Letzte Chance
Zum ersten Mal seit langem betrat Julian wieder
gutgelaunt das Schulgebäude. Er fühlte sich so richtig toll. Diese
Mathearbeit hatte ihm das Leben gerettet. Das ganze Jahr über hatteer
nur schlechte Noten geschrieben, und es war für alle klar gewesen,dass
er sitzenbleiben würde. Doch dann hatten sie diese Arbeit geschrieben.
Er hatte sehr viel dafür gelernt und nächtelang gebüffeltund
konnte schließlich alles, was in der Arbeit gefordert wurde. Vielleicht
war er in Mathe ja doch nicht der Schlechteste. Zumindest würde diese
Arbeit alle staunen lassen. Es musste einfach eine Zwei sein, vielleichtsogar
eine Eins, dachte er und ging zum ersten Mal seit Monaten wieder selbstbewusst
in den Klassenraum, in dem sein Lehrer Herr Werth
gerade die Hefte auspackte. Jetzt konnte Julian seiner Mutter endlich mal
beweisen, dass er doch nicht schlechter als seine Schwester war, jetzt konnte
er Freunden beweisen, dass er doch nicht dümmer war als sie. Und, was
noch viel wichtiger war, er konnte sich selbst beweisen, dass er kein Versager
war.
Julian steckte die Hände in die Hosentaschen und grinste HerrnWerth
an. Würde der sich ärgern, weil er ihm keine Fünf gebenkonnte?
Betont langsam und cool ging Julian zu seinem Platz und setzte sich.Er fühlte
sich zum ersten Mal wieder entspannt in der Mathestunde. Zumersten Mal hatte
er keine Angst davor, an die Tafel zu müssen und sagenzu müssen,
dass er keine Ahnung habe. Er würde heute auch nichtso ins Schwitzen
kommen, wenn der Lehrer ihn was fragte. Er fand sogar, dassHerr Werth heute
gar nicht so gemein aussah wie sonst, und auch sein Lächelnwar nicht
so fies.
Herr Werth schrieb jetzt den Klassenspiegel an. Es gab drei Einsen.Ob
er wohl eine davon hatte? Obwohl ihm schon eine Drei genügen würde,
hielt er es nicht für unmöglich, zu den Besten zu gehören.
Er hatte schließlich genug für die Arbeit gelernt und das meiste,
nein alles verstanden. Julian war jetzt schon stolz auf sich. Und es gabkeinen
Grund, warum er das nicht sein sollte. Dann wurden die Hefte ausgeteilt.Je
mehr Leute ihre Hefte bekamen, desto aufgeregter und nervöser wurdeJulian.
Er spielte unter Spannung an seinem Bleistift und bekam fast schonfeuchte
Hände. Hatte er vielleicht doch keine gute Note, konnte es sein,dass
er sich seine Sicherheit nur eingebildet hatte? Gehörte er vielleicht
doch zu den Versagern? Er versuchte, den Gedanken los zu werden.
Plötzlich machte es "KNACK" und Julian erschrak. Aber er hattenur
den Bleistift vor lauter Nervosität zerbrochen. Er bückte sich,
hob die zerbrochenen Stücke vom Boden auf, und als er wieder hoch kam,
lag sein Matheheft vor ihm auf dem Tisch. Hastig schlug er es auf und begann
zu blättern. Von Seite zu Seite wurde er aufgeregter. Es machte ihmsogar
schon Mühe, die Seiten umzublättern. Doch dann entdeckteer endlich
die ersehnte Arbeit. Auf der ersten Seite hatte er keinen Fehler.Seine Sicherheit
kehrte langsam zurück. Er blätterte weiter undentdeckte auch insgesamt
nur drei kleine Flüchtigkeitsfehler. Das wareine Eins! Innerlich triimphierte
Julian schon, aber ihm fiel auf, dass dieNote unter der Arbeit fehlte. Stattdessen
stand dort eine Bemerkung des Lehrers.Er könne die Arbeit nicht werten,
da er wisse, dass Julian abgeschriebenhabe.
Julian schaute Herrn Werth, der vorne an der Tafel stand, entgeistert
an. Sein Lächeln war wieder so gemein wie es immer gewesen war.
Christian Dolle, 01/2001