Vorurteile
Um vier war seine letzte Vorlesung beendet,
und ermachte sich noch einmalauf den Weg in die Stadt, schließlich
war geradeSommerschlussverkaufund vielleicht fand er ja noch was. Eigentlich
war esPatrick ja ziemlichegal, ob Sommerschlussverkauf
war oder nicht, er liebte es zu jeder Zeit,durch die Geschäfte in der
Innenstadt zu streifen, denn Klamotten, sodachte er, konnte man nie genug
haben. Und außerdem wollte er heuteAbend noch mit Kim und Björn
nach Münster auf eine Technopartyfahren, da war ein neues Outfit genau
richtig.
Wenige Minuten später kämpfte er sich durch
die Menschenmasseninder Osnabrücker Fußgängerzone und ärgerte
sich übersolche Leute, die ständig zur Seite guckten aber dabei
nach vorne liefenoder andere, die plötzlich mitten auf der Straße
stehenbliebenund sich dann wunderten, wenn sie angerempelt wurden. Also ohne
Schlussverkaufmachte das Shoppen echt mehr Spaß.
"Hey, hi, Patrick...", hörte er plötzlich
eine Stimme neben sich.Er drehte sich um und musste für den Bruchteil
einer Sekunde überlegen,wen er da vor sich hatte. Die Stimme gehörte
Katrin Bergmann, sie wardamals in Hasseln auf
der Schule einen Jahrgangunter ihm gewesen, und erhatte sie öfter mal
auf den Abifeten getroffen.
"Hi Katie, gut siehst du aus", meinte er bewundernd,
aber das stimmte auch.Damals auf der Schule hatte sie immer so ein wenig
wie das Mauerblümchengewirkt, aber diesen Eindruck hatte man heute nicht
mehr. Sie hatte sichechtzu einer bildhübschen jungen Frau gemausert.
"Äh... was machst du eigentlich hier in Osnabrück?"
Sie lächelte ihn kurz an und erklärte:
"Ich studiere jetzt hier.Kunst und Englisch Lehramt. Schon seit dem letzten
Wintersemester. Eigentlichkomisch, dass wir uns noch nie getroffen haben..."
Ja, allerdings, denn so groß war Osnabrück
ja nun nicht, und selbstwenn er Katie nicht kennen würde, wäre
sie ihm bestimmt aufgefallen,wenn sie ihm über den Weg gelaufen wäre.
"Hast du Lust, 'n Kaffee mit mir trinken zu gehen
oder bist du in Eile?",fragte sie und erstaunte Patrick damit schon wieder,
denn er hatte sie alseher schüchtern und zurückhaltend in Erinnerung.
Aber er stimmtezu und lud sie in sein Lieblingscafé ein.
Dort angekommen, setzten sie sich und bestellten
sich etwas und fingen dannsofort an, über alte Zeiten in Hasseln zu
sprechen und sich zu erzählen,was sie in der Zwischenzeit so gemacht
hatten. Er erzählte Katie, dasser seinen Modeljob fürs Mathestudium
an den Nagel gehängt hatte,da das doch zu viel wurde, beschrieb ihr,
wo er jetzt wohnte, gab zu, dasser nur noch sehr selten in Hasseln war, da
ja seine ehemalige Clique auchin alle Welt verstreut war, und sie erzählte,
dass sie fast jedes Wochenendenach Hasseln fuhr, berichtete kurz über
den neuesten Klatsch dort unddas sie ja auch schon seit über zwei Jahren
mit Thomas zusammen war.
"Mit welchem Thomas?"
"Groß, Thomas Groß
. Du kennst ihndoch oder?"
Patrick hätte beinahe seine Tasse fallen lassen.
Natürlich kannteer Thomas Groß. Zumindest vom Sehen her. Aber
das reichte um zu wissen,dass der der größte Prolet in ganz Hasseln
war, der abends mitzwielichtigen Typen am Bahnhof rumhing, auf jeder Zeltfete
besoffen war undmit jedem Mädel in Hasseln schon mal in der Kiste gewesen
war. Und mitdem sollte Katie zusammen sein? Diese tolle Frau mit einem solchen
Idioten?Genausogut hätte man Jenny Elvers mit Jürgen Domian verkuppelnoder
Sven Väth zum Musikantenstadl einladen können. Aber er sagtebesser
nichts dazu, denn wenn sie mit Thomas zusammen war, wäre es bestimmt
nicht sonderlich klug, jetzt über ihn herzuziehen. Deshalb murmelteer
nur: "Ja, zwei Jahre is ne lange Zeit..." und lenkte dann das Gespräch
auf ein anderes Thema.
