Mechanik des Bunten und Blöden im deutschen Kino außer Kraft zu setzen. Schön wär's. Und höchste Zeit. (Andreas Kilb, DIE ZEIT 1998 Nr. 35)

«Lola rennt» von Tom Tykwer wird als Filmwunder gefeiert, (...) weil hier die dramaturgische Hemmungslosigkeit eines Debütanten jede Sinnfrage erübrigt.
Der Film fiel wie lange erwarteter Regen vom Himmel; die deutsche Kritik, die das Kinojahr 98 bereits als kommerzielle Dürreperiode abbuchen wollte – weit und breit kein «Kleines Arschloch» in Sicht –, erklärte ihn folglich zum Filmwunder, noch ehe er in die Kinos kam: «Lola rennt» von Tom Tykwer, ein Berlin-Märchen um eine junge Frau, die für ihren Freund in 20 Minuten 100 000 Mark beschaffen will (es geht um Leben und Tod), spielte bereits am ersten Wochenende sein 3-Millionen-Budget ein. Die Lola-Darstellerin, Franka Potente, Pippi Langstrumpfs Punk- Schwester, avancierte über Nacht zum Covergirl und Studiogast deutscher Kulturmagazine.
Ein Filmwunder? Das vielleicht nicht, aber ohne Zweifel ein erfrischender Versuch, mit den Formen zu spielen. Das Leben ist längst kein langer Erzählfluss mehr, sondern eine Reihe unterschiedlich temperierter Tauchbecken. Man nennt sie auch Glaube, Liebe, Hoffnung. Das Episodenhafte unserer Existenz hat nun auch der neue deutsche Film erkannt und versucht, ihr mit dem Mittel der episodischen Dramaturgie gerecht zu werden. Tykwer zum Beispiel ignoriert die Naturgesetzlichkeit Zeit offensichtlich, indem er die Geschichte von Lolas rasender Geldbeschaffung in drei Versionen erzählt. In der ersten weigert sich die von einer (Polizisten-)Kugel tödlich verwundete Heldin zu sterben, kraft ihrer Liebe zu Manni (Moritz Bleibtreu) und der magischen Formel: «Ich will nicht.» Liebe, wir müssen es glauben, ist stärker als der Tod.
Die hauptsächliche Leistung von Tykwers drittem Film besteht darin, dass er das Genre der romantischen Komödie, eine Wiederentdeckung der achtziger Jahre, neu definiert und auf eine überzeugende Weise abflachte zu einem Comic- Strip. Ein Mix aus Pop und Pistolen. Nicht im Geist von Hollywood, sondern im Sinne des experimentierfreudigen Regisseurs: mit Schwarzweiss- und Farbmaterial, Zeitraffer und Zeitlupe treibt er den Plot an, mit Zeichentrick verschafft er ihm eine psychedelische Sogwirkung, die dem breiten Publikum das vermittelt, was Tykwers Absicht ist, «nacktes Vergnügen». (NZZ)

«Wer meckert, hat nicht hingeguckt». Tom Tykwer über seinen Film «Lola rennt» und das deutsche Kino
Eine Viertelmillion Besucher am ersten Wochenende, die Budgetkosten von drei Millionen Mark in drei Tagen an der Kasse eingespielt - Tom Tykwers Berlin-Märchen «Lola rennt» ist in Deutschland erfolgreicher angelaufen als der Monumentalimport «Armageddon». Tykwer steht für eine Generation deutscher Filmemacher, die sich nicht mehr schämt, ihr Publikum zu unterhalten, auf intelligente Weise selbstverständlich. Daniele Muscionico hat den Regisseur des «Filmwunders», wie es die Presse bezeichnet, in Zürich getroffen.
Tom Tykwer, Ihre Biographie erweckt den Eindruck, als hätten Sie Ihre gesamten 33 Jahre im Kino verbracht. In «Lola rennt», Ihrem dritten Film, scheinen Sie nun den gesammelten Bilderschatz zu verwerten und alle Möglichkeiten des Kinos ausprobieren zu wollen: Sie verwenden Farb- und Schwarzweissmaterial, Video, Zeitraffer, Zeitlupe und Zeichentrick...
Es ist tatsächlich ein Film über die Möglichkeiten des Kinos, aber immer mit der Anbindung an die Frage: «Welche Möglichkeiten haben wir im Leben?» Von jedem Menschen strahlt ein Kosmos lebensverändernder Gelegenheiten ab. Ich will das Bewusstsein schaffen für den Augenblick, in dem ja ständig etwas Entscheidendes passiert, ohne dass wir es wissen können. Für die kleinen Momente, die spektakuläre Folgen haben können, während der grosse Augenblick, der vielleicht zelebriert wird, schon nach kurzer Zeit keine Rolle mehr spielt. - Es ist wahr: Ich habe mich schon sehr früh, als ich sie noch gar nicht dechiffrieren konnte, für Filme interessiert. Als ich mit acht oder neun Jahren «King Kong» sah und feststellte, dass das etwas Gemachtes ist, begann ich in unserem Garten solche Super-8-Filmchen herzustellen. Ich habe mich in der Kinowelt jahrelang eingesponnen wie in einen Kokon. Zum Glück sind irgendwann Menschen gekommen, die mich rausholten. Das war der Sprung vom Fachidioten zum Cineasten.
Wie Sie früher, erfindet Lola sich die Wirklichkeit selbst. Wie kann ein Märchen auf Fragen des ausgehenden Jahrhunderts eine Antwort geben?
Das Prinzip des Film ist, dass Lola eine Figur wie Pippi Langstrumpf ist, die sagt: «Ich mach' mir die Welt, wie sie mir gefällt.» Mein Film ist eine Aufforderung, sich vermehrt nach einem solchen Prinzip zu verhalten, sich etwas zu trauen und eine Utopie zu wagen. Weil der Film eine Reise in Lolas Vorstellungswelt ist, ist er ein in sich geschlossenes und trotzdem offenes System. Er verweist auf die Kausalitätsketten, die in alle Richtungen von uns wegspringen.
Mit dem Drive und der jugendlichen Urbanität, die Sie zelebrieren, erstaunt es nicht, dass der Film so geliebt wird. Ich möchte hier behaupten: Sie schielen bewusst auf Publikumswirksamkeit.
Natürlich will ich ein möglichst grosses Publikum erreichen, wer will das nicht. Aber es ist ein Fehlschluss zu denken, dass es bestimmte Muster und Rezepte gibt, nach denen das Publikum funktioniert. Ich finde es eine bornierte Haltung zu glauben, dass man die Zuschauer nur durch Abflachung der Filme erreicht. Filme, die sich durchsetzen, schaffen immer beides, sie machen Spass, und sie haben Tiefe und Komplexität. Das hat wieder das Retortenprodukt «Godzilla» bewiesen, das weit unter den Erwartungen Kasse macht, weil es nur industrielles Geklotze ist. Ein Film soll eine Persönlichkeit haben und die Kommunikation mit dem Publikum ermöglichen. Kunst, die sich nur mit sich selbst beschäftigt, ist dekadent und ignorant. Meine Kunst will kommunizieren und sich nach aussen wenden. «Lola rennt» ist auch keine artifizielle Skulptur im Sinne des späten Peter Greenaway. Ich wollte einen Film machen, der technisch viel riskiert und trotzdem wahrhaftige Menschen zeigt.
Wie reiht sich «Lola rennt» in Ihr Werk ein?
In allen meinen Filmen spielt das Element Zeit eine grosse Rolle, weil es eine so gnadenlose und brutale Konstante in unserem Leben ist. Abgesehen davon reizen mich die Möglichkeiten der Liebe und die Radikalität dieses Konzepts. Mich interessieren die Systeme, die uns umzingeln und uns scheinbar keine Bewegungsmöglichkeiten lassen. Natürlich bin ich der festen Überzeugung, dass wir uns immer mit einem Kraftakt daraus befreien können. Insofern bin ich ein Utopiefanatiker, und «Lola rennt» ist ein ausgesprochen Utopie-manischer Film. Die Utopie kommt von der Leidenschaft, die diese Frau hat. Leidenschaft ist für mich das anarchische Potential, das alle Systeme sprengen kann. So wie Lola die Zeit überwindet und das Schicksal mit ihrer Energie bezwingt, glaube ich daran, dass wir Systeme ausser Kraft setzen können, wenn wir nur den passionierten Impuls dazu haben.
Auch die Übermacht des Kommerzkinos?
Sicher; doch was meinen Sie mit Kommerzkino genau? Schlechte Filme haben nichts zu tun mit der Höhe des Budgets oder dem Label «Hollywood», die kommen in jedem Land und in jedem Genre vor. Jeder Film, der ohne Seele ist und sich an eine Rezeptur verkauft, ist für mich verloren.
Also würden Sie, wenn Hollywood ruft, Ihrem Land den Rücken kehren ohne besonderes Verantwortungsgefühl für den deutschen Film?
Hollywood hat schon längst angerufen, aber mit einem langweiligen Projekt. Wenn der Stoff Sinn ergibt, würde ich natürlich in Hollywood drehen. Missionarisch sehe ich mich gar nicht, sondern als Spieler in einer deutschen Mannschaft, die gegenwärtig sehr reich bestückt ist. Ende der achtziger Jahre hatten wir eine Flaute, der deutsche Film war tot. Aber jetzt sind wir nicht mehr provinziell, und trotzdem sind wir nicht zufrieden. Wir Deutschen lieben es einfach, uns hinzurichten, sobald nur die Chance dazu besteht. In den nächsten Monaten kommen eine Menge guter deutscher Filme in die Kinos. Der deutsche Film hat über die Komödie ein Publikum gefunden und seine eigenen Stars. Wer jetzt noch meckert, hat nicht hingeguckt.
(Daniele Muscionico, Neue Zürcher Zeitung vom 10/9/1998)

Tempo, enormes Tempo. "Lola rennt" ist das, was tatsächlich einen großen Teil des Films geschieht. Ihr Freund Manni (Moritz Bleibtreu) hat ein Ding verpatzt und braucht nun 100.000 Mark - in den nächsten zwanzig Minuten, sonst wird ihn der Boß kaltmachen. Eine bekannte Ausgangssituation, diesmal exzellent rasch in Szene gesetzt. Lola (Franka Potente) beschwört ihn am Telefon, nicht wegzugehen und rennt los. Manni sieht den Supermarkt gegenüber und nimmt sich vor, den um Punkt Eins auszurauben.
Lola rennt: die Treppe runter, hetzt durch Berliner Straßen, springt über ein Auto, das plötzlich aus einer Ausfahrt kommt und stürzt in die Bank ihres Vaters (Herbert Knaup). Der klärt gerade das weitere Leben mit seiner noch heimlichen Geliebten (Nina Petri) und ist aus mehreren anderen Gründen nicht bereit, 100.000 rauszurücken. Lola rennt weiter und kommt um Sekunden zu spät...
Ganz wie Badhams Thriller "Nick of Time" hält sich die erzählte Zeit streng an die Erzählzeit. Daß nach 20 Minuten doch noch nicht alles vorbei ist, verdanken wir Tykwers genialem und witzigen Spiel mit dieser einen Handlung. Im dreifachen Durchgang entwirft er ein reizvolles Spiel mit Zufällen, Entscheidungen und anderen Handlungselementen, die oft nur eine beiläufige Rolle spielen. Diesmal laufen diese Momente mit Lola mit, eilen ihr voraus oder bleiben ungenutzt zurück. So wird der erfrischend kurze Film gerade spannend, weil er dreifach fast das Gleiche erzählt!
Formal könnte "Lola rennt" der Entwurf zu einem interaktiven Film oder einer CD-ROM mit vielen wählbaren Handlungsverläufen sein. Die rennende Lola rempelt Passanten an und stößt bei ihnen die eigenen Geschichten los, die in rasanten "Flash Forward Fotoserien" kurz angerissen werden. In jeder Version entwickeln sich auch andere Nebenepisoden bei den gleichen Randfiguren. Statt zu irritieren, macht diese Form so viel Spaß, daß man richtig beleidigt ist, wenn mal eine Figur ausgelassen wird. Und keine dieser Zusammentreffen ist belanglos, alles hängt zusammen. Tykwer akzentuiert die Nebenschienen mit grob aufgelöster Videoqualität. Trotzdem wirkt solch ein tragischer Lebensverlauf im beiläufigen Zeitraffer extrem grausam.
"Lola rennt" ist nicht nur ein raffinierter Zeit-Film, er ist auch rasanter Techno-Film mit Comic-Einlagen, wirbelnder Kamera und ungewöhnlichen Schnitten. Kostete der Vorgänger "Winterschläfer" noch sehr detailliert den Moment aus, genießt Tykwers Neuer einen Geschwindigkeitsrausch mit sehr passender, extra von Tykwer und Kollegen komponierter Musik. Die Stimme des immer wiederholten "I wish I was" (Ich wünschte, ich wäre) stammt übrigens auch von der Lola-Darstellerin Franka Potente, die mit knallroten Haaren und grüner Hose zu einer modernen Ikone wird. Eine zweite, nicht ganz so brutale Lara Croft, die in dem Playstation-Spiel "Tomb Raider" berühmt wurde.
So eine Versuchsanordnung mit drei Situationen, in denen eine minimale Differenz - kriegt er den Zug? - scheinbar lebensentscheidende Folgen nach sich führte, realisierte auch Kieslowski. Nur spielte er in "Der Zufall möglicherweise" die Möglichkeiten im Polen der Militärdiktatur durch und alles endete in der gleichen Katastrophe. Kieslowski gab sich als Pessimist: "Nichts ändert nichts!" Tykwer gibt Lola die Kraft, etwas zu ändern. Lola kann noch mal von vorn anzufangen, falls alles völlig in die Hose gegangen ist.
Lola könnte ihren Namen von Ophuls "Lola Montez" geerbt haben, Tykwer dürfte es sich angesicht seiner nun mehrfach bewiesenen Filmkunst jedenfalls erlauben, den Meister optischer Räusche zu zitierten. Und noch ein Stück deutscher Film macht sich hörbar: Lolas Schreie der Verzweiflung sprengen Glas wie einst die Stimme von Oscarbringer Oskar Matzerath und seiner "Blechtrommel". Wie damals ist "Lola rennt" auch ein Aufschrei des wirklichen Films im einfältigen deutschen Komödiensumpf. (Günter H. Jekubzik, FILMtabs)

