Durchhängertag
Es war jetzt kurz nach zehn, und
Björn
ließ sich in seinen Lieblingssessel fallen und griff zur Fernbedienung
seiner Stereoanlage. Er startete das Tape, dass ihm Ruben gestern gegeben
hatte, und leise Trance-Klänge erfüllten den Raum, der jetzt nur
noch durch einige Kerzen und die Lavalampe erhellt wurde. Dann griff er
neben sich zu der Tasse grünen Tees, nahm einen Schluck, lehnte sich
entspannt zurück und schloss die Augen. Müde war er noch nicht,
aber wie sollte er auch, denn schließlich hatte er den ganzen Tag über
nichts Produktives, nichts Kreatives, ja noch nicht einmal etwas Destruktives
getan. Es war so ein richtiger „Durchhängertag“ gewesen, einer von diesen
Sonntagen, an denen man erst gegen Mittag aufwachte, vom Bett aus den Wolken
zusah wie sie den Himmel entlang streiften, irgendwann dann doch aufstand,
aber sich zu nichts durchringen konnte. Aber was machte das schon, schließlich
war sein Wochenende anstrengend genug gewesen, anstrengend genug jedenfalls,
um kein schlechtes Gewissen zu haben, weil er so viel angeblich kostbare
Zeit verschenkt hatte.
Am Freitag hatte er im Hotel Nachtschicht gehabt und sich mit chronisch
unzufriedenen Gästen herumschlagen müssen, und gestern wurde er
vom Infinity
aus angerufen, ob er nicht für den Abend einspringen konnte, weil jemand
anderes krank geworden war. Natürlich hatte er zugesagt, schließlich
wäre er vermutlich sowieso da gewesen, wenn auch auf der anderen Seite
der Theke, aber die Arbeit dort machte ihm einigermaßen Spaß,
und das Liveset des Gast-DJs hatte er auch so mitbekommen. Genaugenommen
hatte es sich sogar gelohnt, denn als sich weit nach Mitternacht die Disco
geleert hatte, war jener Gast-DJ mit seiner Freundin an seine Theke gekommen
und die beiden hatten, während Björn schon am Aufräumen war,
einen Cocktail nach dem anderen getrunken und er hatte dabei aus seinem
wenig spektakulären, aber für Bewunderer seiner Zunft doch recht
interessantem DJ-Dasein erzählt. Zuerst hatte Björn sich ja geärgert,
dass er sich wieder einmal auch noch bereiterklärt hatte, auch noch
bis zum Ende dort zu bleiben, er konnte nun mal leider immer noch nicht
„nein“ sagen, doch die Anekdoten eines bekannten Discjockeys aus erster
Hand hörte man schließlich auch nicht jeden Tag. Am Ende hatten
dann nur noch Björn, sein Chef und dessen Gast mit Freundin dort an
der Bar gesessen, und sie mussten ein Bild abgegeben haben wie die drei Gestalten
aus Edward Hoppers Bild
Nighthawks
.
Somit war es klar, dass er heute nicht aus dem Bett gekommen war, erst
der Hunger hatte ihn schließlich dazu bewogen, doch aufzustehen, aber
da er nicht einmal zum Kochen Lust gehabt hatte, musste die Tiefkühlpizza
herhalten, die mit ihren Brüdern und Schwestern im Eisschrank auf genau
solche Tage wartete. Im Fernsehen lief wie immer nichts, trotzdem sah er
eine Weile hin, doch was er sah, war auch schon fünf Minuten später
wieder vergessen. Irgendwann entdeckte er aber doch einen alten Schwarz-Weiß-Klassiker
aus der Zeit als Filmemacher noch Künstler und nicht bloß Geschäftsleute
waren, und Katharine Hepburn faszinierte ihn für knapp zwei Stunden
und spornte ihn zu Überlegungen an, wie es wohl wäre, vielleicht
mit einer Zeitmaschine ins Hollywood der Vierziger Jahre zu reisen, oder
ob er doch eine andere Zeit wählen würde. Danach hatte er für
eine Weile genug vom sinnlosen Rumsitzen, raffte sich auf, alte Zeitschriften
auszusortieren, was aber nur dazu führte, dass er jede einzelne durchblätterte
und sich schließlich an einem Artikel festlas. Und gerade als er sich
doch wieder aufraffte, die Zeitschriften zur letzten Ruhe zu betten, da klingelte
es an der Tür.
Es war Patrick
, der auch nichts mit seiner Zeit anzufangen wusste, auch nichts zu tun
hatte, und der ebenso die Langeweile genoss. Also konnten sie auch genauso
gut gemeinsam den Tag vertrödeln, und die Zeitschriften waren ohnehin
schon längst wieder vergessen. Björn erzählte erst mal von
gestern, Patrick war zwar auch im Infinity gewesen, doch den krönenden
Abschluss hatte er natürlich nicht mitbekommen, danach überlegten
sie, welche Prominenten es sich vielleicht noch lohnen würde, kennen
zu lernen, aber besonders viele bekamen sie nicht zusammen. Björn musste
sich eingestehen, dass er viele der sogenannten „Stars“ gar nicht unbedingt
treffen wollte, denn die meisten von denen sah man ja sowieso täglich
im Fernsehen, auf dem Titelblatt der Bild oder der Bravo, oder als Nacktbild-Fake
im Internet. Wahrscheinlich verbrachten nicht wenige von denen ihre freien
Tage nicht anders als er, und dabei musste er nun wirklich nicht zusehen.
