Zeltfete



Zehn Minuten später kamensie am Schützenplatz an , auf dem sowohl zahlreiche Jahrmarktsbudenalsauch das Zelt aufgebaut war . Mittlerweile war es dunkel geworden unddasGeländewurde nur noch durch die bunten Lichter des Marktes erhellt.Dazu kam derGeruch, eine Mischung aus Zuckerwatte , Bratwurst , Bier, Waffeln, wie eseben aufJahrmärkten üblich war und die Musik, die natürlichaus demZelt , aber auch aus den Buden und den nochgeöffneten KarussellsunddemAutoscooter drang . Irgendwie verband Natalie diese Atmosphäre immer mit verschiedensten Kindheitserinnerungen, wassie in ausgelassene Stimmung versetzte .
Aber es war auch erstaunlich voll hier . Viele Kinder drängten sie umdie Karussells , viele Jugendliche hingen am Autoscooter herum und erstaunlichviele Leute strömten aufs Zelt . Und schon als sie hergekommen waren, war Natalie aufgefallen , wie viele Autos überall parkten . Einigestanden sogar noch bis in die Kreiensener Straße . Das war füreinen Sonntagabend absolut untypisch .
„ Scheint ja doch ganz schön was los zu sein “ , bemerktejetzt auch Katja .
„ Ja , sieht fast so aus , als würde irgendeine gute Band spielen. Ich hab’ aber gar kein Plakat gesehen . “
Doch gerade in dem Moment als sie es aussprach , fiel Natalies Blick aufeinneongrünes Ankündigungsplakat . Sie las es sich durch und schluckte. Der Grund für den übermäßigen Ansturm war leider keinegute Band . Aber noch bevor sie etwas sagen konnte , hörte sie eineStimmehinter sich : „ Hi , Natalie , ... wow , wer hätte gedacht, daßes dich auf ein Zelt mit Schnitten - Show zieht ; ... das istecht der Hammer! “
Der Typ , dem die Stimme gehörte , war Johannes Hagen . Er ging in ihrenJahrgang und war heute höchst erstaunlicherweise nicht mit seiner Freundin, sondern mit einigen Kumpels unterwegs .
Natalie wäre am liebsten im Boden versunken . Jo hatte schon recht :es war echt der Hammer , sie hier anzutreffen . Ausgerechnet sie , die Emanze, die Männerhasserin , die Streberin , der alles zu primitiv war , wasnicht von Goethe oder Schiller stammte ! Sie mochte gar nicht daran denken, was Jo im Jahrgang ‘rumerzählen würde ; und erst rechtnichtdaran , wie Dominick sie aufziehen würde.
Sie war nur froh , daß Jo und seine Kumpels sofort auf den Eingangzusteuerten, und er nicht jetzt schon irgendwelche dummen Sprüche vomStapel ließ. Am liebsten hätte sie sofort wieder kehrtgemachtund wäre nachHause gefahren . Aber jetzt , wo sie sowieso schon gesehenworden war , undman sie morgen sowieso anmachen würde ...
Katja brach schon wieder in Lachen aus , was Natalie plötzlich ziemlichauf den Keks ging .
„ Mann , nun hab’ dich nicht so ! Wir können doch trotzdemSpaß haben . “
„ Ach ... “ , gab Natalie skeptisch zurück und sah erstKatjaungläubig an und sich dann zweifelnd um . Es waren wirklich erstaunlichviele Jungs hier , alles Chauvies , Machos und Proleten . Und alle hatteneinen Ausdruck im Gesicht , als erwarteten sie , heute abend würdenWeihnachtenund Ostern auf einen Tag fallen . Männer waren doch so primitivund sosexistisch ! Wie konnte ein Mensch mit normalem Verstand nur auf einesolcheVeranstaltung gehen ?
Katja unterbrach ihren Gedanken .
„ Auf jeden Fall gibt es doch genug Jungs hier . Da werden wohl auch‘n paar Schnitter dabei sein . Vielleicht findest du ja endlich deinenMr. Right ... “
Natalie sah ihre Freundin entsetzt an : „ Ich will aber keinen Typen, der mit heraushängender Zunge  sabbernd vor einer Bühnestehtund mit starrem Blick auf die Titten so einer Stripper - Tuse glotzt! “
Katja amüsierte sich über Natalies Erregung , überredete sieschließlich aber doch , ‘reinzugehen , mit dem Argument , daßfür Frauen der Eintritt frei sei .