Wer auf einen originellen deutschen Kinofilm wartet, der in keine der üblichen Schubladen paßt, ist bei "Lola rennt" gut aufgehoben. Der Film ist komisch, aber keine Komödie, spannend, aber kein Krimi - eher schon ein monumentaler Videoclip mit Handlung und ein Road Movie im wörtlichsten Sinne: Franka Potente ("Opernball") hetzt als Lola atemlos durch die Straßen Berlins, um ihren Freund (Moritz Bleibtreu, "Knockin' on Heaven's Door") vor der Rache der Autoschieber und einer Verzweiflungstat zu bewahren.
Die für nur 3,5 Millionen Mark produzierte Collage aus Film- sowie kurzen Video- und Zeichentricksequenzen erinnert stilistisch entfernt an Oliver Stones "Natural Born Killers" und ist dabei so schnell geschnitten wie ein Techno-Clip auf MTV. Doch nicht Gewalt oder beißende Gesellschaftskritik sind das Thema, sondern einfach die Zeit.
Was wäre, wenn? Gleich dreimal hintereinander schickt Regisseur und Drehbuchautor Tom Tykwer ("Das Leben ist eine Baustelle", "Winterschläfer") seine beiden Hauptdarsteller in einen scheinbar aussichtslosen Wettlauf gegen die Uhr. Der Ausgangspunkt ist stets derselbe, doch jedes Mal nimmt die Handlung eine andere Wendung: Kleinste Zufälle bestimmen das Schicksal aller Beteiligten, der Bruchteil einer Sekunde entscheidet über ihr weiteres Leben.
Mit der Idee, mehrere alternative Handlungsverläufe innerhalb eines Films zu zeigen, steht Tykwer derzeit nicht allein. Auch der britische Autor und Regisseur Peter Howitt spielt in "Sie liebt ihn, sie liebt ihn nicht" an seiner Heldin Helen (Gwyneth Paltrow) zwei der unendlich vielen Möglichkeiten durch, die das Leben bereithält. Die Beziehungskomödie war bereits beim Filmfest München zu sehen und kommt im November in unsere Kinos.
Howitts Film aber ist eine konventionelle, auf den Emotionen ihrer Figuren aufbauende Komödie. "Lola rennt" hingegen setzt den Akzent auf innovativen Stil und hohes Tempo. Tiefgründige Charaktere darf man da nicht erwarten - mit knappen 81 Minuten Laufzeit ist "Lola rennt" aber ein origineller Film über die Macht des Augenblicks.
Facit: Originell und hintergründig: ein rasanter Videoclip im Leinwandformat (focus)

Der Ball ist rund. Alles andere ist Theorie. 82 Spielfilmminuten, mitten ins Herz: "Lola rennt", ein deutscher Kinohit, wie er sein soll
"Der Mensch: die wohl geheimnisvollste Species unseres Planeten. Woher kommen wir? Wohin gehen wir? Der Ball ist rund. Alles andere ist Theorie." Und wenn der Ball einmal rollt in Lola rennt, dann hält man sogar Phrasen wie diese aus.
Nein, richtiger, es sind sogar die Phrasen - verbal und szenisch - die Tom Tykwers Film vorwärts treiben, immer auf den Fersen Franka Potentes, deren roter Haarschopf wie eine Fackel quer durch Berlin rast, das endlich ohne Gedächtniskirche und Potsdamer Platz auskommt, während Lolas Freund Manni (Moritz Bleibtreu) dringend 100.000 Mark braucht, und zwar innerhalb von 20 Minuten. Aber nach diesen 20 Minuten ist das junge Paar bereits umzingelt; ein Polizist schießt und trifft. Lola. Mitten ins Herz.
Ja, das kennt man auch, und der Film strapaziert den Wiedererkennungseffekt auch noch, in dem er seine Titelheldin gleich dreimal durch dasselbe Szenario laufen läßt und in immer neuen Variationen zeigt, wie Lola von ihrem Vater (Herbert Knaup) kein Geld bekommt, während in weiterer Folge Supermarkt-und Banküberfälle fatal enden. Wie brüllt Manni am Anfang, als bäte er Pippi Langstrumpf um einen Gefallen: "Siehste, das hab ich gewußt, daß dir jetzt nichts einfällt..."
Von sogenannten Einfällen war im neuen deutschen Komödien-Kino zuletzt immer wieder die Rede, und vom schnellen Abräumen (Geld und Zuschauer!) - aber irgendwie war die Lage wohl nie bedrängend genug, oder man ging in den Ideenwerkstätten einfach auf Nummer Sicher und wagte nie das Unerhörte, so wie Lola, die am Anfang eben ihren betuchten Papa anzuschnorren versucht.
So ist Lola rennt wohl auch als Variation auf den allgemeinen Zustand deutscher Kinoerzähler zu sehen, die immer wieder an Grenzen pragmatischer Art stoßen, bis schließlich ein Befreiungsschlag wie eben genau dieser Film der Biedermeierei ein Ende macht. Da steht Lola dann im Casino, setzt auf "alles oder nichts" und schreit einen Schrei die Champagnergläser zerspringen läßt.
"I wish", "I don't believe": Das Wünschen hilft nur, wenn man nicht an alle überkommenen Rezepte glaubt. Zumindest implizieren das bereits die Titel der beiden Songs, die Franka Potente im Soundtrack mehr spricht als singt. 2 Millionen Zuschauer wird Lola rennt allein in Deutschland ins die Kinos locken können, und die Filmkritik zwischen Hamburg und Berlin spricht, weil sie sich erstmals einig weiß mit dem "breiten Publikum" von einem neuen Kapitel der nationalen Filmgeschichte.
Das ist ein wenig übertrieben, aber etwas wird schon klar, wenn man nach diesen 82 mitreißenden Minuten das Kino schlicht und einfach froh und beglückt verläßt: Dies ist ist der richtige Film zum richtigen Zeitpunkt. Einer, der nicht unbedingt bricht mit den gängigen Mainstream-Konventionen, weil er auf ihnen aufbaut, mit der Akzeptanz die sie dem deutschen Kino wieder gebracht haben. "Der Ball ist rund." Bleibt also nur, ihn etwas geschickter und intelligenter zu spielen, was auch den abgestumpftesten Zusehern nicht unbedingt Mißbehagen bereitet.
Davon abgesehen sind Franka Potente und Moritz Bleibtreu das vitalste, charmanteste, herrlichste Liebespaar, das in den letzten Monaten auf den internationalen Leinwänden zu sehen war. Alles andere... jetzt im Kino. (Claus Philipp, DER STANDARD, 25/9/1998)

Kopf durch die Wand. Berlin ist in Bewegung: Ein neuer deutscher Film namens "Lola rennt" spielt mit Unmöglichkeiten - und kommt damit überraschend durch.
Die Zeit - um nicht zu sagen: seine Lauf zeit - ist diesem Film wichtig. Lola rennt handelt von der ununterbrochenen Bewegung - und davon, wie sich Realzeit in Filmzeit übersetzen läßt. Lola rennt gönnt sich kein überflüssiges Verweilen, die Zeit drängt, weil sie im Kino noch knapper und teurer ist als sonstwo. Der junge Filmemacher Tom Tykwer hat Lola rennt inszeniert - und damit einen der größten deutschen Kassenerfolge der letzten Jahre.
Eine Idealbesetzung setzt die Erzählung in Gang: Ohne Franka Potente ist Lola rennt nicht vorstellbar, ohne ihre genau kalkulierte Balance zwischen Comic-Strip-Präsenz und seriöser darstellerischer Vertiefung wäre dieser Film schon an der ersten Ecke vorbei. Ihre Lola rennt hier nicht durch eine, sondern durch gleich drei Geschichten, durch drei verzweifelte Versuche, ein Ding der Unmöglichkeit möglich zu machen: Lolas Freund (Moritz Bleibtreu) schuldet seinen Gangsterfreunden nach einem kriminellen Deal Geld. Die sind in ihren Methoden nicht zimperlich, also braucht er 100.000 Mark, sofort, allerspätestens in zwanzig Minuten. Er ruft Lola an, so geht die Geschichte los: Er brüllt in den Hörer, die Augen dunkel umrandet, und kündigt einen Überfall an, wenn sie jetzt auch keine Idee habe, woher er soviel Geld nehmen soll. "Mir fällt was ein, ich schwör's", schreit Lola zurück, dann rennt sie los, zu ihrem reichen Vater, von dem sie annimmt, daß er ihr vielleicht ganz schnell das Geld beschaffen könne. Aber der hat erstens zu ihr nicht das beste Verhältnis (und außerdem ganz andere Probleme).
Lola rennt ist ein Amoklauf, den seine Heldin, mehr noch aber Tykwers Inszenierung absolviert, die sich hier ununterbrochen selbst überschlägt: jedes Bild eine kleine Sensation, jede Schnittfolge schneller als die Filmschule das erlaubt, immer angetrieben vom technoiden Pop in der Tonspur. An sich ist Tykwers Insistieren auf das Knallige, Körperliche, Rasante ja nicht besonders originell. Im Zeitalter von Music Television und digitalem Kino müßte Lola rennt eigentlich opportunistisch aussehen. Aber an diesem Film ist mehr als hipness und juvenile Dreistigkeit.
Die Zeit, Tykwers wesentlichstes Spielzeug, hat sich verdreht, sie gehorcht dem Gebot der Chronologie nicht mehr.
In Lola rennt wird zurück- und vorausgeblendet, Stories werden angehalten und neu gestartet, Fakten werden löschbar und Hypothesen faktisch: Die Vernunft ist außer Kraft, und das paßt nicht schlecht, weil das Kino noch nie eine vernünftige Kunst war, sondern immer schon eine visionäre. Tykwers Film jongliert, während er die Überlebensmöglichkeiten seiner Helden durchspielt, vor allem mit den Möglichkeiten des Erzählens.
Die Handlung verzweigt sich, unterwegs durch die Stadt, in tausend Kurz- und Kürzestgeschichten, läuft in Standphotoserien und Mini-Melodramen aus. Und zweimal bleibt die Erzählung ganz stehen, zwei schöne leise Szenen lang, die in glühendem Rot zwei konjunktivische Debatten unter Liebenden zeigen. Was wäre, wenn: Davon handelt Lola rennt, weil davon im Kino alles handelt.
Tykwers Film weist über seinen simplen Konsumwert weit hinaus. Lola rennt ist ein Liebes-Actionthriller, dessen Witz auch vor dem Tod keine Angst hat. In der Ironie seiner Konstruktion wird die Lust am Kino spürbar, die Tykwer treibt. Er vergrößert den Handlungsspielraum des deutschen Thrillers entscheidend: Die split-screen- Techniken, die Zeichentricksequenzen, die Beschleunigungen und Verlangsamungen, alles dient der Rhythmisierung, der Musikalisierung des Geschichtenerzählens. Und Tykwer zitiert sich durch die Filmgeschichte: Lola rennt, wie bei Leos Carax, an den Graffitis der Hausmauern vorbei, zwanzig Minuten später liegt sie sterbend, eine Kugel im Körper, auf der Straße, ihr Gesicht im Close-Up von oben photographiert, wie Belmondo am Ende von Godards A bout de souffle. Wie im alten Slapstickfilm trägt man nebenbei, den Helden im Weg, Glas über die Straße - und im Casino hängt ein seltsames Bild, das Gemälde eines Damen-Hinterkopfes, der an Hitchcocks Kim Novak und Vertigo erinnert.
Man darf hoffen, daß der Erfolg von Lola rennt den deutschen Film nicht nachhaltig beschädigen wird, daß er nicht das wird, was etwa Tarantinos Arbeit dem US-Kino ist. Souveräner Stil läuft immer Gefahr, zur Mode zu verkommen. Tykwers Lola trägt den ganzen Reichtum des erzählerischen Kinos durch diesen Film. Der nächsten Läuferin könnte das schon zu schwer werden. (Stefan Grissemann, DIE PRESSE, 25/9/1998)

