Dr. Gisela Burger
Stuttgart, Deutschland
„Durch den Mangel an Hab und Gut
gezwungen umsegeln sie die ganze Welt und bringen durch Seeraeubereien die
reichen Ertraege in ihre Heimat, auf diese Weise die Duerftigkeit ihres eigenen
Landes zu ertragen.“
Mit diesen Worten nennt Adam von
Bremen den Grund für die Wikingernzuege: Not.[1]
Es wiederholt sich alles in der
Geschichte der Menschheit. Auch heute verlassen Menschen aus Not, aber auch
durch Krieg, Verfolgung und Vertreibung ihre Heimat. Im Gegensatz zu den Wikingern kommen sie als Fluechtlinge oder
Asylanten, meist einzeln oder in kleinen Gruppen, waehrend die Wikinger
zahlreich auf ihren Schiffen aus Skandinavien nach Russland segelten, das fuer
zweieinhalb Jahrhunderte ihre Heimat wurde.
Die Wikingerzeit in Osteuropa wird
in der Forschung in drei Phasen unterteilt. In die fruehe: Ende des 8. bis zum
Ende des 9. Jh.
In die mittlere: Ende des 9. bis
zur zweiten Haelfte des 10 Jh.
In die spaete: die zweite Haelfte
des 10. Jh. bis zur ersten Haelfte des 11. Jh.
Wie aus der Anhaeufung von
arabischen Silbermuenzen in Horten und Depots hervorgeht, war die Aktivitaet
der Wikinger als Kaufleute in der mittleren Phase am staerksten.
In der Wikingerforschung wird oft
zwischen Wikingern als Piraten, Haendler und Krieger unterschieden. Eine solche Abgrenzung ist jedoch
willkuerlich. Was unterscheidet z. Bsp.
Wikinger nach der Eroberung von Itil- als Krieger – von Wikingern, die als
Piraten Beute machten, von Wikingern, die als Haendler diese Beute
verkauften? Natuerlich gab es daneben
Wikinger, die nur Kaufleute waren und sich zur „Gildī“ (Kaufmannsvereinigung)
zusammenschlossen. Auch die Funktion
von Kriegern, die auf grossen Kriegsschiffen aus Skandinavien kamen, war
eindeutig. Sie halfen den Fuersten bei
der Eroberung grosser Territorien und dienten als Soeldner in fremden Heeren,
wie im Fall von Byzanz.
Die Wikinger, deren Zuege nach und
in Osteuropa in Form von See- und Flussschifffahrt erfolgten, fanden in
Russland ein weitverzweigtes Flusssystem vor.
Nicht nur ihre Einwanderung, sondern auch ihr Handel fand auf Fluessen
statt.
„Es ging der Weg von den Waraegern
(„Russ“ und „Waraeger“ sind in Quellen Bezeichnungen fuer die Wikinger) zu den
Griechen und von den Griechen den Dnepr entlang.“[2]
Die von Nestor in seiner
altrussischen Chronik erwaehnte Dnepr-Schiffahrt gehoert zur Nordroute der
sogenannten „Pelzstrasse,“ die Ost- und Suedosteuropa miteinander verband und
eine der noerdlichen Abzweigungen der beruehmten „Seidenstrasse“ war, die durch
das Netzwerk ihrer Routen ein grossartiges Handels- und Kommunikationssystem
bildete und somit die Hochkulturen Irans, Indiens und Chinas miteinander
vereinigte.
Die drei wichtigsten Abzweigungen
der Nordroute waren: die von den Ostiranern und Wikingern befahrene Wolgaroute,
die Dnepr- Duenaroute, auf der Wikinger und Slawen nach Kiew und von dort nach
Mainz schiffen konnten und die die schnellste Verbindung zwischen dem Kiewer
Reich und Byzanz war. Der Seeweg ueber das Kaspische Meer mit den Haefen in
Gīlāni und Aserbeidschan bildete die dritte, die Suedroute, deren
Ausgangspunkt Itil war. Auch die
Wikinger waehlten die Route ueber das Kaspische Meer, das fuer sie ein
wichtiger Seeweg mit kuestennahen Verkehrs- und Handelsknotenpunkten
verschiedener ethnischer Gruppen war, mit denen sie schon bald nach ihrer
Ankunft Handel treiben konnten, der aber auch oft mit Pluenderein,
Gefangennahme von Kuestenbewohnern und Morden verbunden war, wie wir es vor
allem arabischen Quellen entnehmen koennen.
Fuer die Flussschifffahrt
benutzten die Wikinger, die als Erbauer praechtiger Schiffe beruehmt waren,
jedoch meist kleine flache Boote, Einbaeume, zum leichteren Landtransport bei
Sandbaenken und Stromschnellen. Der
byzantinische Kaiser Konstantin Porpyrogennetos berichtet: „Die Slawen, ihre
Untergebenen, fallen zur Winterzeit Einbaeume, machen sie zurecht und, wenn der
Fruehling kommt, verschiffen sie dieselben in den Dnepr und kommen so nach
Kiew. ...Hier verkaufen sie sie an die Wikinger.“[3]
[1] Bremen v., A. & Trautmann, R. Von Russen und Waraegern. Zeitschrift fuer deutsche Geisteswissenschaft 2, 1939, 450f.
[2] Trautmann, R. Die altrussische Nestorchronik. Leipzig 1931, 3f.
[3] Konstantin Porpyrogennetos. De Administraudo Imperio = Corpus Historicum Byzantinorum, hg. Von Bekker, Bonn 1829.
[4] Muehle, E. Gnezdowo, das alte Smolensk, in: Bericht der roemisch-Germanischen Kommission, Bd 69, Mainz 1988, 367.
[5] Duewel, K. Handel und Verkehr der Wikingerzeit nach dem Zeugnis der Runeninschriften, in: Untersuchungen zu Handel und Verkehr der vor- und fruegeschichtliche Zeit in Mittel- und Nordeuropa, Teil IV, Goettingen 1987, 347.
[6] Ibn Chordadhbeh, Kniga putej i stran. Perevod s arabskogo. Kommentarij, issledovanie, ukazateli I karty Naili Velikanovoj. Baku 1986, 124.
[7] Suedlich vom Kaspischen Meer.
[8] Pellat, Ch., et all. Les prairies d’or.
Paris 1962.
[9] Ibn Jûsuf Nizāmī. Iskandârnameh. Ausgabe der Chamse. Bombay 1887, 400, 515.
[10] El Idrîsî, hg. Von A. Jaubert. Paris 1836-40.
[11] Russ, H. Das Reich von Kiew, in: Handbuch der Geschichte Russlands, Bd I. Stuttdart 1979, 199ff.