Patrick erzählte noch, dass er damals, als er noch als Model gejobbt
hatte, einige mehr oder weniger prominente Leute sozusagen live erlebt hatte,
diesen Treffen aber keinesfalls hinterher trauerte. Wenn es überhaupt
etwas gab, was diese Menschen anderen voraus hatten, dann, dass sie viel herumkamen,
doch davon bekamen sie nicht viel mit, denn überall wo sie hinkamen,
hatten sie schließlich Termine. Während Björn kurz darauf
in Ermangelung von Keksen eine Tüte Gummibärchen aufmachte, kamen
sie schließlich auf das Thema Traumberufe zu sprechen, doch Patrick
trauerte seinem Job als Model keinen Tag hinterher, und auch er würde
seine Stelle im Hotel niemals gegen etwas wie Popstar, Schauspieler oder hauptberuflicher
Talkshowgast eintauschen. Überhaupt kamen sie zu dem Schluss, dass es
ihnen eigentlich recht gut ging, und wenn das auch an einem Tag wie diesem
leichter über die Lippen ging, so fiel doch beiden nur wenig ein, was
sie an ihrem Leben momentan massiv störte. Das ganze ging schließlich
so weit, dass sie sich ein Blatt Papier nahmen und eine
Black-and-White-Liste
aufschrieben, also eine Liste, auf der sie alles Positive, sowie alles
Negative notierten, das ihnen einfiel. Als die Liste schließlich fertig
war und sie sich an den Kopf fassten, auf was für blöde Ideen man
doch kommt, wenn man nichts zu tun hat, fiel Patrick plötzlich ein, dass
er ja morgen wieder zur Uni musste und er nicht unbedingt den letzten Zug
nehmen wollte, und so machte er sich also wieder auf den Heimweg.
Das war vor einer Stunde gewesen, und nun saß Björn also völlig
entspannt im Sessel, hing seinen Gedanken nach, grübelte über
Glück, Freundschaft, Zukunft, den Sinn des Lebens und ob er morgen
Klopapier kaufen musste nach, und lauschte nebenbei dem Mixtape von Ruben.
Das war übrigens gar nicht mal schlecht, also dafür, dass er es
mit seinem eigenen, bescheidenen Equipment erstellt hatte. Die Musik war
sehr sphärisch, aber dadurch auch genau das richtige an einem solchen
Tag, die Übergänge waren sauber, und die Musik entwickelte sich
langsam aber stetig, also genau so wie es sein sollte. Björn wusste
genau wie schwer es war, einen vernünftigen Mix zu machen, er hatte
sich selbst oft genug daran versucht, mit mäßigem Erfolg, so
dass er sich doch lieber aufs Konsumieren beschränkte. Dennoch wusste
er aber die Arbeit zu würdigen, die Ruben sich mit dem Tape gemacht
hatte, und er hatte sich echt Mühe gegeben, die sich ausgezahlt hatte.
Ein guter Mix musste sozusagen fließen, ein Thema musste ins nächste
übergehen, wobei keine Brüche entstehen durften, und die Übergänge
mindestens genauso gut sein mussten wie die einzelnen Lieder. Fast so wie
in diesem
Metamorphose-Bild
von Escher, auf dem aus einem Bild immer wieder ein anderes wurde und
man oft genau hinsehen musste, um zu erkennen, was dort eigentlich passierte.
Ja genau, und dann war es eine endlose Abfolge, die sich langsam weiterentwickelte,
zwar immer mit den gleichen Elementen, aber sich niemals wiederholte. Und
am Ende kam man wieder dort an, wo man gestartet war, fast wie im Leben,
wo sich auch nichts wiederholte, sondern sich immer weiterentwickelte, und
am Ende verschwand man einfach wieder von der Bildfläche. Vielleicht
hinkte dieser Vergleich etwas oder war zu pessimistisch, aber diesen langsamen,
fast unmerklichen Verlauf, den man nur schwer in einzelne Teile trennen konnte,
da sie zu dicht miteinander verwoben waren, den konnte man schon irgendwie
vergleichen. Na gut, das mit dem Ende erschien ihm noch etwas fragwürdig,
denn woher sollte er wissen, dass man wieder dort landete, wo man angefangen
hatte, und vielleicht gab es ja doch einen Himmel und einen Gott, der sozusagen
ein DJ war und aufpasste, dass dieses Mixtape des Lebens noch tanzbar
war. Jetzt kam Björn ein
Gedicht
in den Sinn, irgendetwas mit einer Wendeltreppe, auf der es immer im Kreis
und doch immer weiter ging, aber er bekam es leider nicht mehr zusammen.
Vielleicht sollte er doch besser ins Bett gehen, bevor er noch allzu philosophisch
wurde, aber etwas war auf jeden Fall daran, irgendwie ging es immer weiter,
manchmal ohne, dass man sah, wohin, aber auf jeden Fall weiter, selbst an
Tagen wie diesem.