Rasender Großstadtfilm. Der Film ist schnell und unaufhaltsam wie eine Kette umfallender Dominosteine. Und stellt inmitten der Action existentielle Fragen.
Lola glaubt an nichts. Weder an Versprechen, noch an die Wahrheit, erst recht nicht an den Zufall. Und doch hängt in Tom Tykwers drittem Film "Lola rennt" alles von jenen kleinen Schritten ab, die einmal in Gang gebracht, nicht mehr zu stoppen sind. Wie eine Kette umfallender Dominosteine, wie der Flügelschlag eines Schmetterlings, der irgendwo auf der Welt einen Sturm auslösen kann.
Noch herrscht Ruhe im Chaos von Lolas Zimmer. Dann klingelt ihr rotes Telefon. Freund Manni (Moritz Bleibtreu) steckt in Schwierigkeiten - kein Wunder, er gehört nicht zu den besonnenen Menschen und beginnt gerade als Geldkurier seine Ganovenkarriere. Doch Manni hat seinen Auftrag vermasselt: Auf der Flucht vor U-Bahn-Kontrolleuren ließ er eine Plastiktüte mit 100.000 Mark im Waggon liegen - die Beute der jüngsten Autoschieberei. Nun ist es 20 Minuten vor 12 Uhr mittag, dem Zeitpunkt der Geldübergabe. Ohne Geld ist er geliefert - Manni tobt verzweifelt in einer Telefonzelle. Lola muß ihm helfen, sie weiß doch sonst immer einen Rat. Sonst geht er rüber in den Supermarkt, eine Pistole hat er ja.
100.000 Mark in 20 Minuten. Das Leben des jugendlichen Pärchens hat plötzlich eine harsche Gangart eingeschlagen: Jetzt geht es um Liebe und Tod mit einer fast überfordernden Intensität. Was tun? Die Zeit tickt, und Lola rennt los. Raus aus dem Zimmer, quer durch Berlin. Sie tritt in Bilder und Comicwelten, rast an Menschen vorbei und beeinflußt dabei deren Leben, das in schnappschußartigen Szenen kurz aufflackern darf. Atemlos erreicht sie schließlich die Bank ihres Vaters. Wird er ihr helfen? Und was ist mit Manni? Wird er die Nerven behalten? Steht er nicht schon im Supermarkt und rafft das Geld aus den Kassen? Und warum beginnt ausgerechnet jetzt ein Polizist zu schießen? Soll´s das etwa schon gewesen sein? Mitnichten.
Die Geschichte hätte auch anders verlaufen können. Wie, zeigt Tom Tykwer noch zweimal in je 20 Minuten. Wieder hetzt Lola los zu tobenden Techno-Beats, wählt die gleiche Route, trifft die gleichen Passanten. Nur der Time-Code scheint etwas verrutscht, die Vorzeichen haben sich geändert und bestimmen die Dramaturgie der Ereignisse jeweils neu. "Wer sind wir? Wohin kommen wir? Woher wissen wir, was wir zu wissen glauben?" - eingangs des Films stellt die Stimme des Märchenerzählers Hans Paetsch die ewigen Fragen der Menschheit. Der Zufall kennt jedoch keine Ideologie, keine Moral. Lola und Manni bleiben auf sich allein gestellt und nutzen die Chance, sich in diversen Handlungsvarianten selbst zu prüfen. Zum Schluß wissen sie zumindest eines: ihr Glaube an ihre Liebe ist durch nichts zu erschüttern.
Auch wenn sie von Lola fast Übermenschliches verlangt, die Story bleibt bodenständig - trotz der stilistischen Experimentierfreude von Regisseur Tom Tykwer. Fragmenthafte Szenen, brüchige Übergänge, eingefärbte Bilder, Zeitlupe und Ausflüge in den Zeichentrick schaffen formale Bezüge zu cineastischen Vorläufern. Auch inhaltlich wagt Tykwer zahlreiche Zitate - sie schmälern nicht den Genuß von "Lola rennt", sind eher ein verschmitztes Augenzwinkern am Rande. Handlung, Schnitt, Musik, Dialoge - alles ist von der ungeheuren Dynamik geprägt, die so typisch sind für moderne junge Großstadtmenschen. Franka Potente spielt dabei nicht nur den Rotschopf - sie ist die extreme junge Frau, die noch keine Kompromisse kennt, zum Handeln getrieben, einsam in ihren Entscheidungen. Doch nicht nur sie überzeugt, Tykwer hat auch die Nebenrollen mit großartigen Schauspielern besetzt: Armin Rohde, Joachim Król, Herbert Knaup, Nina Petri und nicht zuletzt Lars Rudolph. "Lola rennt" - ein Berlin-Film, der neue Superlative schafft und existenzielle Erfahrungen mit Sehnsucht besetzt. (Cristina Moles Kaupp, SPIEGEL ONLINE 34/1998)

"Bürgschaft" der Technogeneration
Hexen gibt's jetzt wieder. Frauen mit feuerrotem Haar, die ihre Männer retten und nebenbei den deutschen Kinofilm. Die rote Lola hext nun tatsächlich mit Technogedröhn und Lichtbildzerhacker Abakadabra-Spannung und Hokuspokus-Action herbei. Das irre rasende Roadmovie war als deutscher Beitrag ein Publikumshit des Filmfests Venedig. Schriller, mit Comics auf- gepeppter Zeitgeistartikel, im Herzschlagrhythmus wüster Paranoia keuchendes "Take the money and run". In all dem versteckt sich allerdings eine ganz altmodische Balladenbotschaft. Außer Atem (Alp)Traumfrau Franka Potente sozusagen in der "Bürgschaft" der Technogeneration. Denn sie läuft hier mit dem Schicksal um die Wette, mehrmals, mit gleichem Start und immer neuem Ziel - und der Vision, den Freund, den Lover vorm Verderben zu retten.
Für ihren Manni geht's um Geld oder Leben: Um das rennt Lola also. Und um aufzustellen: 100.000 Riesen in 20 Minuten, sonst wird Mannis Mafiaboß ungemütlich - und zwar mit dem Schlachtermesser. 100.000 Riesen in zwanzig 20 Minuten - das schafft man nur mit der Pistole. Oder mit Sex. Genau genommen benutzt Lola beides, weit vor allem aber ihr Köpfchen. Ein Szenefilm wie eine scharfe Waffe, die dreimal repetiert wird, bevor sie ihr Pulver verschossen hat. Lola nimmt drei Anläufe, bevor sie endgültig die Hürde schafft. Die dem Run zugrunde liegende Aufgabe klingt wie für einen Drehbuchwettbewerb: Laß dir was einfallen, Lola. Und sie läßt sich. Verhaftet dabei die Pupillen der Zuschauer. Klebt sie an sich fest.
Keinen Blick läßt man von ihr, den eilenden Figuren, Bildern, Situationen. Franka Potente demonstriert mit sympathischem Trotz, wie man filmische Impotenz vermeidet. Dazu Berliner Frechschnauze, die Kameratricks, die aus der Blechtrommel geliehene Splitterkreischstimme: jedes Mittel ist recht, Lolas weniger läufiges als weitläufiges Abenteuer am laufen zu halten. Insgesamt könnte die tolle Lola auch als knalligster, bösester Witz über ewig zu spät kommende Frauen durchgehen. Das wäre aber Zynismus, größer als das Leben. Und den verbraucht Regisseur Tykwer damit, seine eigene naivgläubige Definition von bedingungsloser Liebe zu verkraften. Ja, und Danke, daß Lola niemals einfällt, ein Taxi zu nehmen. (Rudi John, KURIER)

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DIE VIRTUELLEN (I VIRTUALI)

I 1996. 78 Min
Regie: Luca Mazzieri, Marco Mazzieri, Darsteller: Marco Mazzieri (Marco), Andrea I. Galeazzi (Andrea), Stefania Rocca
Kinostart: 25/9/1998

Sommer in Parma. Fast alle sind ans Meer gefahren, nur der Regisseur Marco und sein Drehbuchautor Andrea sind noch da, weil sie ein Drehbuch fertigstellen müssen. Sie haben künstlerischen Anspruch. Der Produzent aber möchte möglichst heftige Unglücksfälle haben. Schnell sind die beiden in einer Schaffenskrise und starren auf weißes Papier. Auch leidet Marco unter der Lohnarbeit und fühlt sich als Verräter seines Lehrmeisters, dem berühmten Cesare Zavattini. Auch bedrängen ihn Visionen der fleischgewordenen Drehbuchpersonen, die ein besseres Leben fordern und sich über die Schicksalsschläge beschweren. Auch die wohlgemeinten Ratschläge seiner Freunde treiben in eher noch mehr in den Wahnsinn. So landet er erstmal mit einer Nervenkrise im Krankenhaus. Ein origineller Film, wobei mir vor allem die Szenen, in denen sich Marco tanzend zu Musik abreagiert hat, gut gefielen. (Andreas Jojo Fleischmann)

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DER PFERDEFLÜSTERER (THE HORSE WHISPERER)

USA 1998. 162 Min
Regie: Robert Redford, Buch: Buch: Eric Roth, Richard LaGravenese, nach dem gleichnamigen Roman von Nicolas Evans, Musik: Thomas Newman, Kamera: Robert Richardson, Schnitt: Hank Corwin, Freeman A. Davies, Tom Rolf, Darsteller: Robert Redford (Tom Booker), Kristin Scott Thomas (Annie MacLean), Sam Neill (Robert MacLean), Scarlett Johansson (Grace MacLean), Dianne Wiest (Diane Booker)
Kinostart: 18/9/1998

Nach einem Reitunfall ist das Leben der Familie MacLean in New York nicht mehr das, was es früher war. Die 14jährige Grace ist schwer verletzt, ebenso ihr Pferd Pilgrim, das abweisend, ja bösartig reagiert. Die einzige Hoffnung für Graces Mutter Annie ist ein Pferdeflüsterer, einer jener begabten Männer, der die Fähigkeit besitzt, in die Seele der Tiere hineinzuschauen. Sie findet Tom Booker (Robert Redford) im fernen Montana. Dort angekommen verändert sich ihr Leben völlig. Das Pferd kann geheilt werden. Annie und Tom entdecken lange vergessene Emotionen, die sie zwingen, ihr Leben neu zu überdenken.
Der Roman von Nicholas Evans hatte allein in Deutschland mehr als zwei Millionen Leser (eine Zahl, die für die Kinobesucher auch nicht zu verachten ist). Neben der gut gespielten Geschichte sind die Landschaftsaufnahmen und das Gefühl für den Westen Amerikas das, was den Film zu etwas besonderem macht. "Der Pferdeflüsterer" ist mehr als eine gelungene Romanadaption - schlicht: großes Kino! (film.de)

Nach einem tragischen Reitunfall sucht eine New Yorker Redakteurin für ihre traumatisierte Tochter und deren schwerverletztes Pferd Hilfe bei einem Rancher in Montana, der zumindest im Umgang mit Tieren Wunder wirken kann. Basierend auf dem Bestsellerroman von Nicholas Evans, hat Regisseur Robert Redford die Geschichte einer Heilung von Körper und Seele zwischen Naturmystik und modernem Cattle-Western angesiedelt. Ein Film von großer Bildschönheit und mit ausgezeichneten Darstellern, der in seiner filmischen Sympathieerklärung für eine literarische Soap Opera letztlich aber in gutgemeinten Ansätzen stecken bleibt.

