Terror in der Schule
Sie konnte einfach nicht mehr. So extrem
wie heutewares noch nie gewesen. Wie konnten Jugendliche nur so grausam sein?
Jede Nacht hatte sie schreckliche Alpträume
und morgens kostete es siegroße Überwindung, aufzustehen und zur
Schule
zu gehen. Vielleichtsollte sie den Lehrerberuf einfach an denNagelhängen.
Und heute warsie dem Gedanken näher denn je. IhreSchülertrieben
es immer wilderund es wurde immer schwerer fürsie, sich durchzusetzen.
Dabei war sienicht einmal eine von diesen Lehrerinnen,die die Schüler
machen ließen,was sie wollten, und sowieso keineAutorität hatten.
In ihrer früherenSchule galt sie sogar als eineder strengsten Lehrkräfte.
Doch das warin Kirchdorf gewesen; und jetztunterrichtete sie an der Hauptschule
in Hasseln.
Schon als sie heute die Klasse betreten hatte, hatte
sie gemerkt, dass esschlimm werden würde. Zum ersten war nur die Hälfte
ihrer zehneteKlasse anwesend und zum zweiten hatte es fast zehn Minuten gedauert,
bisdieSchüler überhaupt gemerkt hatten, dass sie da war. Davon,
dassirgendwanneinmal die Klasse leise sein würde und mitarbeitete, träumtesie
nur noch. Dann hatte sie angefangen, Aufgaben an die Tafel zu schreiben,doch
als sie damit fertig war und hoffte, dass wenigstens einige Mädchenanfingen
zu rechnen, stand Fabio, den sie sowieso vom ersten
Tag an nichtgemocht hatte, auf, nahm den Schwamm und putzte die Tafel. Danach
setzteer sich ohne ein Wort zu sagen wieder auf die Fensterbank. Sprachlos
hattesie ihn angestarrt und sich gefragt, wieso so ein Typ auch noch zumKlassensprechergewählt
worden war. Aber Fabio war eben "phat", und wer"phat" war,war bei den anderen
angesehen, bei den Mädchen beliebt undvon den Jungenbeneidet. Sie hatte
fast aufgegeben und wäre aus dem Klassenraumgerannt.Doch dann hattesie
angedroht, am nächsten Tag einen Mathetestzu schreiben,von dem siewusste,
dass er für einige sehr wichtig war.Aber solcheTypen wie Fabiostörte
es wahrscheinlich nicht einmal, eineschlechteNote zu bekommenund vielleicht
den Abschluss nicht zu schaffen.
Jetzt saß Anja an
ihrem Schreibtisch und brüteteüber schwerenTrigonometrieaufgaben.
Sie war an einem Punkt angelangt,an dem sie einigenSchülern Fünfen
und Sechsen wünschte. Siehätte frühernicht gedacht, dass Schüler
so wenig Benehmenhabenkonnten und dieAutorität des Lehrers total mißachteten.In
Kirchdorfhatte siesich mit ihren Schülern immer blendend verstandenund
mit einbißchenDruck und Härte hatte sie auch die auffälligenKinder
in den Griffbekommen. Aber hier in Hasseln hatte sie einfach keineChance:
die Jugendlichenboycottierten ihren Unterricht und versuchten alles,um sie
fertig zu machen.So wurde sie auch schon anonym angerufen und beschimpftoder
sie hatte einmaleinen Drohbrief bekommen, in dem gefordert wurde, siesolle
eine bestimmteEnglischarbeit nicht werten, da sonst ein Unglückpassieren
würde.Es war jedenfalls nicht die Art von Streichen, die siekannte,sondern
grenzteans ernsthaft Kriminelle. Aber wenn sie es nicht anderswollten,würdesich
Anja eben mit Tests und mündlichen ÜberprüfungenzurWehr setzen.
Zur Not würde sie eben jede zweite Stunde eine Arbeitschreibenlassen.
Anja war gerade mit dem Entwerfen des Tests fertig
als die Tür ihresArbeitszimmers aufging und Daniel hereinkam: "Mam,
Telefon für dich."
"Wer ist es denn?", fragte sie und überlegte,
wer sie denn um dieseZeit,es war bereits nach neun Uhr, noch anrufen würde.
Neugierig gingsieanden Aparat: "Hallo, hier ist Anja Hoffmann..."
"Hallo Süße...", flüsterte eine Stimme
am anderen Ende, "wenndu wirklich vorhast, einen Test zu schreiben, muss
dein süßerkleinerSohn dran glauben." Dann wurde aufgelegt, ohne
ihr die Chance einerAntwortzu lassen. Zitternd legte Anja der Hörer
auf Das konntedoch nichtwahr sein! Sie trank ihren inzwischen kalten
Kaffee aus und brauchteeinenMoment um wieder klar denken zu können.
