Maren Cronsnest, Athen  aus: junge Welt 12.6.02

Ringen um Gerechtigkeit
Höchstes Gericht Griechenlands verhandelte erneut über die Entschädigung von
Nazi-Opfern

Stathis Stathas aus dem griechischen Dorf Distomo hat aufgeschrieben, was am 10.
Juni 1944 geschah: »218 unserer Bürger sind an diesem Tag durch Angehörige der
Hitler-SS regelrecht abgeschlachtet worden. Unter ihnen alte Menschen, Schwangere,
noch nicht getaufte Babys. Sie alle opferten ihr Blut für die Freiheit unserer Heimat, für
Frieden und für die Zivilisation.« Wie viele andere auch fordert Stathis Stathas die
Entschädigung der Überlebenden des Massakers und der Hinterbliebenendurch
Deutschland. Ein Sprecher des Auswärtigen Amtes hat da eine etwas andere Sicht:
»Das ist einfach durch die Zeit und durch die Geschichte überholt. Dieser ganze Ansatz,
mehr als fünfzig Jahre später auf Entschädigung zu beharren«, äußert er gegenüber jW.
Ob »rot-grün« oder »schwarz-gelb« - der weiße Fleck im Gedächtniss scheint innerhalb
der deutschen Bundesregierungen vererbbar zu sein.
Rechtsanwalt Ioannis Stamoulis hilft auf seine Weise, die Erinnerung der deutschen
Öffentlichkeit aufzufrischen. Die Überlebenden des von der 2. Kompanie des
SS-Polizei-Panzergrenadier-Regiments 7 angerichteten Massakers und die
Hinterbliebenen fordern 23 Millionen Euro Entschädigung. Der Oberste Gerichtshof
Griechenlands, der Aeropag, bestätigte Mitte April 1999 ein Urteil des für Distomo
zuständigen Landgerichts Livadia, nach der Deutschland an die 296 Kläger zu zahlen
hat. Im vergangenen Monat fand sich nun das zwanzigköpfige Gremium des höchsten
Gerichts in Athen zusammen, um zu entscheiden, ob die Eintreibung deutscher
Schulden fortgesetzt werden kann.
Die Aeropag-Richter hörten sich die Argumentation beider Seiten mit unbewegter Miene
an. Die deutsche Argumentation blieb dabei unverändert. Die BRD und Griechenland
arbeiteten bilateral auch innerhalb der EU eng miteinander zusammen, Griechenland
profitiere doch auch davon - will heißen: Griechenlands wirtschaftliche Abhängigkeit
erlaubt eine harte Haltung der Bundesrepublik in der Entschädigungsfrage. Man hätte
doch Anfang der 60er Jahre schon 150 Millionen an Griechenland gezahlt, damit seien
alle Ansprüche abgegolten.
Eine kleine Überraschung bot sich am Ende der Verhandlung in der griechischen
Hauptstadt: Die in Deutschland lebende Gordana Milanovic aus der Stadt Kragujevac in
Jugoslawien hatte an der Verhandlung teilgenommen und überbrachte dem
kämpferischen Anwalt Grüße aus ihrer Heimatstadt. Hier waren am 21. Oktober 1941
7000 männliche Personen, darunter auch Schulkinder, von der deutschen Wehrmacht
erschossen worden. Rechtsanwalt Stamoulis versprach, die Grüße den griechischen
Opfern der deutschen Besatzung zu überbringen. Frühestens Ende Juni erwartet er die
Verkündung des Urteils im Fall Distomo. Wenn die deutsche Bundesregierung klug sei,
»sollte sie schon jetzt mit unserer Regierung ins Gespräch kommen«, rät er. »Wir
werden hartnäckig bleiben. Je länger die gerichtliche Auseinandersetzung dauert,
desto schlimmer wird es für die Deutschen.«

Interview von Maren Cronsnest

Entschädigung für Nazi-Opfer: Goethe bald unterm Hammer?

jW sprach mit Ioannis Stamoulis, Rechtsanwalt, ehemaliger Europaparlamentarier und
Anwalt der Überlebenden von Distomo (Griechenland)

In dem griechischen Dorf Distomo haben deutsche Truppen am 10. Juni 1944 ein
Massaker angerichtet. In einem aufsehenerregenden Prozeß hatten diese vor
griechischen Gerichten einen Schadensersatzanspruch gegen die Bundesrepublik
durchgesetzt

F: Vorletztes Jahr hat Griechenlands Oberster Gerichtshof (Aeropag) einen
Pfändungsbeschluß gegen das Deutsche Archäologische Institut in Athen sowie das
dortige Goethe-Institut gestoppt. Nun wurde der Fall im Mai erneut vor dem Aeropag
verhandelt. Worum ging es?