Schon in seinem Regie-Erstling "Eine ganz normale Familie" (fd 22 861) hatte Robert Redford ein Faible für die filmische Analyse psychischer Konflikte und deren Heilung entwickelt. "Aus der Mitte entspringt ein Fluß" (fd 30 198) war Jahre später die Verbindung dieses Themas mit einer metaphysischen Komponente, für deren bildhaften Ausdruck Redford das Einswerden des Menschen mit den (heilenden) Kräften der Natur wählte. Es ist nicht schwer zu erraten, was den sensiblen, naturverbundenen Regisseur an Nicholas Evans' Bestsellerroman "The Horse Whisperer" gereizt hat. Das Buch - eine literarische Soap Opera von ärgerlicher Voraussehbarkeit - handelt von einer traumatisierten Vierzehnjährigen und ihrem traumatisierten Pferd, gleichzeitig vom Aufeinanderprallen moderner Manager-Hektik und in sich ruhender seelischer Ausgeglichenheit. Zum ersten Mal hat Redford auch die Hauptrolle in einem selbst inszenierten Film übernommen, was allein schon ein Zeichen dafür ist, wie sehr er sich mit der Zentralfigur des "Pferdeflüsterers" identifiziert.
Ein "Pferdeflüsterer" ist ein Mann, der Pferden hilft, die ein Problem mit Menschen haben. Indirekt aber hilft er auch den Menschen, die ein Problem mit Pferden haben. Evans und Redford scheinen sich darin einig zu sein, daß es zu solch einer Konstellation nur kommen kann, wenn ein Mensch seine innere Balance und das Vertrauen in sich selbst verloren hat. Beide Frauengestalten des Films leiden unter diesem Problem. Grace, die 14jährige Tochter eines meist abwesenden Rechtsanwalts und einer betriebsamen Magazin-Redakteurin, verliert ihre beste Freundin bei einem dramatischen Reitunfall und erhält selbst das rechte Bein amputiert; Annie, ihre Mutter, verliert zum ersten Mal in ihrem Leben die Kontrolle über ihre Umwelt und muß sich das Vertrauen ihrer Tochter zurückerobern. Inmitten all der falschen Dinge, die sie tut, macht sie intuitiv aber eines richtig: Sie erkennt, daß die Heilung des schwerverletzten Pferdes und die Heilung ihrer Tochter eins sind. Wenn es einen Weg gibt, dem Pferd zu helfen, dann gibt es auch einen für ihre Tochter. Mit dem rigorosen Eifer, dem sie ihre Karriere zu verdanken hat, stürzt sie sich auf tiermedizinische Literatur und entdeckt eine Veröffentlichung über jene seltenen und begabten Naturmenschen, die in die Psyche der Tiere vorzudringen verstehen und mit unendlicher Geduld und angeborenem Geschick Wunder wirken. In Tom Booker findet sie einen solchen Mann. Weil sich Booker aber halsstarrig weigert, nach New York zu kommen, fährt Annie kurz entschlossen samt Tochter und Pferd nach Montana, wo Booker eine Ranch hat.
Redford und seinen Autoren ist es gelungen, die im Buch allzu schematische Katastrophe des Anfangs auf eine andeutende, aber dennoch dramatische Schnittfolge zu verdichten. Doch bei den Ereignissen auf der Ranch und bei der sich langsam entwickelnden Beziehung der Personen zueinander verirren sie sich in die Voraussehbarkeit konsumliterarischer Erbauungsstücke. Das widerspenstige Mädchen beginnt dem "Cowboy" zu vertrauen, so wie dieser sich schrittweise die Zuneigung des geschundenen Pferdes verschafft. Auch die geschäftstüchtige Mutter entdeckt eine weiche Seite und steckt sogar den Verlust ihres hochbezahlten Jobs weg, ohne mit der Wimper zu zucken. Im Roman endet die Begegnung der ungleichen Welten mit einer heißen Liebesbeziehung und dem völlig unüberzeugenden Tod des mythengleichen Helden. Redford erspart dem Kinopublikum in einsichtiger Selbstbescheidenheit beides. Was jedoch nicht bedeutet, daß er die klischeehafte Geschichte deshalb besser in den Griff bekommen hätte. Er ist vielmehr dem Ehrgeiz erlegen, die unüberhörbare Botschaft des Films mit den Genremustern des klassischen Cattle-Westerns zu verbinden. So ufert die bekenntnishafte Story einer Heilung von Geist und Körper in eine - zugegebenermaßen bildwirksame - Bewunderung für die Ursprünglichkeit und Unverdorbenheit des Landes und seiner Bewohner aus. Was in "Aus der Mitte entspringt ein Fluß" im poetischen Anspruch einer hochrangigen Vorlage grundgelegt war und in engem Bezug zum Verhalten der Personen stand, entgleitet Redford diesmal in ein stark repetitives Breitwandgemälde reichlich naiven Zuschnitts.
Je länger der Film währt, um so bedauernder drängt sich die Einsicht auf, daß der Idealist Redford in der gefühlsüberfrachteten Geschichte mehr gesehen hat, als sie hergeben kann. In seiner Konzentration auf das Handlungszentrum Montana begeht er zudem den Fehler, sich nicht genügend mit der Welt zu beschäftigen, der die heilungsbedürftige Mutter und Tochter entstammen. Der Roman hingegen widmet - trotz all seiner sonstigen Unzulänglichkeiten - den motivierenden Lebensumständen der Frauen breiten Raum und begründet damit eine besser nachvollziehbare Basis für ihre Verhaltensweisen. Die Bürde tragen nun die Schauspieler, insbesondere die Darstellerin der Mutter. Kristin Scott Thomas geht mit dem wenigen Rüstzeug, das ihr das Drehbuch an die Hand gibt, bewundernswert um. Fast gelingt es ihr, allein durch ihre Reaktionen auszudrücken, was der Figur an konkretem Hintergrund mangelt. Daß die wohltuend in Andeutungen belassene Liebesbeziehung so wenig überzeugend gerät, hat weniger mit ihr als mit Redford zu tun, der sich nicht entscheiden kann, ob Tom Booker nun ein moderner Held der Prärie oder ein verkappter Tiefenpsychologe sein soll. Am Ende bleibt er einsam in der Weite seiner geliebten Berge und Täler zurück. Das kommt davon, wenn man den "Pferdeflüsterer" mit "Mein großer Freund Shane" verwechselt. (Franz Everschor, film-dienst)

Robert Redford als Regisseur und Titelheld von "Der Pferdeflüsterer".
Montana ist ein weites Land. Landschaften und Gesichter fernab von Marlboro Country: Aus dem Gefühlstaumel des Bestsellers "Der Pferdeflüsterer" generiert US-Star Robert Redford ein unpathetisches Melodram, einen langsamen Film über die Aufmerksamkeit. Cornelia Niedermeier über sehenswerten Hochglanz aus Hollywood.
Montana im Nordwesten der USA ist dünn besiedelt. Straßenkreuzungen liegen als einsame Schnittpunkte in der Endlosigkeit der Landschaft - um so ärgerlicher, wenn keinerlei Wegweiser die Richtungen bezeichnet. So mag es zumindest dem ortsfremden Großstädter erscheinen. Der Einheimische im Pub sieht das anders: "Hinweise gibt es genug. Die stehen nur nicht auf Schildern."
Der Pferdeflüsterer, Robert Redfords fünfter Film als Regisseur und Produzent, begibt sich auf die Suche nach solchen Hinweisen. Eines seiner zentralen Motive ist die Aufmerksamkeit. Und er verfolgt es bereits in seiner formalen Komposition. Der Pferdeflüsterer ist ein langsamer Film. Er nimmt sich Zeit für das Studium seiner Figuren und der Landschaften, in welchen sie sich bewegen. Als Vorlage diente Redford der gleichnamige Bestseller des Engländers Nicholas Evans. Der Roman enthält so ziemlich alles, was Hollywoods Herzen auf Trab bringt: Tod, Verzweiflung, beglückende Naturerlebnisse und große Romantik: Die New Yorker Karriere-Journalistin Annie Mac-Lean wird durch einen Reitunfall ihrer einzigen Tochter Grace aus der Bahn geworfen.
Grace, die bei dem Unfall Freundin und Unterschenkel verloren hat, taucht ab in die Welt ihres Walkmans. Um ihr zu helfen, begibt Annie sich mit Grace und dem gleichfalls traumatisierten Pferd Pilgrim auf die Reise in den fernen Westen. Dort lebt Tom Booker, der Pferdeflüsterer, dem der Ruf vorauseilt, nicht nur Pferdeseelen zu heilen...
Kurz: eine Story, deren filmische Umsetzung in pastose Breitwand-Lügen ebenso wenig aufhaltbar scheint wie der Riesenlaster, der den Reiterinnen zu Beginn des Buches auf eisglatter Fahrbahn entgegendonnert. Offenen Auges in die Katastrophe. Dennoch gelingt es Redford, das Steuer in eine andere Richtung zu lenken. Schicht um Schicht trägt er den Hollywood-Klebstoff ab. Das Drehbuch von Oscar-Preisträger Eric Roth (Forrest Gump) und Richard LaGravenese verzichtet auf das genreübliche Pathos und verweist die zentrale Lovestory des Buches auf einen Nebenschauplatz. Eine kluge Dialogregie sorgt für Wortwechsel von trockener Sprödigkeit.
Die Kamera verweigert ausladende Schwenks in sonnig vergoldete Wiesen-Weiten und idyllische Marlboro-Folklore, ruht auf unspektakulären Ausblicken von herber Naturschönheit. Die Musik schweigt über lange Passagen, beläßt der Beobachtung ihre Stille. Und provoziert die Handlung dennoch die große Emotion, in der allmählichen Annäherung von Mensch und Tier, von Mensch und Mensch, kappt sie ein schneller Schnitt.
Robert Redford ist ein moralischer Regisseur. Sein Interesse gilt wie in allen seinen bisherigen Filmen - von Ordinary People bis herauf zu Quiz Show, wo ebenfalls beschädigte Familien und Mythen thematisiert wurden - den ernsthaften Konflikten, die er unter den Klischees des Stoffes hervorholt: in einem sehr amerikanischen Glauben an die traditionellen Werte der Gesellschaft fragt er nach den Tugenden der Aufmerksamkeit, des Vertrauens.
Weil er aber zudem ein höflicher Regisseur ist, ist er moralisch, ohne zu moralisieren. Er begnügt sich damit, zu beobachten. Und setzt dabei als altmodischer Regisseur und erfahrener Genre-Schauspieler weniger auf technischen Aufwand als auf die Überzeugungskraft seiner Darsteller.
Nüchterne Kamerablicke folgen Kristin Scott Thomas als Annie MacLean in den Westen. Dianne Wiest als unbeschönigte Farmerin, die zwölfjährige Scarlett Johannson, Redford selbst - als Tom Booker erstmals sein eigener Hauptdarsteller: Sie führen Schauspiel vor als große Kunst der Spurensuche.
Wie sagte der Mann aus Montana? Hinweise gibt es genug. Robert Redford findet sie in den Gesichtern. (Cornelia Niedermeier, DER STANDARD, 24/9/1998)

Förster vom Silberwald als Marlboro-Cowboy. "Der Pferdeflüsterer": Rancher Robert Redford heilt die angeknacksten Seelen von Großstädtern und Pferden - in einer New-Age-Variante des US-Heimatfilms.
Es war einmal eine Frau, die wohnte in der großen Stadt, und ihr Leben war voller Hektik. Eines Tages fuhr sie aufs Land und lernte dort einen Mann kennen, der in völligem Einklang mit sich selbst und der Natur lebte. Der Mann macht sie mit existentieller Naturkunde vertraut, worauf sie sich in ihn verliebte, ihr eigenes ruhendes Zentrum entdeckte und nie mehr in die Stadt, zu ihrem Mann, zurückkehren wollte.
Die Frau hieß Liesl, und ihr Naturlehrer und Geliebter war der "Förster vom Silberwald": Zusammen bildeten sie das Traumpaar des 1954 in Österreichs Bergwelt gedrehten Films Echo der Berge, den im deutschsprachigen Raum allein 22 Millionen Besucher gesehen haben.
Der Pferdeflüsterer, ein 1998 in New York und Montana gedrehter Film, erzählt im wesentlichen die gleiche Geschichte: ein Film über die Seelenheilkraft der Natur und über die Faszination jener Menschen, die die Sprache der Natur verstehen und anderen mitzuteilen vermögen. Der von Regisseur Robert Redford selbst dargestellte Star, Tom Booker, ist zwar kein Förster, aber einer, der auch mit der Natur verwachsen ist. Seine Spezialität ist das "Pferdeflüstern", das verhaltensgestörte Pferde durch treuherzigen Blickkontakt und gutes Zureden wieder normal werden läßt.
Die Frau wiederum, der durch Booker eine ähnliche Kur widerfährt, ist nicht, wie die Liesl in Echo der Berge, moderne Künstlerin, aber eine von den offensichtlichen Schäden der modernen Zivilisation ebenfalls Gezeichnete: Annie MacLean (Kristin Scott Thomas) ist Chefredakteurin einer prosperierenden New Yorker Zeitschrift, ein produktives Nervenbündel mit beruflichem Erfolg, emotionellen Defiziten und familiären Dauerkrisen. Als ihre 14jährige Tochter bei einem schweren Reitunfall gravierende körperliche und psychische Verletzungen erleidet, kontaktiert Annie den geheimnisvollen Pferdeflüsterer - in der Hoffnung, daß eine Heilung des beim Unfall schwer traumatisierten Gauls auch dem Befinden ihrer pferdeliebenden Tochter helfe.
Ehe Mutter, Tochter und Pferd ihre Reise zum Wunderheiler antreten, inszeniert Redford noch einigermaßen kühl: In lapidar skizzierten Szenen vermittelt er pointiert den bedrückenden Zustand der Familie MacLean, die in der Folge des Unfalls endgültig zu zerbrechen droht. Erst als die Reise gen Westen beginnt, entfaltet sich das zuvor beengte Sichtfeld im vollen CinemaScope-Format: Eine plumpere Metapher für den (nun einsetzenden) Verlust der Scheuklappen ist nicht leicht denkbar. Ab da bleibt der Film plump: Redford bedient sich einer Art Postkartenästhetik - von seinem ersten Auftritt als Pferdeflüsterer an, der in Farb- und Lichtgebung allzu sehr an den Marlboro-Cowboy erinnert, bis hin zu der - mit Hilfe erhabener Landschaftspanoramen "erotisierten" Annäherung zwischen Tom und Annie.
Spätestens hier wird nicht nur die geistige, sondern auch die ästhetische Verwandschaft des Pferdeflüsterers mit seiner Schmuddelvariante, unserem guten alten Heimatfilm, überdeutlich: Außer der brachial postulierten Gleichsetzung von Natur und Eros (der Re-Naturalisierung von Gefühlen) gibt es keinerlei Bemühungen, die gegenseitige Attraktion der fahrigen Städterin und des unterkühlten Naturburschen dramaturgisch oder inszenatorisch zu motivieren. Aber letztlich geht es in diesem Film um die Liebe gar nicht so sehr. Vielmehr wird hier - hemmungslos direkt - ein altes Heilverfahren für Wohlstands- und Leistungsgesellschaftskrüppel angepriesen: das Wachbeten der Gefühle in einer mit künstlichem Stallgeruch deodorierten Naturlandschaft. (Robert Buchschwenter, DIE PRESSE, 26/9/1998)