Zwar hatte sie jetzt wirklichAngst um Daniel, aber sie würde sich von
denen nicht einschüchternlassen. Zumindest wusste sie, dass sie keine
Angst oder Schwäche zugebendurfte, denn diese Typen würden das
schamlos ausnutzen.
Als sie das Wohnzimmer betrat, saß Daniel ihr
zwölfjährigerSohn auf dem Sofa und las den neuesten Harry-Potter-Band.
Während sieihn beobachtete, dachte sie darüber nach, ob sie ihn
morgen nicht einfachzuhause lassen sollte. Schließlich war Dani das
Einzige, was sie nochhatte, seit Karsten sie verlassen hatte, und wenn dem
Jungen auch nur einHaar gekrümmt werden würde, würde sie sich
ihr Leben langVorwürfemachen.
"Dani", schlug sie nach einer Weile vor, "was hälst
du davon, wenn dumorgen einfach die Schule schwänzt?"
Mit großen Augen sah Daniel sie an und erwartete
eine Erklärung,die Anja ihm nicht geben konnte. Trotzdem war sie sicher,
dass sie richtighandelte, und so konnte sie in dieser Nacht doch noch irgendwann
schlafen.
Am nächsten Morgen wachte sie jedoch sehr plötzlich
auf und erinnertesich dunkel an einen Alptraum. Als sie dann auf die Uhr
sah, bemerkte sie,dass sie schon sehr spät dran war und sich beeilen
musste, wenn siesichnicht verspäten wollte. Gehetzt setzte sie Kaffeewasser
auf, zogsichan und fuhr dann los. Erst als sie ihren Wagen auf dem Parkplatz
abstellte,fiel ihr der Kaffee wieder ein. Aber dazu war es jetzt zu spät.
Siehattejetzt andere Sorgen. Daniel würde es schon merken, wenn es inder
Küchepenetrant nach Kaffeeduft roch. Außerd3em war das nichtso
wichtig.
So nervös wie heute war sie noch nie gewesen.
Gleich in der ersten Stundehatte sie Mathe in der zehnten. Aber das war vielleicht
auch gut so, dannhatte sie es wenigstens hinter sich.
Mit zitternder Hand drückte sie die Klinke herunter
und trat so normalwie irgend möglich in den Raum. Die Schüler saßen
wie immerauf den Tischen und schienen sie nicht zu bemerken. Ohne ein Wort
zu sagenverteilte sie die Arbeitsblätter, die sie am Abend zuvor erstellt
hatteund zwang sich zur Ruhe. Genau wie sie es erwartet hatte kehrte Schweigen
ein. Nur Fabio und seine Freunde Torben und Slava sahen sie einen Momentgiftig
an, standen dann auf, zerknüllten den Zettel, um ihn Anja insGesicht
zu schmeißen, und verließen dann den Raum. Obwohl dieanderenden
"phatten" Abgang bewunderten, waren sie doch zu feige, oder besserzuklug,
ihnen nachzulaufen. Und Anja dachte sich, dass sie schon noch sehenwürden,
was sie davon hatten. Eigentlich war sie sogar froh, dass diedrei, die sie
am wenigsten mochte, sie heute nicht stören würden.
Kurz nach dem Klingeln sammelte sie die Tests ein
und zwang sich, nicht weiterüber Fabio, Torben und Nico nachzudenken.
Als sie mittags zum Parkplatz hinunterging, traf
sie Slava, in der Hand einTaschenmesser. Ohne seinen heuchlerisch freundlichen
Gruß zu erwidernging sie zu ihrem Auto und besah sich den Schaden:
alle vier Reifen ihresalten Käfers waren zerfetzt und der Außenspiegel
war abgetreten.Obwohl sie genau wusste, dass es Torben gewesen war, brachte
es nichts, zurPolizei zu gehen, und außerdem war sie froh, dass nur
der Käferetwas abbekommen hatte. Nur musste sie jetzt eben zu Fuß
nach Hauselaufen und dann in der Werkstatt Bescheid sagen.
Von der Schule bis zur Neubausiedlung waren es zwanzig
Minuten, und wenndieStraßen voll waren, brauchte sie mit dem Auto sogar
noch länger.Als Anja in ihre Straße bog, überkam sie plötzlich
ein ungutesGefühl. Sie konnte sich nicht erklären, warum, doch
sie spürte,dass etwas passiert war. Die letzten Meter rannte sie, und
als sie vor ihrerTür stand, sah sie, dass diese sperrangelweit offen
stand.
Anja stürzte in den Flur, unterdrückte
die in ihr aufsteigendePanikund rief nach Daniel. Keine Antwort. Anja zwang
sich, nicht hysterischzuwerdenund rief weiter nach ihrem Sohn, während
sie in allen Zimmernnachsah.Dabei stellte sie fest, dass diese miesen Kriminellen
ihre ganzeEinrichtungzerstört hatten, Bilder waren von der Wand gerissen,
Möbelumgeworfenund etliche Scherben lagen auf dem Küchenfußboden.
