My Way
Die
Sonne verschwand langsam hinter dem
Bahnhofsgebäude und das hektische Treiben auf dem Bahnhofsvorplatz
wurde langsam weniger. So langsam wurde es Abend, die Reisenden waren zum
größten Teil verschwunden und die Stammgäste der Bahnhofskneipe
würden wohl bald auftauchen, hier ihr Bier trinken, sich über den
Tag beklagen, allen anderen die Schuld daran geben und versuchen, ihr beschissenes
Leben für eine Weile im Alkohol zu ertränken. Aber bevor das allabendliche
Besäufnis der gescheiterten Existenzen beginnen konnte, hatte
Birgit noch eine Reihe von Gläsern zun spülen, die Tische sauber
zu machen und den Müll rauszubringen. Und wozu? Damit die Typen hier
gleich doch wieder auf den Boden aschten, Biergläser umwarfen und sich
dann auch noch beschwerten, dass sie schlechte Laune hatte. Irgendwie hatte
sie heute absolut keine Lust auf die Geschichten von Leuten, die vergeblich
einen Job suchten und doch niemals einen bekommen würden, Männern,
die den Ärger, den sie mit ihren Frauen und Familien hatten, dadurch
zu lösen versuchten, dass sie sich sinnlos betranken, und von Jugendlichen,
die niemanden hatten außer dem Stoff, den sie sich eben hier gekauft
hatten. Scheiße, auf Dauer war diese Kundschaft echt deprimierend.Aber
war sie denn besser? Sie war doch genauso ein Teil dieser heruntergekommenen,
miefigen Kneipe, in die viele Menschen schon aus Prinzip keinen Fuß
setzen würden. Und so weit war sie ja auch nicht davon weg gewesen,ihren
Kummer im Alkohol zu ertränken, damals, nachdem Mike weg war.
Birgitließ
ganz ungewollt die Schultern sinken und den Blick ins Leere schweifenalsdie
Erinnerungen an damals wieder einmal hochkamen. Ja, Mike war einfachsound
ganz plötzlich aus ihrem Leben verschwunden, und das, wo siedochgerade
einen Neuanfang starten wollten. Das war jetzt fast fünfzehnJahreher
und trotzdem hatte sie den Schmerz noch immer nicht überwunden.Wahrscheinlich
weil sie Mike immer noch liebte und immer schon überalles geliebt hatte.
Schon damals als sie sich kennengelernt hatte, war sietotal in diesen Mann
verschossen gewesen. Und als sie dann schwanger gewordenwar und er ihr daraufhin
versichert hatte, bei ihr zu bleiben, war sie wahrscheinlichdie glücklichste
Frau auf Erden gewesen. Na sicher, es hatte auch immerschon Probleme gegeben
und mit Mikes kriminellen Geschäften war sienie einverstanden gewesen,
aber im Grunde waren sie eine glücklichekleine Familie damals. Zumindest
hatte Mike sie immer aus seinen Geschäftenrausgehalten und war für
seine Tochter der beste Vater gewesen, denman sich wünschen konnte.Selbst
als Mike dann zwei Jahre späterverurteilt wurde und in den Knastmusste
hatte Birgit das irgendwie meisternkönnen, hatte zusammen mitCorinna
auf ihn gewartet und die acht Jahre,die er absitzen musste, irgendwieüberstanden.
Außerdem hattesich das Warten ja gelohnt, denn alsMike seine Strafe
dann endlich abgesessenhatte, versprach er ihr, wiedergenau da anzufangen,
wo sie vorher aufgehörthatten. Dass das auch bedeutete,dass er wieder
seinen Geschäften nachgingwar Birgit zwar am Anfang nichtso recht gewesen,
aber ihr Mann hatte schließlicheine Familie zu ernähren,die dann
mit Julians Geburt immerhin schon vierPersonen
umfasste. Also hatte sie sich damitabgefunden, dass Mike nicht anderskonnte
und hatte sich um ihre beiden Kindergekümmert, ohne ihm Vorwürfe
zu machen. Schließlich war sieja nach wie vor glücklich und verliebt,
und für Corinna und denkleinen Julian war Mike immer noch der allerbeste
Vater gewesen. Na ja, biszu jenem Tag eben.
Birgitwusste
noch, es war ein Montag im Januar gewesen, vor nun fast fünfzehnJahren.
Mike war wie jede Nacht erst spät nach Hause gekommen, hattenur wenige
Stunden geschlafen und war dann früh wieder aus dem Hausgegangen. Sie
hatte wie jeden Morgen Corinna zur Schule gebracht und sichdan um den damals
zweijährigen Julian gekümmert. Als dann das Telefonklingelte, wollte
sie mit Julian eigentlich gerade einen Spaziergang machen,sie hatte ihm sogar
schon seine Jacke und die Stiefel angezogen. Und dann...
Nein, Birgit
wollte jetzt nicht daran denken. Sie hatte Jahre gebraucht, um sich nicht
jeden Tag aufs Neue zu fragen, warum das passieren musste, und sie hattein
diesen Jahren keine Antwort bekommen. Inzwischen war sie aus Berlin weggezogen
und hatte ein neues Leben begonnen. Es war zwar nicht viel, was sie sichaufgebaut
hatte, aber Corinna war inzwischen fünfundzwanzig und hatteselbst eine
Familie gegründet, und Julian gehörte mit seinen sechzehnJahren
auch nicht zu den Jugendlichen, die sich Tag für Tag hier amBahnhoftrafen
und nicht wussten, was sie mit ihrer Zeit anfangen sollten.Nein, siehatte
ihr Leben im Griff, und auch wenn es nicht gerade beneidenswertwar,tagsüber
an einer Tankstelle und abends hier in der Bahnhofskneipezuarbeiten, so brauchte
sie sich wenigstens nicht vorwerfen, ihren Lebensinhaltauf dem Boden eines
Bierglases zu suchen.
Trotz allemwünschte
sie sich noch oft, Mike könnte das alles noch miterleben,wäre bei
der Geburt seines Enkelkindes dabei gewesen und wäre damalsnicht zu
diesem Waffenhändler gegangen, der ihn erschossen hatte, nurweil Mike
ihm gesagt hatte, dass er aus der Szene aussteigt. Er wäresicher der
beste Opa für Damien gewesen, den man sich vorstellen kann.