Nostalgische Pferde-Oper. Robert Redfords heile Welt in «The Horse Whisperer»
Wenn man nach geraumer Zeit im Kino akzeptiert hat, dass es sich auf der Leinwand tatsächlich nicht um die ungebührlich in die Länge gezogene Zigarettenwerbung mit den vielen schönen Pferden handelt, sondern um den Hauptfilm, weiss man nicht, worüber man sich mehr wundern soll: dass Robert Redford, Regisseur eines solch hervorragenden Films wie «Quiz Show», nun auch für diesen eher simplen «The Horse Whisperer» verantwortlich zeichnet oder dass in den Vereinigten Staaten von heute die Sehnsucht nach einfachen Antworten, nach der heilen Welt der amerikanischen Mythen offenbar so stark ist, dass der «Pferdeflüsterer» gar mit Erfolg läuft. Es passt ins Bild, wenn Computer-Milliardär Bill Gates Anfang Mai für ein Gemälde von Winslow Homer den Rekordpreis von 30 Millionen Dollar zahlte und damit die Nachfrage nach ländlich-idyllischer Kunst aus der Pionierzeit der USA in die Höhe trieb.
«The Horse Whisperer» war zuerst die Erfolgsgeschichte eines Romans von Nicholas Evans: zwar keines literarischen Ereignisses, aber einer gut konstruierten und mit viel psychologischem Gespür für Mensch und Tier geschriebenen Geschichte, die in Europa vor allem auf den Reiterhöfen von Hand zu Hand ging. Ein New Yorker Teenager, im besten pferdevernarrten Alter, hat in der Nähe des elterlichen Ferienhauses in Vermont einen schrecklichen Reitunfall. Beim Zusammenstoss mit einem Lastwagen stirbt die Freundin, das Mädchen selbst verliert ein Bein, und das Pferd ist so schwer verletzt und traumatisiert, dass alle Fachleute zum Gnadentod raten.
Doch die Mutter (Kristin Scott Thomas), innerlich heimatlose Diplomatentochter und New Yorker Karrierefrau, verknüpft instinktiv die Genesungschancen des Pferdes mit denen ihrer Tochter; sie macht sich, mit dem nahezu dämonisch aggressiv gewordenen Pferd im Anhänger und dem versteinerten Mädchen neben sich im Auto, auf den Weg quer durch die USA nach Montana zur Ranch des Pferdepädagogen Tom Booker (Robert Redford). Wie dieser in mühevoller Kleinarbeit das Vertrauen des Pferdes wiederherstellt und wie gleichzeitig Mutter und Tochter auf gar nicht unkomplizierte Weise wieder zueinander finden, ist geschickt miteinander verwoben.
Robert Redford hat die Rechte vom britischen Fernsehproduzenten Nick Evans bereits 1994 für knapp zwei Millionen Dollar gekauft. Offenbar ist dem selbst auf einer Ranch in Utah lebenden Star das Thema nahegegangen. Und so lässt er seiner Liebe zum unverdorbenen Landleben auch hemmungslos ihren Lauf. Den verkorksten Städtern werden heile Menschen und Landschaften entgegengesetzt, wo es selbstgemachten Kartoffelstock gibt, wenn die Männer vom Reparieren der Zäune – natürlich zu Pferde – zurückkehren. Kein Plasticeimer und keine Melkmaschine stören das Bild. Die Statisten sehen alle aus, wie wenn sie sich gerade in Joe's Westernshop neu eingekleidet hätten, und die Landschaftsbilder sind von der Art, wie man sie gerne in Kalendern anschaut.
Und gäbe es einen so unverschämt männlichen und souveränen Pferdeflüsterer im wirklichen Leben, würden wir Power-Frauen im schweizerischen Kleinformat ihm sicher auch so schnell erliegen wie schliesslich Kristin Scott Thomas. Allerdings würden wir uns schon wünschen, dass es zu etwas mehr als dem unschuldigen Kuss kommt, über den die erotische Beziehung im Film nicht hinausgeht. Aber selbst hartgesottenen Romantikerinnen wird es spätestens dann zuviel, wenn am abendlichen Lagerfeuer auch noch ein Cowboy Wildwest-Schnulzen zur Gitarre singt. Zum dramatischen Höhepunkt, als die Frau aus New York vom Mann aus Montana vor die Entscheidung gestellt wird, bei ihm zu bleiben oder zum über alle Massen verständigen Ehemann zurückzukehren, antwortet die durch viele Psychotherapien gewitzte Geliebte, dass das alles doch nicht so einfach sei. «It is that easy», sagt Tom Booker alias Robert Redford. Genauso ist leider auch sein Film. (Ruth Spitzenpfeil, NZZ, Sept 1998>

Die Sicht der Pferde(flüsterer)
Nicht einmal für die Pferde ist das Landleben so easy, wie Robert Redford es in «The Horse Whisperer» schildert. Für Pferdenarren die eigentliche Enttäuschung seiner Adaption von Nicholas Evans' Bestseller: Die im Roman genau beobachtete Heilung der «seelischen» Verletzungen des Pferdes wird im Film schon beinahe fahrlässig abgehandelt. Die wirklichen «Pferdeflüsterer» – Spezialisten wie etwa der in der Schweiz häufig tätige Pat Parelli –, die Verständigungsproblemen zwischen Mensch und Pferd auf natürliche Weise beizukommen versuchen durch die Arbeit mit dem Herdeninstinkt des Tieres, müssen sich verhöhnt vorkommen. Im Film besteht ihre Tätigkeit anscheinend darin, vor dem Pferd in die Hocke zu gehen und es lange genug mit möglichst blauen Augen anzuschauen.
Stellvertretend für seine Kollegen hat sich inzwischen einer der bekanntesten amerikanischen Pferdepädagogen, John Lyons, via Internet zu Wort gemeldet.* Auf kluge Art hat er genau jene «gefährlichen Botschaften» des Films herausgearbeitet, die bei jedem Besucher, der auch nur sporadisch mit Pferden zu tun hat, ein skeptisches Gefühl hinterlassen. Besonders stossend etwa ist der erste Ritt des Mädchens auf seinem angeblich geheilten Pferd. Das zwar wieder zutraulich gewordene Tier scheut (verständlicherweise), als nach Monaten wieder jemand in den Sattel steigen will. Mit Hilfe einer Schlinge um Vorderfuss und Körper zwingt Tom Booker das Pferd in die Knie, legt es flach auf den Boden und lässt das verängstigte Mädchen aufsteigen. Eine solche Demutsgeste ist aus der klassischen Dressur als «Kompliment» bekannt – aber nicht als Mittel, um das Vertrauen zwischen Pferd und Reiterin auf Dauer herzustellen, geschweige denn die zur Bereitung notwendigen Fertigkeiten wieder heranzubilden. Im Film ist für den Pferdeflüsterer der Fall damit erledigt. Dass Annie nach dieser Vorstellung die Flucht Richtung New York ergreift, wird ihr niemand verübeln. (spi. NZZ, 1998)
* www.equisearch.com/horsewhisperer/story16

Schau mir in die Augen, Kleines: Indem er sie nur lange genug anstarrt, erobert Robert Redford als politisch korrekter Marlboro-Mann die Herzen selbstsüchtiger Frauen und gestörter Pferde. Immer mit dabei ist die schier endlose Weite Montanas - manifestiert in nicht minder endlosen Aufnahmen der prächtigen Naturkulisse, deren Langatmigkeit mit dazu beiträgt, daß "Der Pferdeflüsterer" trotz 168 Minuten Spieldauer verblüffend wenig zu sagen hat.
Eigentlich geht es in der Verfilmung von Nicholas Evans' Erfolgsroman um eine Love Story im Spannungsfeld zwischen Stadt- und Landleben, um den Konflikt zwischen Verantwortung und Leidenschaft. Im Kitsch der Weichzeichner und Verlaufsfilter aber bleiben diese Themen ebenso auf der Strecke wie die nachvollziehbare Motivation der Charaktere - so als hätte die Chemie zwischen den beiden Hauptdarstellern Thomas und Redford bei den Dreharbeiten nicht gestimmt.
Zurück zur Natur: Mit symbolschwangeren Bildern will Regisseur und Produzent Redford abgegriffene Klischees wie das des wortkargen Cowboys in mythische Archetypen verwandeln - doch das Ergebnis ist nur ein oberflächlich-sentimentaler Lobgesang auf die heilsame Kraft des scheinbar einfachen Farmlebens.
Und Redford, der Schauspieler? Der setzt sich mit erstaunlicher Eitelkeit als legendäre Lichtgestalt in Szene, um deren Zentrum die anderen Figuren nur deshalb kreisen, weil das Drehbuch es verlangt.
Da hätte es sogar Mr. Ed die Sprache verschlagen...
Fazit: Frauen, Pferde und Robert Redford als politisch korrekter Marlboro-Mann, der Kitsch mit Romantik verwechselt (focus)

Was Männer lieben und Frauen guttut. Robert Redford setzt sich und seine Lebensweisheiten diszipliniert und mit einem kleinen Fragezeichen in Szene.
Mädchen lieben Pferde, das wissen wir noch vom Immenhof. Männer lieben die Freiheit, das Abenteuer und Speckbohnen überm Lagerfeuer. Das wußten wir schon immer. Was Frauen lieben, wissen wir auch, aber seit uns die Frauenbewegung den Blick auf die einzig gottgefällige Ordnung verstellt hat, darf man es nicht mehr laut sagen. Robert Redford traut sich jetzt zumindest im Flüsterton wieder daran zu erinnern.
Annie MacLean (Kristin Scott Thomas), gestreßte Chefredakteurin eines New Yorker Lifestylemagazins, ist eine dieser emanzipationsverwirrten Seelen, die erst durch einen Schicksalsschlag ihrer natürlichen Bestimmung zugeführt werden muß. Ihrer 14jährigen Tochter Grace (Scarlett Johansson) wird nach einem schweren Reitunfall ein Bein amputiert. Vor dem körperlichen und seelischen Leid des Kindes lassen sich auch die denaturierten Familienverhältnisse nicht länger kaschieren. Der rechtschaffene Vater (Sam Neill) hat vor dem Karrierismus seiner Frau längst kapituliert. Und die Tochter fühlte sich schon immer nur von ihrem Pferd verstanden. Aber auch das ist seit dem Unfall nicht mehr wiederzuerkennen. Der gutmütige Klepper hat sich in eine unnahbare Bestie gewandelt. Annie, gewohnt, das Schicksal in die Hand zu nehmen, verordnet der Familie eine buchstäbliche Roßkur. Mit dem verbliebenen Rest an mütterlichem Instinkt greift sie das Übel an der Wurzel. Eine Heilung des Kindes gelingt nur über die Therapie des Pferdes. So fährt sie mit Roß und Reiterin ins ferne Montana, wo der sagenumwobene Tom Booker wahre Wunderdinge an geschundenen Pferdeseelen vollbringen soll.
Erst jetzt greift Regisseur Robert Redford auch als Hauptdarsteller in das Geschehen ein. Entgegen des oft erhobenen Vorwurfs eitler Selbstdarstellung weiß er sich durchaus diszipliniert in Szene zu setzen. Redford gibt keinen mythischen Wunderheiler. Die Rekonvaleszens des Pferdes verläuft unspektakulär, und eigentlich sind es nur Ruhe und Geduld, mit der der Pferdeflüsterer die Heilung einleitet. Booker setzt auf Zeit, gerade die ist dem hektischen Städter so knapp und kostbar ist.
Man kann dem Film sicher nicht vorhalten, daß uns die Weiten Montanas penetrant an Marlboro-Country erinnern. Es stört nicht die optische, sondern die geistige Nähe zur schwülstigen Kuhtreiber-Romantik, die bis in Thomas Newmans Soundtrack hineinreicht. Der ruhige Puls der ländlichen Idylle zwingt auch die New Yorker Karrieristin bald zur inneren Einkehr und schnell keimt in ihr die Gewißheit, daß ihr bislang so selbstentfremdetes Leben an der Seite dieses in sich ruhenden Naturburschen noch einen ursprünglichen Sinn finden könnte.
Redford schien um die ideologische Zwiespältigkeit seiner Natureloge zu wissen, weshalb er das melodramatische Finale von Nicholas Evans' Romanvorlage drastisch verkürzte, um so seine in 160 Minuten entfalteten Lebensweisheiten noch mit einem kleinen verschämten Fragezeichen zu versehen. Er hat einen wunderschönen Film gemacht, das kann man anerkennen. Aber eigentlich wird uns hier ganz schön 'was vom Pferd erzählt. (Manfred Müller, SPIEGEL ONLINE 39/1998)