In den nächsen Tagen traf er Katie öfter,
ging mit ihr indie Mensa, zog mit ihr durch die Kneipen, führte äußerstinteressante
Gespräche mit ihr, nur wenn sie auf Thomas zu sprechenkam, hielt ersich
mit seiner Meinung über ihren Freund lieber zurück.Im Laufeder
Zeit entwickelte sich zwischen den beiden eine richtig guteFreundschaft,aber
auch, wenn Patrick sich vielleicht mehr versprochen hätte,sagteer ihr
das nicht, denn das wäre bestimmt kein kluger Schachzuggewesen.
Irgendwann fuhr Patrick dann mal für ein Wochenende
zu seinen Eltern,und als er Katie fragte, ob er sie dann gleich nach Hasseln
mitnehmen sollte,meinte sie: "Ja klar, und dann können wir ja abends
auch gleich zusammennoch ins
Infinity gehen, da legt Kai Tracid auf, und da wollte ich mit Thomassowieso
hin."
Patrick schluckte, nickte dann aber nur und traf
sich also am darauffolgendenAbend mit ihr und ihrer großen Liebe vor
der Disco. Wider erwartenwurdeThomas sogar in den Nobelschuppen reingelassen
und gab auch PatrickkeinenGrund zu Beanstandung. Genaugenommen war Thomas
sogar recht nett,wirkte nichtwie die Typen mit denen er früher rumgehangen
hatte, warnicht besoffenund versuchte sogar ein richtiges Gespräch anzufangen.Aber
Patrick gingtrotzdem nur flüchtig darauf ein, ging Thomas ausdem Weg
und mischtesich bald unter die Tanzenden. So ein Typ ändertesich doch
nicht vonheute auf morgen, selbst wenn Katie sowas mal behauptethatte. So
feiertePatrick zu den Technobeats des DJs richtig ab, traf hierund da einige
Freundeund Bekannte und machte sich keine Gedanken um Thomasoder darum, dass
ereigentlich super eifersüchtig auf ihn war. Wiesobekam so ein Proll,
der früher wirklich mit jeder gepoppt und sie dannsitzengelassen hatte
jetzt so eine traumfrau und er war seit fast drei Monatensolo?
Nach etwa zwei Stunden brauchte Patrick eine Pause
und er setzte sich zuBjörn an die Bar, der
heute mal wieder aushilfsweise im Infinityarbeitete.Als Björn mal ein
paar Minuten Zeit hatte und sich zu ihmsetzte, überlegteer, ob er ihm
erzählen sollte, was in ihm vorging,aber bevor er dazukam, tauchten
plötzlich Katie und Thomas auf und setztensich zu ihnen.
"Hi, ihr kennt euch?", fragte Thomas an Patrick und
Björn gewandt, undPatrick hätte Björn in dem Moment am liebsten
das gleiche gefragt,denn eigentlich wusste er, dass gerade Björn solchen
Typen wie Thomasaus dem Weg ging und auf einen besseren Umgang Wert legte.
"Ja, ich hab vor meiner Ausbildung ein Semester Mathe
in Osnabrück studiertund dann aber aufgegeben. Aber mit Patrick hab
ich immer noch guten Kontakt.",beantwortete Björn Thomas Frage und brachte
dann allen etwas zu trinken.Irgendwie fühlte Patrick sich wie vor den
Kopf geschlagen. Warum jederdiesen Thomas Groß und gab sich auch noch
mit ihm ab?
Diese Frage stellte er dann auch Björn als Katie
und Thomas nach einerweile wieder auf der Tanzfläche verschwanden.
"Ach, kennen ist eigentlich zu viel gesagt", erklärte
Björn, "erist nur eben ab und zu im Infinity, und vor ein paar Wochen
hab ich mal mitKatie geflirtet und er kam dazu und wurde eifersüchtig.
Na und seitdemreden wir halt ein paar Worte miteinander."
Zumindest das mit dem Flirten konnte Patrick gut
verstehen.
"Und ich dachte immer du hast was gegen Prolls..."
Als Björn ihn daraufhin nur fragend ansah, klärte
er ihn kurz überThomas Groß bewegte Vergangenheit auf und erzählte
ihm, was überden Typen geredet wurde.
"Echt? Also auf mich macht er einen wirklich sympatischen
Eindruck. Und Katieganz genauso..."
Ja, da stimmte Patrick ihm zu und erzählte ihm
dann auch endlich, waser vorhin schon hatte sagen wollen. Björn hörte
ihm zu, fragtedann,ob er vielleicht einfach nur eifersüchtig auf Thomas
war und ober seineVorurteile denn bestätigt bekäme, dann musste
er aberwieder andie Arbeit. Patrick blieb grübelnd zurück. Vorurteile?Ja
gut, erhatte Thomas früher nicht wirklich gekannt, aber... Oderverhielt
ersich im Moment wirklich nur schrecklich kindisch und dumm? Antwortenauf
seineFragen bekam er nicht, nur nach etlichen weiteren Stunden auf derTanzfläche
auf dem Weg zum Auto eine neue Frage.
