Historisch korrekt
betrachtet waren die Nationalsozialisten sexuell aufgeschlossen.
Vorausgesetzt freilich, es handelte sich um gesunde Arier unter sich.
Ob diese miteinander verheiratet waren, spielte gar keine so große
Rolle. Damit knüpften die Nazis an der sexuellen Freizügigkeit des
frühen 20.Jahrhunderts an. Deutschland, so die Autorin, war damals das
liberalste Land in Europa.
Dass es im "Dritten Reich" für Arier recht munter zuging, geht aus
Primärquellen hervor. Anfangs wurden junge Arier noch heimlich, doch
bald ganz offen zu Sex ermutigt.
1934 hatten die Führerinnen im Bund deutscher Mädchen die Anweisung,
die ihnen anempfohlenen jungen Mädchen zum vorehelichen
Geschlechtsverkehr zu ermutigen, noch mit dem Vermerk "streng geheim"
erhalten. Bereits 1935 war es ein offenes Geheimnis, was in einigen
BDM-Gruppen ablief. In Dresden vermerkte etwa Viktor Klemperer in
seinem Tagebuch: "Annemarie Köhler erzählt verzweifelt, die
Krankenhäuser seien übervoll, nicht nur von schwangeren, sondern auch
von tripperkranken 15-jährigen Mädchen."
Prüderie in den 1950er Jahren
Eine
gewisse Freizügigkeit hielt sich auch noch die ersten Nachkriegsjahre
über. Damit war es ab 1950/1951 vorbei. Der Konservatismus und die
Prüderie lassen sich durchaus als frühe Form des Antinazismus
interpretieren.
Die Ablehnung dieser Freizügigkeit und die Propagierung einer strikten
Prüderie sind jedoch nicht nur eine merkwürdige Bewältigungsform einer
Geschichte voller Gräuel. Dahinter habe sich auch, so die Autorin, eine
Strategie verborgen: Mit Hilfe der Kirchen vertuschten am Nazismus
beteiligte Protestanten und Katholiken ihre vergangene Komplizität,
indem sie sich als die neuen Saubermänner aufspielten. Doch einiges von
ihrem früheren Nazi-Denken retteten sie dennoch in die Nachkriegszeit.
Man könne dies als Backlash verstehen, meint Dagmar Herzog. Keuschheit und monogame Ehe waren sozusagen der Gegenschlag.
Umkehr in den USA
Die
sexuelle Revolution der 60er Jahre sei nur zum Teil mit der Erfindung
der Antibaby-Pille zu erklären, meint Dagmar Herzog. Sie argumentiert
mit Michel Foucault, dass Sexualität nicht für sich allein stehe. Über
Sex werden auch Machtbeziehungen verhandelt und daher müsse man die
moralische Rechtfertigung dieser sexuellen Revolution berücksichtigen.
Die Strategie der 50er Jahre, durch Umlenkung auf das Thema Sexualität
die Vergangenheit unter den Teppich zu kehren, sei derzeit auch in den
Vereinigten Staaten zu beobachten, sagt Dagmar Herzog. Die Historikerin
recherchiert über die christlichen Rechte in den USA und deren
Moralvorstellungen. "Auf einmal ist Teenager-Sex unmoralisch, aber
Folter ist ok", so Dagmar Herzog.
Hör-Tipp
Kontext, jeden Freitag, 9:05 Uhr
Download-Tipp
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Buch-Tipp
Dagmar Herzog, "Die Politisierung der Lust. Sexualität in der deutschen
Geschichte des 20. Jahrhunderts", Siedler Verlag, ISBN 3886808319