"Ich helfe keinen Menschen mit Pferdeproblemen", sagt der Pferdeflüsterer. Er hält es umgekehrt. Er steht Pferden mit Menschenproblemen bei. Pilgrim, ein Bild von einem Roß, hat ein gewaltiges Menschenproblem. Bei einem fürchterlichen Unfall verlor seine jugendliche Reiterin ein Bein und er selbst fast das Leben. Seither wurde Pilgrim zur Bestie. Der Pferdeflüsterer soll ihn heilen - und die Seelen seiner Menschen auch. Robert Redfords Film erzählt von Verwundung und Gesundung. Natürlich geht's um mehr als den Zusammenprall eines Pferdes mit einem Lastzug (und allen entsetzlichen Folgen).
Hier prallen, in einem heftigen Generationen-Konflikt, Tochter und Mutter aufeinander. Die ältere, eine Power-Frau, muß nach dem Unfall akzeptieren, daß es Grenzen der Machbarkeit gibt. Die jüngere muß sich an ein Leben als Behinderte gewöhnen. Nach einer Odyssee durch halb Amerika begegnen Mutter, Tochter und Roß im weiten Westen von Montana dem Pferdeflüsterer. Auch dieses Treffen hat etwas von einem Zusammenstoß. Die nervösen Stadt-Frauen und der schweigsame, souveräne Mann vom Lande könnten gegensätzlicher kaum sein. Rasch werden Brücken geschlagen. Die innere Ruhe von Tom Booker, dem Pferdeflüsterer, überträgt sich auf Tier und Mensch. Doch im zärtlichsten und zugleich heftigsten Crash der Story entdecken Tom und Annie, die New Yorkerin, ihre Liebe zueinander. Vor der Konsequenz, diese auszuleben, schrecken sie zurück.
Nicholas Evans brachte die Liebesgeschichte im Roman zu einem tragischen Finale. Robert Redford läßt die Verfilmung friedvoll enden. Doch auch, wenn das einen gewissen Substanzverlust bedeutet, ist "Der Pferdeflüsterer" ein großer Film. Ein berauschend schön fotografiertes Epos über Katastrophen und deren Bewältigung. (Gunther Baumann, KURIER)

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R.I.P. - REST IN PIECES

A 1997
Regie: Robert-Adrian Pejo, Buch: Walt Michelson, Musik: Hasil Adkins, Charlie Feathers, Link Wray, Wanda Jackson, Kamera: Wolfgang Lehner, Schnitt: Robert-Adrian Pejo, Darsteller: Joe Coleman, Jim Jarmusch, Hasil Adkins
Kinostart: 25/9/1998

Joe Coleman ist Maler und Peformancekünstler, vor allem aber ist der New Yorker ein 'agent provocateur'. Colemans liebste Motive sind Serial Killer wie Ed Gein, deren Porträts er mit so haarfeinen Pinselstrichen zeichnet, daß er für seine Arbeit eine Lupe braucht. Unterlegt mit einem harten Soundtrack von Psychobilly-Legende Hasil Adkins zeichnet der Film das Bild eines Künstlers, der sich den Freaks verschrieben hat - und offensichtlich selbst einer sein möchte. (Annette Kilzer, tip, 25/97)

"Ich will eigentlich nur mich selbst schockieren". Joe Coleman, New Yorker Maler, steht im Mittelpunkt eines feinen Dokumentarfilms aus Österreich, genannt "R.I.P. - Rest in Pieces", der nun seinen (viel zu späten) Kinostart erlebt. Interview mit einem Schockkünstler, Selbstdarsteller und Sammler rarer Schauerlichkeiten.
Joe Colemans Wohnung, in einer ruhigen, fast kleinstädtisch anmutenden Straße in Brooklyn gelegen, ist ein wunderlicher Ort. "Welcome to the Odditorium", sagt er freundlich an der Tür: willkommen im Land der Seltsamkeiten. Colemans Sammlung hat tatsächlich schöne, seltene Stücke zu bieten: einen hinter Glas grinsenden Embryo zum Beispiel, den Daddy zärtlich "Junior" nennt, aber auch naive Malereien inhaftierter Serienkiller, einen alten exotischen Sarg und, zum Beispiel, konservierte Körperteile krimineller Bürger aus dem vorigen Jahrhundert.
Man sieht das gleich: Der Mann interessiert sich für die verdrängten - wenn man will: die extremen - Details seiner Kultur. Nur eine andere Form, dieses Interesse zu zeigen, hat er auch als Bildender Künstler gefunden, in seinen immens detailreichen Gemälden, die er mit Speziallupe und extrafeinen Pinseln anfertigt. Seine Bilder, die er übrigens bestens verkauft (unter anderen an Iggy Pop, Johnny Depp, H. R. Giger und Leo Di Caprio), sind meist Porträts (etwa: Jayne Mansfield, Hank Williams, sr., oder Charles Manson), in denen sich aber auf vielen, durchaus erzählerischen Ebenen auch die history der Porträtierten eingeschrieben hat.
Robert-Adrian Pejo hat vor gut zwei Jahren, mit österreichischem Geld und Team (an der Kamera, erfinderisch: Wolfgang Lehner), einen Dokumentarfilm über Coleman und dessen komplexe Psyche gedreht: R.I.P. - Rest in Pieces, den Versuch eines Porträts eines Porträtisten, aber auch die Reflexion einer bestimmten Nuance amerikanischer Kultur - vom eigenwilligen Witz des Coleman-Intimus Jim Jarmusch bis zum hard country eines einsamen Musikers namens Hasil Adkins.
Die Kunst Joe Colemans dringt, einer Kamerafahrt gar nicht unähnlich, stets tief ins Innere seiner Themen und Personen vor: "Der Wert des Details in meiner Arbeit", sagt Coleman im Gespräch mit der "Presse", "liegt in der Suche nach immer mehr Information. Ich will die Dinge klären, die in mir und in der Welt chaotisch aussehen. In meinen Bildern versuche ich das Unfaßbare einzugrenzen, buchstäblich: einzurahmen. Die mittelalterliche Kunst ist mir da ein wesentliches Vorbild. Kleidungsdetails, wörtliche Zitate, Orte, all das kann - zusammen genommen - jemanden sehr genau charakterisieren. Es geht mir nicht darum, ein hübsches Bild anzufertigen: Es geht um Klärung, um Exorzismus."
In Colemans Arbeit wird Information systematisch komprimiert: Malen ist bei ihm Anfüll-, zugleich Reduktionsarbeit. "Ja, das ist dieser mörderische Appetit: Es ist wohl so, daß ich nie genug kriegen kann, ich brauche immer noch mehr Information in den Oberflächen meiner Bilder. Und ich halte mich täglich stundenlang in dieser abgeschlossenen, winzigen Welt auf, die jedes meiner Bilder darstellt. Da ist Hunger unausweichlich. Aber nicht eins meiner Bilder hat mich je zufrieden gestellt. Gut so: Es wäre der Tod, zufrieden zu sein."
Coleman hat man einen "moralischen Künstler" genannt. "Der Begriff stört mich nicht", sagt Coleman, "aber ich empfinde mich nicht als jemanden, der eine Mission zu erfüllen hat. Natürlich bin ich ständig mit mir selbst konfrontiert, mit starken Schuldgefühlen, und in meinen Bildern werde ich auch mit mir selbst fertig. Das ist Religion und Psychoanalyse zugleich."
Mit der Kunstszene hat Coleman eine komplizierte Beziehung: Er gibt seine Bilder nicht gern aus der Hand (außer an Käufer, die er aber persönlich kennen muß). Galeristen vertraut er nicht und an Kunststar-Hysterie glaubt er sowieso nicht. Seine explosiven frühen Performances (immer am eigenen Leib) haben Coleman das Label shock artist eingebracht. Glücklich ist er damit nicht: "Ich bin viel eher interessiert daran, mich zu schockieren als Sie. An solchen Schocks spüre ich, daß ich noch am Leben bin. Das bringt wenigstens was. Der Begriff shock art führt einfach nirgendwo hin."
Unter den Malern dieses Jahrhunderts liebt er Dix, Grosz, die Neue Sachlichkeit, unter den Filmemachern vor allem Erich von Stroheim und Tod Browning (Freaks) , dessen Körper- und Behinderungsstudien ihn stimulieren. "Das Kino fasziniert mich, weil ich das Geschichtenerzählen mit ihm teile. Ich kann Filme nur ertragen, wenn sie radikal persönlich sind. Es geht mir um Identifikation, vor allem mit jenen Menschen im Kinogeschäft, die sich gezwungen gesehen haben, bestimmte Filme zu machen. Jayne Mansfield ist da auch ein gutes Beispiel: Sie ist in ihren Filmen immer ein Fremdkörper, dieser ganz eigene Planet, ein Alien. Und das ist spannend." (Stefan Grissemann, DIE PRESSE, 26/9/1998)

"Jede Gesellschaft kriegt die Verbrecher, die sie verdient," meint Joe Coleman, Maler und Ex-Performance-Künstler aus New York. Er erzählte das dem Österreicher Robert-Adrian Pejo, weil dieser eine amüsante Doku über Coleman inszenierte. Das heißt: Inszeniert hat sich Coleman selbst. Pejo fügte lediglich stimmige Bildsprache bei. Berüchtigt für Übungen wie Mäusekopf-Abbeißen, macht sich Coleman langsam einen Namen als manisch-malender Anti-Christ, dessen Bilder Promis wie Iggy Pop sammeln. (Heike Obermeier, KURIER)

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LOST IN SPACE (LOST IN SPACE)

USA 1998. 122 Min
Regie: Stephen Hopkins, Buch: Akiva Goldsman, Musik: Bruce Broughton, Kamera: Peter Levy, Schnitt: Ray Lovejoy, Darsteller: Gary Oldman (Dr. Zachary Smith), William Hurt (Professor John Robinson), Matt LeBlanc (Major Don West), Mimi Rogers (Maureen Robinson), Heather Graham (Judy Robinson)
Kinostart: 25/9/1998

2058: Alle Menschen leben in Gleichheit ohne Rassenschranken nebeneinander. Doch dies hat einen hohen Preis: Die Umweltressourcen sind nahezu am Ende. Nun soll Professor John Robinson und seine Familie mit dem Raumschiff Jupiter 2 zum Planeten Alpha Prime aufbrechen. Dort soll er ein Hypergate errichten, mit dessen Hilfe der Weltraum kolonialisiert werden kann. Diesem Plan stellt sich die terroristische Vereinigung Global Sedition entgegen. Durch ihr Tun wird das Raumschiff in die Weiten des All geschleudert und kommt erst in fernen, unbekannten Galaxien ohne Kontakt zur Erde wieder unter Kontrolle. Dort haben sie weitere spannende Abenteuer und Gefahren zu meistern.
"Lost in Space" ist eine weitere Adaption einer Fernsehserie der 60er Jahre (wie "Batman" oder "AkteX"). Dabei werden die spannenden Geschichten mit modernsten Special Effects sowie Ton- und Filmtechniken versehen. Der Stephen Hopkins-Film kann unter diesen Gesichtspunkten als perfekt gelungen angesehen werden. Eine große anregende Handlung sollte man nicht erwarten. (film.de)
Weil die Rohstoff-Reserven der Erde im Jahr 2058 nahezu erschöpft sind, bricht die fünfköpfige Familie eines Physik-Professors zu einer zehnjährigen Reise ins All auf, um die Übersiedelung der Menschheit in neue Welten vorzubereiten. Durch die Machenschaften eines Terroristen gerät das Raumschiff in eine fremde Galaxie, wo die Familie allerlei Abenteuer erlebt. Nach dem Vorbild einer 60er-Jahre-Fernsehserie entstandener Film, der eindrucksvolle Schauplätze und zahlreiche Spezialeffekte präsentiert, inhaltlich aber nicht mehr zu bieten hat als eine konfuse Mixtur diverser Science-Fiction-Motive. Zudem bleiben die Charaktere blaß, so daß die Familie niemals als organische Einheit überzeugt und vielmehr überkommene soziale Strukturen offenbart.
"Die Schweizer Familie Robinson" im Weltraum - so läßt sich das Konzept der Fernsehserie "Lost in Space" zusammenfassen, die in den USA von 1965 bis 1968 ausgestrahlt wurde. Nach dem Vorbild der ebenfalls in Serienformat entwickelten (und auch hierzulande ausgestrahlten) Robinsonade um eine Familie aus der Schweiz, die auf einer einsamen Insel strandet, entstand damals eine Science-Fiction-Version des modifizierten Dafoe-Stoffes. Allerdings dürfen sich die Weltraum-Robinsons nicht unter tropischer Sonne häuslich einrichten, sondern geraten mit ihrem Raumschiff in eine fremde Galaxie. Eigentlich befanden sie sich auf einer selbstlosen, auf zehn Jahre angelegten Reise zu einem Planeten, von dem aus der Sprung der Menschheit zu neuen Lebensräumen vorbereitet werden soll, da die irdischen Rohstoffe im Jahr 2058 nahezu aufgebraucht sind. Nun beschränkt sich der Lebensraum der Familie auf das Raumschiff, abgesehen von einigen Ausflügen auf Planeten und fremde Schiffe - eine fliegende und ziemlich unwirtliche Insel.
Spezialeffekte plus Disney-Familie plus konfuser Science-Fiction-Motivmix, so läßt sich das Ergebnis des Versuchs zusammenfassen, aus der 60er-Jahre-Fernsehserie ein zeitgenössisches, massen- und familientaugliches Kinostück zu formen. Die Ausstattung vereint gigantische Sets mit zahllosen computergenerierten Ansichten, Kreaturen und Kostümen. Produktionsdesigner Norman Garwood, vormals zuständig für "Time Bandits" (fd 23 341) und "Brazil" (fd 25 074), scheint sich an Colanis oder Hundertwassers Vorstellungen einer Welt ohne Geraden orientiert zu haben, fügt aber die Details, von den Schlafzellen über die Kommandobrücke bis zur irdischen Basisstation, immerhin zu einem stimmigen Ganzen. Etwas, das man von Regie und Drehbuch keineswegs behaupten kann. Da wird wieder einmal "Alien" (fd 22 226) zitiert, wenn die Mannschaft ein Raumschiff besteigt, das mit Monstern bevölkert ist, die sich dann auch noch an das fliehende Schiff der Helden klammern. Um den Himmel aber als nicht allzu böse zu zeichnen, taucht im selben Moment ein extrem zutrauliches, großäugiges Alien-Äffchen wie aus George Lucas' Plüschtier-Universum auf. Da wird ein guter Roboter zu einem bösen Roboter und zurück, ein fast emblematisches Science-Fiction-Motiv. Schuld daran sowie am fatalen Kurswechsel des Schiffes, ist Gary Oldman, der im Prinzip nur seinen Part als Terrorist in "Das fünfte Element" (fd 32 718) fortsetzen muß. Schließlich wird auch noch eine Zeitreise thematisiert, bei gleichzeitiger Identitätsverdoppelung, die sich aber nur auf Grund logischer Verrenkungen vollziehen kann. Doch an diesem Punkt, da auch noch ein väterlicher Bösewicht Hugoscher Prägung auftaucht, ist die Geschichte bereits völlig aus dem Ruder gelaufen.
Und dann diese Familie: Niemals wird glaubhaft, daß es sich um eine solche handelt. Ihre Mitglieder agieren nebeneinander her, nur auf ihre Funktionen an Bord bezogen, und behandeln sich gegenseitig wie Fremde. Vordergründig gibt es einen Konflikt mit der jüngeren Tochter, die sich etwas besseres vorstellen kann, als mit der Familie zehn Jahre lang durchs All zu fliegen. Tatsächlich aber ist der Familie nicht ein überzeugender Dialog vergönnt, und das, wo sie doch andererseits als funktionierende Einheit präsentiert werden soll, als wenig charakteristischer, dafür exemplarischer Nukleus der amerikanischen Gesellschaft. In all dem teuren Science-Fiction-Getümmel hat Drehbuchautor Akiva Goldsman ("Die Jury"; "Batman & Robin") die 60er Jahre soziologisch konserviert. Die ältere Tochter und der kleine, geniale Sohn bleiben ebenso brav und blaß wie die Ehefrau, die von Mimi Rogers allzu ambitionslos gespielt wird. Dies gilt auch für das unbestrittene Familienoberhaupt der Robinsons, dessen Forschungen um ein für Riesen-Raumsprünge taugliches "Hypergate" der Familie erst jenen zweifelhaften Auftrag eingebracht haben: ein bärtiger William Hurt, dessen Bestimmung es ist, niemals die Ruhe zu verlieren. Eine Pfeife hätte ihm gut gestanden. (Oliver Rahayel, film-dienst)