"Hast du morgen abend schon was vor, oder kommst
du mit uns in den Keller?",wollte Katie von ihm wissen.
Und da Patrick jetzt wirklich wissen wollte, ob es
echt nur Vorurteile waren,die er über Thomas hatte oder ob es sich lohnte,
um Katies Gunst dochnoch zu kämpfen, sagte er schließlich zu.
Am Sonntagabend saßen sie also zu dritt im
Keller
, Patrick und Thomasmit einem Bier, Katie mit einem Cocktail, undredeten
über Gott unddie Welt. Und das, was Thomas sagte klang zumindestnicht
nur nach Saufen,Ficken und Rumgammeln. Er erzählte, dass er nachder
Schule den Hofseiner Großeltern übernommen und zu einer ArtWestern-Ranch
ausgebauthatte und dass er eigentlich erstmal noch eine Ausbildungmachen
wollte,bevor er sich beruflich so sehr festlegte, aber dass das seinemOpa
das Herzbrechen würde, da der Hof, wenn er ihn nicht gewollt hätte,
hätteverkauft werden müssen. Alles in allem hörte sich das
nicht nachjemandem an, der in den Tag hineinlebte, sondern klang echt vernünftig.
Und noch dazu musste Patrick auch zugeben, dass Thomas echt unterhaltsamwar
und sie wirklich interessante und witzige Themen hatten. Vielleicht hatte
Patrick sich wirklich kindisch und dumm verhalten und musste seine Meinung
über Thomas wirklich noch mal überdenken. Dass Katie und Thomas
zu allem Übel aber auch noch ein sehr schönes Paar waren und irgendwie
echt gut zueinander passten, machte die sache nich unbedingt leichter.
Als Katie kurz darauf auf die Toilette ging waren
Patrick und Thomas geradedabei, über Underground und Kommerz in der
Techno-Szene zu diskutieren,doch sobald Katie außer Hörweitw war,
brach Thomas das Thema abund fragte direkt: "Sag mal, was hast du eigentlich
gegen mich?"
"Wie kommst du darauf, dass ich was gegen dich habe?",
Fragte Patrick erstauntund irgendwie ertappt zurück.
"Weil ich nicht so blond bin wie ich aussehe."
Thomas fixierte ihn mit seinem Blick und Patrick
wusste, er würde nichtlocker lassen, bis er ihm eine Antwort gegeben
hatte.
"Na ja, du weißt, was über dich geredet
wird", begann er ehrlichzu erkläre, "Du steigst mit jeder ins Bett und
hast nur Scheißeim Kopf und hast einfach nen beschissenen Ruf hier
in Hasseln."
"Ja stimmt, aber ich bin nicht mehr so wie mit achtzehn.
Ich bin seit überzwei Jahren mit Katie zusammen, kümmere mich um
den Hof und hab glaubich mehr im Kopf als nur Saufen und Ficken. Ach, und
nur mal so nebenbei...wie lang war denn deine längste Beziehung bisher?"
Patrick schluckte und meinte dann entschuldigend:
"Neun Monate mit Véronique.Deshalb bin ich ja auch gerade dabei, meine
Meinung über dich zu revidieren..."
Damit gab Thomas sich zufrieden, bestellte für
beide noch ein Bier underzählte ihm dann sehr offen, dass es ihn ziemlich
ankotzte, wenn alleLeute ein bestimmtes Bild von ihm im Kopf hatten und nicht
verstehen konnten,dass er jetzt nicht mehr so war wie früher. Besonders
störte ihndas, sagte er, weil das leider auch Katie zu spüren bekam
und oft dummeSprüche an den Kopf geworfen bekam, die sie nun wirklich
nicht verdienthatte. Und dann konnte Patrick einfach nicht anders und erzählte
Thomas,was er im ersten Moment als er Katie getroffen hatte, für sie
empfundenhatte und dass er tierisch eifersüchtig gewesen war.
"Also damit musst du irgendwie klarkommen, denn meine
Katie geb ich nichther!"
"Ich denke, das werd ich auch, denn ich muss leider
zugeben, dass ihr einechtes Traumpaar seid."
Kurz darauf kam Katie zurück und sie redeten
wieder über andereDinge. Aber das Eis zwischen Thomas und Patrick war
gebrochen, Patrick fandsich irgendwann mit dem Gedanken ab, keine Chance
bei Katie zu haben und die drei trafen sich nun öfter. Und drei
Wochen später stellteKatie Patrick ihre Komilitonin Dana vor, und auch
wenn es vielleicht kitschigklingt, aber Patrick und Dana verliebten sich
ineinander und man zog vonda an zu viert los.
Christian Dolle, 02/2001