Leicht angesäuert reihte Natalie sich in die Schlange vorm Eingang einund fragte sich immer noch , warum sie bloß hier war , und was eineFrau dazu bringen konnte , sie so zu prostituieren . Aus dem Inneren desZelteshörte sie gute Musik , aber auch einen D. J. , der die AmsterdamerDream- Ladies in höchsten Tönen ankündigte , das Publikumum nochetwas Geduld bat und dauernd zweideutige Bemerkungen machte .
Nur Stück für Stück kamen sie dem Eingang näher . Undals sie endlich drin waren , wurden sie dauernd angerempelt , so daßsie Mühe hatten , sich nicht aus den Augen zu verlieren . Wie erwartetwaren fast keine Frauen unter den Besuchern . Warum auch ?
Außerdem war es viel zu warm hier drinnen und die Musik war selbstfüreine Zeltfete zu laut . Plötzlich tippte Natalie jemand aufdie Schulter, und sie drehte sich um . Es war ein großer , hellblonderJunge , dereine Jeansjacke trug und ihr irgend etwas zu sagen versuchte. Verstehen konntesie ihn nicht , da sie nur die Techno - Rhythmen hörte, und die Kunst, von den Lippen abzulesen , beherrschte sie zu ihrem Bedauernauch nicht.Also zuckte sie mit den Schultern , schüttelte den Kopfund forderteihndamit auf , lauter zu schreien .
„ Willst du ‘was mit mir trinken ? “ , brüllte erihrins Ohr .
„ Danke , im Moment nicht “ , schrie sie zurück und wollteschon entnervt weitergehen . Aber der Typ gab noch nicht auf .
„ Und wann möchtest du ? “ brüllte er wieder .
„ Wenn Esel fliegen können ... “ , gab sie zurück ,und es war ihr ziemlich egal , ob er sie verstanden hatte . Sie ging einfachweiter und fluchte in sich hinein , da sie Katja jetzt durch diesen Idiotenverloren hatte . Sie drängelte sich weiter durch die Menge , wußteaber , daß es ziemlich aussichtslos war , Katja in den nächstenzehn Minuten wiederzufinden .
„ So , Leute , ich hoffe , ihr seid immer noch gut drauf ... “, rief jetzt der D. J. , was die Menge durch ein Grölen bestätigte, „ ... jetzt geht es nämlich los ! Jetzt kommt das , worauf ihrschon den ganzen Abend gewartet habt ! “
Wieder ein Grölen .
Natalie war nur froh , daß sich die Bühne am anderen Ende desZeltesbefand und sie nicht im schlimmsten Gedränge stand . Aber auchhier hintenwar es noch voll genug , so daß sie den Plan , Katja zusuchen , schnellwieder aufgab . Sie blieb nahe der Wand stehen und überlegtesich , daßes das beste wäre , hier zu warten , bis sich allediese sexistischenKerle , die ihre Blicke starr auf die noch leere Bühnerichteten undnichtsum sich herum mehr wahrzunehmen schienen , sich ganznah vor der Stätteder Erfüllung , dem Ort der Lust , dem Objektihrer Begierde drängtenund sich hoffentlich gegenseitig tottrampelten. Noch während Nataliein Gedanken alle Männer dieses Planetenauf direktem Weg in die Höllewünschte , wurde sie plötzlichvon einem Jungen angerempelt undbeinaheumgerannt . Nur im letzten Momentkonnte sie sich noch fangen . Aberder Jungeschien das überhaupt nichtzu merken . Er stürmte aufeinen Tisch, der an der Wand stand , zu, kletterte darauf , reckte sichund starrte nachvorne , um auch ja nichtsvon der tollsten Show der Weltzu verpassen .
„ Entschuldigung ... “ , rief ihm sein Kumpel zu den er hintersich hergezogen hatte , der aber scheinbar nicht ganz so blind vor Erregungzu sein schien .
„ Einen giga - mega - turbo - Applaus für Jenny !!! “ ,brülltejetzt der D.J. wieder und erntete ein aufgeregtes , begeistertesGrölen, das von enthusiastischen Pfiffen umrahmt wurde .
Der Tisch hatte sich inzwischen bis zum Zusammenbrechen gefüllt undderTyp , der  Natalie umgerannt hatte , sowie auch alle anderen warenvölligaus dem Häuschen .