Die Zukunft ist da - die fossilen Brennstoffe sind verbraucht und - entgegen der Schulmeinung - umgibt die Erde ein einziges riesiges Ozonloch. Daddy Robins (William Hurt) will die Menschheit und seine Familie retten. Die von ihm konstruierte Jupiter 2 startet zu neuen Planeten. Doch ein Saboteur (Gary Oldman) stört den auf Jahre angelegten Tiefschlaf schon nach wenigen Stunden. Nur knapp können vereinte Bemühungen die völlige Vernichtung des Raumschiffs verhindern, aber ganz schnell landet die Besatzung dank des Hyperdrives dort, wohin es auch die "Voyager" verschlagen hat: Unendlich weit weg von zuhause ...
Bei "Lost in Space" wird Science-Fiction mit dem fantastischen Teil ganz groß geschrieben. Die alte TV-Serie, die vor allem durch den Spruch des Roboters "Danger, Will Robinson, Danger" bekannt blieb, wurde mit sehr modernen Elementen vermischt. Die banale Handlung über die Familie Robinson im Weltall rast mit Mega-Hyperdrive außerhalb des Bereichs jeder Wahrscheinlichkeit herum. Solche pseudowissenschaftlichen Erklärungen hätten selbst die Enterprise im Raum-Zeit-Kontinuum völlig verbogen. Von einer tollen Videospiel-Vorlage geht es rapp-zapp zur nächsten. Mitten durch explodierende Planeten rasen, Weltraum-Scooter fahren oder als Roboter Aliens abknallen. Aber immerhin stimmen die Zutaten in Form von besonders scheußlichen Aliens und einer reizvollen Zeitreisen-Konstruktion.
Nur schade, daß Vater Robinson zu sehr mit der Familienrettung beschäftigt ist, um sich wirklich mit seiner Frau oder seinen Kindern zu beschäftigen. Vor allem Will Robins, das kleine Computergenie, leidet unter Lieblosigkeit mit möglichen schlimmen Folgen. So dreht sich alles um die Familie - die große Tragödie des amerikanischen Films! Zum Glück ist mit Gary Oldmans Figur Smith ein gute Portion Zynismus an Bord. Er spielt seine Rolle aus dem "5. Element" nach und seine bissigen Kommentare aus dem reichen Schatz der Filmgeschichte machen den süßen Familienkompott erträglich. Das Ganze hätte eine TV-Folge oder ein elendes Schmalzstück sein können, doch dank der extrem ideenreichen Ausstatter, der futuristischen Sets und der Trickspezialisten gerät die erbärmliche Story zum Augenschmaus. Da konkurrieren ein holographischer Auftraggeber und ein digital animiertes Äffchen aus der Henson-Puppenfabrik um die meisten Ohs und Ahs.
Während der tricktechnische Augenkitzel die hirnrissige Handlung aufwiegt, bietet am Ende ein wirklich abgefahrener Abspann reine avancierte Filmkunst. (Günter H. Jekubzik, FILMtabs)

Nominierung für den homophobsten Film des Jahres: Lost in Space
2058. Die Erde ist am Ende ihrer Ressourcen angelangt, gerade einmal zwei Jahrzehnte wird sie noch ein mehr oder eher weniger komfortables Leben anbieten können. Höchste Zeit für die Familie Robinson ins All geschossen zu werden, um im Tiefschlaf zu einem anderen lebensfördenden Planeten zu gelangen und dort für die wichtigste Überlebensstrategie der Erdbevölkerung gänzlich ohne weitere Fachkräfte das zweite Hyperraumportal zu erbauen, damit die restliche Menschheit in Sekundenschnelle emigrieren möge. Doch die böse Truppe der Mutanten Terroristen [sic] will zuerst zum Zielplaneten Alpha Prime gelangen und fehlprogrammiert mit den Diensten des Berufssaboteurs Dr. Zachary Smith die Mission. Unglücklicherweise wird dieser selbst hereingelegt und das Raumschiff Jupiter 2 landet in einem spektakulären Ausweichflug irgendwo in den Weiten des unendlichen Alls. Eine Rettungsmission der Erde reißt die desparate Familie allerdings in merkwürdiger Weise ungewollt in eine Kette neuer katastrophaler Entwicklungen...
Nachdem ich diverse Verrisse über diese weitere auf die Leinwand gehievte Fernsehserie längst vergangener Tage gelesen hatte, war das Kino-Erlebnis abgesehen von unserem Queer Watchlion dann doch recht erträglich und unterhaltsam. Trotzdem muss unmissverständlich zum Ausdruck gebracht werden, dass Lost in Space sich für Erwachsene lediglich als teurer Mitternachtsfilm eignet. Fehlbesetzungen jagen ein Drehbuch ohne eigene Ideen, bis auf eine einzige Szene vielleicht, in der ein Raumschiff in das innere eines Planeten fliegt und aus einem gerade höchst aktiven Vulkan wieder ins All schießt, gibt es keine einzige, ich wiederhole keine einzige halbwegs erinnerungswürdige Einstellung, die nicht aus einem anderen Film geklaut wäre. Von Der Bladerunner über Judge Dredd bis zum Vorspann von Star Trek - Voyager reiht sich ein Déjà-vu an das nächste. Dagegen war Das fünfte Element regelrecht innovativ. Verbale Hommage-Momente, um es euphemistisch auszudrücken, werden von Star Trek bis Babylon 5 heruntergebetet.
Wen dies alles nicht stört, wird sich allerdings an einem aufgeblasenen Budget zu erfreuen wissen. Hartgesottene Genrefreaks sollten sich daher den Film wenn schon, dann auf möglichst großer Leinwand mit einem sarkastischen Freundeskreis und viel Popcorn reinziehen. Für Kiddies böte sich ein herrlich wahnwitziger Abenteuertrip, wegen verschiedener Diffarmierungen ist davon allerdings abzuraten, wenn nicht bedenkliche Denkmuster die nächste Generation begleiten soll:
Das Bild der Frau ist leider unter aller Kanone, auch wenn oberflächlich die älteste Tochter des Clans, Judy, den unverschämten Annäherungsversuchen des Piloten Don West zu trotzen weiß - wenn auch klar sein dürfte, dass dies nicht bis zum Ende des Films durchgehalten werden wird. Frauen sind "kalte Fische, die aufgetaut" werden müssen und das Ehepaar der guten alten Familienwerte redet sich nicht nur scherzhaft gegenseitig mit "Professor" und "(Ehe)Frau" an, eine Verbalisierung der klaren Funktionstrennung der Geschlechter im Film, auch wenn Mutter Maureen einmal den Typen Dampf machen darf.
Einem regelrechten Angriff auf Homosexuelle kommt dagegen die Interpretation Gary Oldmans Dr. Smith gleich. Selbst wenn kein direkter Bezug hergestellt wird, so verbindet sich die Masse der feindlichen Referenzen zu einem gefährlichen Gebräu zusammen, das dem Publikum übelste Klischees in den Kopf setzt, bzw. verstärkt, ohne dass dieses sich dessen bewusst sein muss. Unser Watchlion wurde zunächst aktiviert, als der Bösewicht über die Farbe seiner Kleidung sinniert, Dorothy aus Der Zauberer von Oz ins Spiel bringt und verdächtig indifferent den weiblichen Charakteren gegenüber über die Leinwand huscht. Eine aristokratisch-britische Schnöseligekeit, die in Hollywood seit jeher mit Homosexualität identifiziert wird und das kronleuchtergerechte Aufsteigen aus einem Kostüm schien den Verdacht zu verfestigen. Am Ende des Filmes hat sich der Böse mit der homosexuellen Konnotation weiterentwickelt zu einem sich selbst hassenden Wesen, dass die guten all-amerikanischen Familienwerte zerstören will, sich als Monster bezeichnet, welches pädogerecht "kleine Jungs verschlingt" und überbetont Frauen bis zu dem Punkt hasst, dass es sie umbringen muss - dass der gute Doktor eigentlich alles und jeden um die Ecke bringt, wird hier systematisch in Misogynie umgeformt. Gegen diesen Film wirkt der neue Mel Gibson-Streifen Lethal Weapon 4 regelrecht liberal. (quer-view)

Familienausflug im All. Einer alten TV-Kultserie folgt die Science-Fiction-Robinsonade "Lost in Space": Regisseur Stephen Hopkins probiert vieles und verschlampt fast alles.
Irgendwann in der Zukunft, sagen wir im Jahr 2058, wird es auf der Erde keine Kriege und leider auch keine lebensnotwendigen Ressourcen mehr geben. Nur die Weltbürgerwehr wird im Orbit noch die eine oder andere Nintendo-Schlacht gegen Terroristen liefern, währenddessen die Intelligenzija unter irdischem Dauersauerregen kühne Emigrationspläne schmiedet: Ein Professor (William Hurt) mit dem sinnigen Namen Robinson soll mit seiner Familie ins All vorpreschen und in einem fremden Sonnensystem die nötigen Vorbereitungen für die Kolonisierung des Weltraums treffen.
Noch bevor diese Reise beginnen kann, hat Regisseur Stephen Hopkins (Nightmare On Elm Street 5; Predator 2 ) es fertiggebracht, durch zielloses Special-Effects-Bombardement und phantasielose Kulissenschieberei die Lust auf das groß angekündigte Abenteuer zu minimieren. Am liebsten würde man mit der pubertierenden Robinson-Tochter Penny (Lacey Chabert), deren rotzig-poppige Art wie ein Farbtupfer die schwülstige High-Tech-Ästhetik von Lost In Space verziert, den bevorstehenden Pioniertrip verweigern.
Aber es ist schon alles angerichtet: In Begleitung eines jungen Maulhelden sowie eines äußerst bösartigen Eindringlings (Gary Oldman) besteigt die ausnahmslos aus Genies bestehende Familie Robinson ihr Raumschiff - und fliegt von dannen. Nach gröberen Turbulenzen merkt die Besatzung, daß ihr Raumschiff sich in einem Gestirn verloren hat, das auf keiner Raumkarte verzeichnet ist - der einzige Einfall mit Pfiff, der aber bedauerlicherweise schon im Titel vorweggenommen ist.
Anstatt die wahrhaft schaurige Idee des Verlorenseins im Weltraum zu dramatisieren, inszeniert Hopkins ein mit antiquierten Monster-Spinnen, erbärmlich konzipierten Zeitlöchern und anderen Gefahrenquellen bestelltes Fantasy-Spektakel. Die fremden Welten, die in Lost Space entdeckt werden, gleichen alpinen Winterlandschaften, und die einschneidendsten Erfahrungen der Helden-Crew finden ihren Niederschlag in Sätzen wie: "Vielleicht hat es keinen Sinn, die Menschheit zu retten, wenn wir die eigene Familie nicht retten können."
Als im letzten Akt des Films Vater Robinson nach einer Zeitreise seinem erwachsenen Sohn gegenübersteht, hat man es längst schon aufgegeben, irgendwas verstehen oder in einen stimmigen Zusammenhang bringen zu wollen. Da hat sich der Film selbst schon in unsauberen Zitaten und unausgegorenen Ideen, in wichtigtuerischen Feuerwerken und löcherigen Subplots verloren. (Robert Buchschwenter, DIE PRESSE, 28/9/1998)