Dann hörte sie plötzlich ein Wimmern, das
aus dem Keller kam. Siestürzte zur Kellertür, schloss auf und den
heulenden, blutendenDani in ihre Arme. Die Schweine hatten sich doch tatsächlich
an einemElfjährigen vergriffen, dachte sie, fing an zu weinen und küsste
ihren Sohn auf die Stirn um ihn zu trösten. Doch diesmal waren sie zu
weit gegangen. Diesmal konnte sie sie bei der Polizei anzeigen. Daniel würde
die Jungen wiedererkennen, die ihn verprügelt hatten, und Fabio undseine
Freunde würden in eine Erziehungsanstalt kommen.
"Mam, sie hatten schwarze Kapuzen auf und...", schluchtzte
Dani, "sie habengeklingelt und wollten... und dann haben sie gesagt, dass
du schuld bistundhaben auf mich eingeschlagen."
Anja nahm ihren Sohn ganz fest in die Arme, strich
ihm übers Haar undflüsterte: "Aber nun ist es vorbei, mein Schatz.
Ich werde nicht zulassen,dass dir noch einmal jemand etwas tut."
Drei Wochen später packte Anja den letzten Koffer
in ihren Käferund schloss die Haustür ab. Sobald sie einen Käufer
für dasHaus gefunden hatte, würde sie Hasseln für immer hinter
sich lassen.Hier war einfach nicht der richtige Platz für sie. Allerdings
wolltesie sich nicht eingestehen, dass sie i Wirklichkeit vor Fabio und der
zehntenKlasse floh. Natürlich hatte sie die
Polizei informiert, und HauptkommissarVoß
hatte auch wirklich allesgetan, was in seiner Macht stand, umdenJungen den
Überfall zu beweisen,aber die hatten leider keine Spurenhinterlassen,
und so musste man sie schließlichgehen lassen. Und daAnja Angst vor
neuen Attacken hatte, hatte sie beschlossen,aus Hasseln wegzuziehenund wieder
in ihrer alten Schule anzufangen. In Kirchdorfherrschte sowiesoLehrermangel.
Jetzt war es endlich soweit. Sie hatte zwar die Schlacht
gegen ihre Schülerverloren, aber sie konnte nicht verantworten, dass
Daniel noch etwas zustieß.Sollte sich doch ein anderer mit Fabio und
Co herumschlagen.
Gerade als Anja den Kofferraum zuschlug und in den
Wagen steigen wollte,sahsie Slava, eine Zigarette rauchend, an der Straßenecke
stehen.Die freuensich über ihren Sieg, dachte sie und wollte so schnell
wiemöglichverschwinden. Doch in dem Moment kam Slava auf sie zu. Anjafragte
sich, waser wohl wollte und wartete.
Vielleicht hätte sie lieber fahren sollen, aber
sie war doch neugierig.Slava stand jetzt vor ihr und starrte sie schweigend
an.
"Was ist?", fragte Anja in unfreundlichem Ton, der
jedoch nur ihre Unsicherheitüberspielte.
Stockend begann der Junge zu reden: "Ich... Von dem
Einbruch, also von ihremSohn... Ich hab nicht gewusst, dass sie ihren Sohn
zusammenschlagen wollten..."
Erstaunt sah Anja ihm in die Augen. Sie hatte etwas
anderes erwartet. DochSlava erklärte ihr, was an dem Tag, an dem er
ihre Reifen zerstochenhatte, passiert war. Er gestand, dass die drei eigentlich
vorgehabt hatten,ihr Haus mit Graffity zu verschönern. Doch dann hätte
Fabio ihmden Auftrag gegeben, ihre Reifen zu zerstechen. Davon, dass Fabio
und TorbenDaniel zusammenschlagen wollten, hätte er nichts gewusst.
Anja sah ihn an. Es sah so aus als meinte er es ehrlich.
Anja glaubte ihmjedenfalls.
"Und wieso erzählst du mir das?", wollte sie
wissen.
Slava schwieg und sah vor sich auf den Boden.
"Es... es tut mir leid", murmelte er schließlich
so leise, dass Anjaes fast überhört hätte. Doch da sie es
gehört hatte,kehrtedie Hoffnung zurück. Vielleicht hatten die Schüler
hierdoch einenguten Kern und man musste nur länger suchen. Und vielleichttat
es Slavaso leid, dass er die Geschichte auch der Polizei erklärenwürde.
"Daniel", bestimmte sie, "wir bleiben hier.", worauf
der Junge sie erschrockenansah. Er wollte widersprechen, doch Anja kam ihm
zuvor: "Ich glaube", sagtesie mit einem Seitenblick auf Slava, "wir finden
doch noch jemanden, dergegenFabio aussagt..."
Als Antwort bekam sie ein stummes aber ehrliches
Kopfnicken.