Scheinbar hatte die Show begonnen . Natalie war nur froh , daß sienichtsehen mußte , was da vorne vor sich ging . Aber das Bild , dassichihrhier bot , war auch nicht schlecht . Der Junge auf dem Tisch standmitdenHändenin den Hosentaschen und vorgebeugtem Oberkörpervölligstarr da ,den Blick wohl auf Jenny oder zumindest bestimmteKörperteilevon ihrgerichtetund bekam scheinbar nichts mehr mit ,was um ihn herum geschah.Der Typ warmittelgroß , blond , bestimmtnicht älter als sechzehn, trug weitebeige Rapperjeans und einen braunenPullover mit weißenStreifen aufdenÄrmeln , und Natalie fragtesich , ob er wohl eine Freundinhatte, diejetzt Zuhause saß , undder er erzählt hatte , er müssezurSilberhochzeit seiner Großtanteoder so etwas .
Wieso guckten Jungs sich sowas an ? Wieso brauchten Männer solche Attraktionen? Wieso war das männliche Geschlecht so animalisch und primitiv ?
Natalie hatte genug . Sie wollte nur noch raus hier , Katja suchen und dannnichts wie weg . Entschlossen strebte sie dem Ausgang entgegen , was allerdingsgar nicht so einfach war . Überall standen Kerle herum , die sie mitlüsternen Blicken beobachteten . Vielleicht war das auch nur Einbildung, aber wie auch immer , Natalie wollte nur weg hier .



Nach Jennys Auftritt sprang Thomas begeistertvomTisch , hatte ein versonnenes Lächeln aufdemGesicht und zupfte Roman am Ärmel .
„ Hey , die Keine ist voll geil . Laß uns mal versuchen , weiternach vorne zu kommen . “
Ohne eine Antwort abzuwarten , drängelte er sich durch die Menge undhoffte , daß Roman hinter ihm herkommen würde . Und tatsächlichgelang es ihnen , bis in die erste Reihe vorzudringen . Wenn sie hier stehenbliebenbis die nächste Schnitte ihren Auftritt hatte , hatten sie die bestenPlätze . Doch im Moment spielte der D. J. einen heißen Sommerhitdes vergangenen Jahres , und es wurde getanzt , so gut es bei der Vollheiteben ging . Von den Titten - Schnitten war nichts zu sehen . Also beschloßThomas auch erstmal zu tanzen , achtete aber sorgsam darauf , vorne an derBühne zu bleiben . Er wollte den nächsten Auftritt nicht verpassen. Jenny war schon nicht schlecht gewesen , hatte viel zu bieten gehabt ,konntesich gut bewegen und sah nicht schlecht aus . Aber sie war bestimmtnoch nichtdas beste , was die Show zu bieten hatte ...
Roman hielt ihn am Arm fest und rief irgendetwas .
„ Hä ? “ , brüllte Thomas zurück . Er hatte keinWort verstanden .
„ Ob wir was trinken wollen ... ? “ , schrie Roman jetzt lauter.
„ Bist du bescheuert ? Die Show geht gleich weiter ! “
Und dann war es auch schon so weit . Überschwenglich kündigte derD.J. Natascha an , und sein Publikum drängte sich wieder ganz dichtvordie Bühne . Thomas hatte einige Mühe , seinen Platz zu behauptenund nicht von einem fetten Blonden mit schweißnassem Hemd abgedrängtzu werden . Es war geradezu unglaublich, wieviele Leute sich auf so engemRaum zusammenquetschen konnten .
Dann trat Natascha in einem sexy Outfit in Silber hinter einem Vorhang hervor, und die Zuschauer , unter denen sich merkwürdigerweise auch einigeMädchen befanden , begannen zu grölen . Dazu erklangen die Klängeeines schnellen Technoliedes . Natascha war im Gegensatz zu Jenny dunkelhaarig, braungebrannt , hatte aber auch eine klasse Figur, lange Beine , ein interessantesGesicht , einen knackigen Po und mächtige Oberweite . Ihre Bewegungenwaren verführerisch und rassig . Je weiter sie sich auszog , desto lauterpfiffen und kreischten die Zuschauer . Auch Thomas wurde heißer undheißer . Sie war genau sein Typ , und er stellte sich vor , sie würdenur für ihn allein tanzen ...