Das hatten wir noch nicht. Eine ganze Familie macht sich in den Weltraum auf, um einen Beitrag zur Rettung der Erde zu leisten.
Die Ressourcen der Erde sind erschöpft und reichen nur noch für ein paar Jahrzehnte. Ein neuer Planet, der die Menschheit retten könnte ist bereits ausgemacht. Um die Entfernung von einigen zig Lichtjahren dorthin zu überbrücken wird im Orbit der Erde ein entsprechender Transportmechanismus gebaut. Ein Gegenstück soll beim Zielplanten entstehen. Dies zu tun ist das Lebenswerk von Dr. Robbinson (William Hurt) Ein Raumschiff wird gebaut, das das notwendige Equipment an Bord hat. Da die Reise zum Zielplaneten sehr lang werden wird, wird er die Erde nie wieder sehen. Da er gleichzeitig sich aber mehr um seine Familie kümmern möchte, nimmt er sie einfach mit auf diese Tour - oder vielleicht auch deshalb, weil sonst der Rest der Story überhaupt keinen Sinn mehr macht.
Wo die Retter der Erde sind, sind die Saboteure nicht weit. Dunkle Mächte, verkörpert durch Dr. Zachary Smith (Gary Oldman), werden dafür sorgen, daß das Raumschiff nicht seinem vorgesehenen Zielort erreichen wird. Die Reise durch den Hyperraum verläuft daher nicht so wie anfangs geplant stattdessen landet die Crew irgendwo im Weltraum. Auch das Attentat verläuft nicht so wie es sich der Täter gedacht hat und so findet er sich unversehens an Bord des verloren gegangenen Raumschiffs wieder.
Attentäter, Familie und Pilot beginnen nun, da sie ja nichts rechtes mehr zu tun haben, eine Reihe von Abenteuern. Zeit um sich Gedanken zu machen, wie man zurückkommt bleibt dabei nicht. Verwaiste Raumschiffe, Monster, Zeitblasen und zu guter letzt, weil man gerade Übung bekommen hat: noch einen unkoordinierten Zeitsprung, wahrscheinlich direkt in den zweiten Teil.
Positiv formuliert könnte man sagen: in diesem Film trifft man auf eine Reihe alter Bekannter. Tatsächlich ist Lost in Space eher aus Versatzstücken anderer Filme zusammengestellt. Kräftig schütteln, fertig.
Es gibt ein Stargate (fast fertig), einen sabotierenden Bösewicht (personeller Direktimport aus "Das fünfte Element"), ein gestrandetes Schiff mit einer fremden bösen Lebensform ("Event Horizon" - das Schiff ist ein wenig umgebaut, die Lebensform ist neu), einer Mutation (so ähnlich wie die Schabe aus "Man in Black") und einen Roboter mit Gewissenkonflikten hat es sicher auch schon gegeben - ich komme im Moment nicht drauf'. Diese Teile werden an einer Schnur aufgefädelt, sorry, als Filmstreifen hintereinander geklebt. Eine konsistente Story sucht man vergebens. Angereichert wird das ganze mit ein paar (650!) Special Effects die mir aber auch schon mehr als bekannt vorkamen.
Situationskomik entfaltet dagegen die Rolle von Gary Oldman. Die Rolle besteht darin, daß er gar keine hat. Wie die Freunde des Action und Science-Fiction Filmes wissen, spielt Gary immer den Bösewicht. In Lost in Space spielt er halt auch mit und ist somit (per definitionem) böse. So entdecken sie bei der Expedition in das fremde Raumschiff eine fremde Lebensform. Die Analyse von Gary ist famos: das ist was Böses denn "das Böse kennt das Böse". - Irre.
Letzlich ist das kein Stoff für einen Film, sondern für eine Serie. Ein Stolpern von einer Episode zur nächsten. Ein durch und durch überflüssiger Film. Für ein B-Movie reicht es dann auch wieder nicht, weil zu aufwendig produziert. Es bleibt nur zu hoffen, daß der Film ein Flop wird und wir somit von einem zweiten Teil verschont bleiben. (Kay Sendelbach

Selbst die Dialoge sind aus durchsichtigem Plastik
Mit 750 neuen Special Effects steht diese intergalaktische Robinsonade des Jahres 2058 im Guiness Buch der Hollywoodrekorde - vor "Starship Troopers" (550) und "Jurassic Park" (170). Nicht mitgezählt jener verblüffendste aller Spezialeffekte, daß man bereits fünf Minuten nach Benutzung dieser Familienpackung Science-fiction sich nicht mehr erinnern kann, worum es eigentlich ging.
Im Gedächtnis bleibt lediglich die Erkenntnis, daß das außerirdisch Böse dem Menschen offenbar ewig spinnenförmig oder schlitzig-schlatzig begegnet; das Entern einer sogenannte Zeitblase verblüffend dem Betreten einer riesigen Götterspeise gleicht und sogar Dialoge aus durchsichtigem Plastik bestehen können. Der Kern dieser Star-Wars-Kiste wurde einer exhumierten US-Fernsehserie aus den sechziger Jahren entlehnt: zum Glück blieben wir von der verschont. (Rudolf John, KURIER)

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DAS GEHEIMNISVOLLE KLEID (DE JURK)

NL 1996. 103 Min.
Regie: Alex van Warmerdam, Buch: Alex van Warmerdam, Musik: Vincent van Warmerdam, Kamera: Marc Felperlaan, Schnitt: René Wiegmans, Darsteller: Henri Garcin (van Tilt), Elizabeth Hoytink (Stella), Ariane Schluter (Johanna), Alex van Warmerdam (Zugschaffner De Smet), Ricky Koole (Chantalle), Olga Zuiderhoek (Marie, Obdachlose), Eric van der Donk (Herman, Maler)
Kinostart: 25/9/1998

Ein Sommerkleid wird in dieser aufregend unkonventionellen Komödie zur Trophäe im ewigen Kampf der Geschlechter. Der Textildesigner Cremer hat es nch einer indischen Vorlage entworfen. Nun löst es getragen von einer Hausfrau, einem Girlie oder einer Stadtstreicherin eine Verkettung von unerwarteten, mitunter lustvollen, mitunter gefährlichen Ereignissen aus. Auch Männer - allen voran der Zugschaffner De Smet - verfolgen, hingerissen bis zur erotischen Obsession, das Kleid - und die jeweilige Frau, die es trägt.
Durch das Objekt Kleid werden unterschiedliche Akteure geschickt miteinander kombiniert. Der Film konnte auf mehreren Festivals gut ankommen und überzeugt insbesondere durch die Detailverliebtheit, mit der Theatermacher, Designer und Schauspieler Alex van Warmerdam den Lebenslauf des Kleides verflgt. (film.de)

Auf den Spuren eines Kleides, das mehrere Male die Besitzerin wechselt, stellt der Film ein Panoptikum grotesker Personen und kurioser Schicksale vor. Ohne psychologische Erklärungsmuster und mit surrealen Zwischentönen in der Tradition Luis Buñuels entwirft er quer durch die verschiedenen Klassen ein schonungsloses Gesellschaftsporträt. Gefühllosigkeit, Kälte und eine zügellose Treibhaftigkeit kennzeichnen das menschliche Miteinander, besonders aber das Verhältnis zwischen den Geschlechtern. Ein souverän kalkulierter, unberechenbarer, dabei ebenso humorvoller wie bitterer Film jenseits aller Logik.

Alex van Warmerdams dritter Film führt den Zuschauer zu Beginn mitten in ein Baumwollfeld, das friedlich-idyllisch im unschuldigen Weiß strahlt. Bis die unbarmherzige Erntemaschine dazwischenfährt und damit den Herstellungsprozeß einläutet, an dessen Ende das Objekt der zukünftigen Begierden stehen wird: ein farbenfrohes Sommerkleid. Die Atmosphäre von Brutalität und Kälte, die diese Eingangssequenz suggeriert, wird den ganzen Film bestimmen. Von Anfang an scheint ein geheimnisvoller Fluch auf diesem Bekleidungsstück zu liegen, der jeden befällt, der damit in Berührung kommt. Schon der Designer des Motivs wird davon betroffen, ebenso ein Geschäftsmann, der eben jenes Motiv hart kritisiert: Beiden läuft die Partnerin davon, letzterer verliert sogar seinen Job. Dem Schneider des späteren Kleides entflieht ebenfalls die Geliebte; das aber aus gutem Grunde, denn er hetzt aus ganz offensichtlich perversen Neigungen ein klobiges Schwein auf sie. Eine sehr absonderliche Welt mit noch merkwürdigeren Protagonisten. Das ist das seit "Noorderlingen" (fd 31 717) fast schon vertraute Universum und Panoptikum von Alex van Warmerdam; einer, der wie kaum ein anderer seit Luis Buñuel Surrealismus, schwarzen Humor und Gesellschaftskritik auf einen Nenner zu bringen vermag.
So haltlos wie seine Figuren, so zufällig bald hierhin, bald dorthin treibend ist die Geschichte des Films. Keine ordnende Institution eines "Erzählers", die nach Sinn suchen oder ihn konstruieren könnte, ist auszumachen. Es regiert die reine Beliebigkeit - von dem Theatermann und Designer van Warmerdam letztlich freilich wieder kühl kalkuliert, bisweilen aber auch grotesk überspitzt in Szene gesetzt, ohne jede Berücksichtigung psychologischer Berechenbarkeit oder Motivation. So folgt der Zuschauer dem Reigen von Ereignissen, der statt einer irgendwie gearteten Sinnhaftigkeit nur Fragmente einer Chronologie des Zufalls vor Augen führt, unvorhersehbar und bar jeder Logik. So läßt van Warmerdam auch völlig dahingestellt, was denn mit Stella, der ersten Besitzerin des Kleides, passiert, die urplötzlich von Melancholie und Angst überwältigt wird, während ihr Mann nur ein Zimmer weiter im eigenen Haus überfallen wird, ohne daß sie es mitbekommt. Urplötzlich sinkt sie ihm kurz darauf in die Arme, als habe das Kleid, das sie seit kurzem trägt, ihrem Körper sämtliche Lebensenergie entzogen. Kurz darauf ist sie tot, und das Kleid macht sich bei Sturm und Regen von der Wäscheleine aus auf den Weg zu einer neuen Besitzerin.
Fielen schon in "Noorderlingen" die extrem aus dem Gleichgewicht geratenen (sexuellen) Beziehungen zwischen den Geschlechtern auf, so treibt es van Warmerdam nun auf die Spitze des Erträglichen. Sowohl Johanna, die Geliebte eines kaum an ihr interessierten Malers, als auch die junge Chantalle, die beide in den zweifelhaften Genuß des Kleidungsstücks kommen, fallen dem kuriosen, abgründigen Zugschaffner De Smet (von van Warmerdam selbst beängstigend dargestellt) zum Opfer. Der nämlich begegnet den Frauen während der Bahnfahrt, läßt sich flugs von seinem Kollegen als krank entschuldigen und lauert ihnen auf. Daß der Regisseur kein Anhänger "politischer Korrektheit" ist, kommt in diesen Szenen drastisch zum Ausdruck. De Smet geht hemmungslos zu Werke, zwingt den Frauen mit einer unglaublichen Geradlinigkeit und Kälte seinen Willen auf, daß einem der absurde Witz der Szenen im Halse stecken bleibt. Bedürfnis nach Nähe und Schutzlosigkeit werden in diesem Film gnadenlos bestraft - hier helfen nur Härte und Entschlossenheit. Daran ändert auch die überraschende Pointe dieser Konfrontationen nichts. Zum Schluß ist der Zuschauer mit dem Kleid am unteren Ende der sozialen Leiter angekommen. Eine Obdachlose, die auf einem Parkgelände in einem Erdloch haust, ergaunert es sich, doch auch ihr wird es kein Glück bringen. Und in der Person des Geschäftsmanns aus dem ersten Teil des Films, der bereits zwischendurch als Zugverkäufer auftauchte und mittlerweile ganz nach unten durchgerutscht ist, nimmt der soziale Abstieg eindeutige Gestalt an. Van Warmerdam erlaubt sich nicht einen Hauch von Sozialromantik - ganz unten wird mit genauso harten Bandagen gekämpft wie weiter oben: von Solidarität keine Spur. Das Kunststück des Films ist, daß er diese Kälte und Trostlosigkeit unterhaltsam vor Augen führt - ohne zu beschönigen, ohne zu beschwichtigen. (Hans Jörg Marsilius, film-dienst)

Der Beginn ist absurd und spannend: Wer immer in die Nähe eines (ziemlich häßlichen) Kleides gerät, dem passieren Unglücke und/oder erotische Verwicklungen. Doch weil sich der Film in zunehmend absurdere Absurditäten festbeißt, anstatt irgend etwas zu erklären, wirkt er zum Schluß nur noch fad. (Gunther Baumann, KURIER)

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