Bald hatte sie nur noch ein knappes schwarzes Spitzenhöschen an undforderteeinige Zuschauer mit Gesten auf , auf der Bühne mit ihr zutanzen . Allerdingstraute sich noch niemand , und die , die sich nach einigerZeit trauten ,sprangensofort wieder in die Menge , wenn Natascha ihnenan die Wäscheging .Thomasversuchte sich vorzustellen , wie es wohlwäre , mit ihrzu tanzen. Wollenwürde er das schon , aber ganzbestimmt nicht hiervor allenLeuten . Schließlichhatte Natascha dannaber doch noch Glückundzog sich einen Tanzpartneraus dem Publikumauf die Bühne . Der Typsahnicht älter aus als sechzehn, warscheinbar schon etwas mehr alsleichtangeheitert und wurde lautstarkvonseinenKumpels angefeuert . Ertrug Jeans, ein T - shirt mit dem Aufdruck„Kampftrinker“ undhatte einSweatshirt um sie Hüftengeschlungen, welches Nataschaihmsofort abnahmund in die Menge schleuderte. Dann fingsie an , mit ihm zutanzen, strichihm  über die ultrakurzenHaare, drückte ihnfest ansich ,und ließ sich auch von ihmangrabschen. Thomas stelltesich vor, erwäre anstelle des Jungenda oben . Das wärebestimmtverdammtheiß,aber auch oberpeinlich.
Natascha hatte dem Kleinen jetzt auch das T - shirt ausgezogen und ging ihman die Hose . Thomas grölte genauso wie alle anderen , aber er überlegteauch , wie unfair es von den Kumpels war , den Kampftrinker dazu zu bringen, etwas zu tun , was er in nüchternem Zustand wahrscheinlich niemalstun würde . Im Grunde war es eklig , einen Freund so zum Gespöttaller Leute zu machen .
Die Tänzerin hatte ihm jetzt auch noch seine Schuhe und die Jeans ausgezogenund warf sehr zum Vergnügen der Zuschauer einen Blick in seine Unterhose. Dann machte sie eine abwertende Handbewegung und entledigte sich ihresTanzpartners, indem sie ihn zurück ins Publikum stieß . Diesesrastete jetztvöllig aus , johlte , kreischte , pfiff und applaudierte, und damitwarder Auftritt vorüber .
Thomas sah sich suchend nach Roman um , entdeckte ihn nirgends um kämpftesich dann dem Ausgang entgegen , da es hier im Zelt unerträglich warmund stickig war .
Scheinbar hatte Roman es genauso empfunden , denn als Thomas nach fast zehnMinuten endlich an die frische Luft gelangte , sah er ihn mit ein paar Typen, die er nicht kannte , vor einer Pommesbude stehen .
„ Hi , Mädels “ , begrüßte er ihn und die anderen.
Roman stellte ihm die vier anderen vor , die sich aber bald verdrückten.
„ Wieso bist du nicht drin’ geblieben ? “ , fragte Thomas, weil er nicht verstehen konnte , wie Roman sich diese Show hatte entgehenlassen können .
Roman verdrehte die Augen .
„ Erstens ist mir dieser fette , nach Schweiß stinkende Typ nebendir dauernd auf die Füße gelatscht , und zweitens habe ich bestimmtkeine Lust , mir anzugucken , wie Sascha Becker volltrunken über dieBühne stolpert . “
„ Hey , du kennst den Typen ?! “
„ Ja , der kommt auch aus Hasseln . Geht bei mir auf die Schule . “
Thomas zuckte mit den Schultern . Doch plötzlich kam ihm eine Idee .Seine Augen leuchteten , als er Roman fragte : „ Um wieviel wollenwirwetten , daß du dich nicht traust , bei der nächsten Schnitteaufdie Bühne zu gehen ? “
Roman schüttelte den Kopf : „ Keine zehn Pferde bringen mich dazu, mich so zu blamieren ! Und du schon gar nicht . “
Er sah ihn geringschätzig an , lächelte ironisch und setzte dannhinzu : „ Aber ich wette , du brennst schon darauf , mit so ‘nerTuse zu tanzen... “
„ Vergiß es ! Auch wenn ‘s so aussieht , aber so bescheuertbin ich nun auch wieder nicht . “
Thomas lief ein kalter Schauer den Rücken hinunter , als er daran dachte, auf diese Bühne gehen zu müssen . Er war sowieso nicht der Typ, der sich zur Schau stellen mußte , und lächerlich machen konnteer sich auch anders . Roman hatte schon recht, irgendwie war diese ganzeShowwar für Idioten . Trotzdem war ‘s lustig , und Thomas hatteseinenSpaß . Also warum sollte er irgendwelche spießigen moralischenBetrachtungen anstellen ?
Laß uns ‘was trinken . Ich zahle . “ , schlug er deshalbvor und kramte auch schon sein Portemonaie hervor .  





Christian Dolle, 05/1997 (Auszugaus"Rebel Yell") 
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