Um die Frage, ob die Pfändungen vollstreckt werden können. Bisher hieß es, es ginge
nicht ohne die Zustimmung des griechischen Justizministers, die dieser jedoch
verweigert. Wir halten eine solche Bestimmung für verfassungswidrig und meinen, daß
sie gegen die Menschenrechtskonvention verstößt. Deshalb wollten wir die
Rechtmäßigkeit klären lassen.

F: Können Sie das genauer erklären?

Nach unserer Verfassung ist die Justiz unabhängig von der Regierung. Das heißt, wenn
ein Urteil gefällt wird, muß es unabhängig von der jeweiligen Regierung vollstreckbar
sein. Die Vollstreckung der Pfändung der deutschen Liegenschaften von der
Zustimmung des Justizministers abhängig zu machen, ist also nicht legal. Das
griechische Gesetz erkennt zudem die Menschenrechtskonvention an, die vorschreibt,
daß die Staaten die Vollstreckung jedes Urteils garantieren, daß nach einer Klage gefällt
wurde. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechtsfragen in Strasbourg hat im
Fall der britischen Eheleute David und Ada Hornsby gegen Griechenland entschieden,
daß Urteile des Aeropags ohne Verzögerung vollstreckt werden müssen.

F: Die deutsche Seite argumentiert, daß die Pfändung gegen die Staatenimmunität
verstoße.

Genau darum geht es hier: Die Menschenrechte kommen in Konflikt mit der
Staatenimmunität. Die Frage, um die es auch geht: Wer hat das Recht, die
Entschädigung zu verlangen? Der Staat oder die Opfer? Nach der Haager Konvention
hat nur der Staat das Recht. Die Entscheidung des Kammergerichts von Livadia,
Griechenland, das im Herbst 1997 meinen Klienten 60 Millionen DM Entschädigung
zugestand, war die erste Entscheidung eines Gerichts, die Bürgern eines Staates
erlaubt, gegen einen anderen Staat zu klagen. Selbst die Bundesrepublik Deutschland
hat dieses Recht bisher nicht bestritten. Sie argumentiert lediglich mit der
Staatenimmunität. Das bedeutet eine Akzeptanz unserer Position.

F: Was für eine Entscheidung erwarten Sie?

Der Vorsitzende Richter und drei seiner Kollegen waren der Meinung, daß wir kein
Recht haben, mit dieser Klage beim Aeropag vorstellig zu werden. Die restlichen
sechzehn Richter waren anderer Auffassung. Wir erwarten also, daß demnächst eine
positive Entscheidung fällt.

F: Erhalten Sie Unterstützung aus der Bevölkerung?

Ja. In Griechenland hat fast jede Familie Opfer zu beklagen, die von den deutschen
Besatzern umgebracht wurden, oder ist in anderer Weise zu Schaden gekommen.

F: Sehen Sie Bewegung in der deutschen Position?

Die Bundesregierung befürchtet einen Präzedenzfall. Sie sollte sich aber darüber klar
werden: Ich habe beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte Beschwerde
eingelegt. Wenn Strasbourg positiv entscheidet, kann jeder Bürger eines jeden Landes
gegen Deutschland klagen. Deshalb glauben wir, daß die Deutschen gut beraten wären,
mit Hilfe der griechischen Regierung schnellstens eine Lösung zu finden.

F: Deutsche Gruppen wollen einen Distomo-Gedenktag einführen.

Wir freuen uns über jede Unterstützung. Einen Gedenktag in unserem Sinne gäbe es
aber erst, wenn die Forderungen der Opfer erfüllt sind. Wenn deutsche Freunde sich an
unseren Kampf aktiv beteiligen würden, wäre dies ein wahrer Beitrag für den Frieden.

junge Welt 12.6.02
 

Ringen um Gerechtigkeit
Höchstes Gericht Griechenlands verhandelte erneut über die Entschädigung von
Nazi-Opfern

Stathis Stathas aus dem griechischen Dorf Distomo hat aufgeschrieben, was am 10.
Juni 1944 geschah: »218 unserer Bürger sind an diesem Tag durch Angehörige der
Hitler-SS regelrecht abgeschlachtet worden. Unter ihnen alte Menschen, Schwangere,
noch nicht getaufte Babys. Sie alle opferten ihr Blut für die Freiheit unserer Heimat, für
Frieden und für die Zivilisation.« Wie viele andere auch fordert Stathis Stathas die
Entschädigung der Überlebenden des Massakers und der Hinterbliebenendurch
Deutschland. Ein Sprecher des Auswärtigen Amtes hat da eine etwas andere Sicht:
»Das ist einfach durch die Zeit und durch die Geschichte überholt. Dieser ganze Ansatz,
mehr als fünfzig Jahre später auf Entschädigung zu beharren«, äußert er gegenüber jW.
Ob »rot-grün« oder »schwarz-gelb« - der weiße Fleck im Gedächtniss scheint innerhalb
der deutschen Bundesregierungen vererbbar zu sein.
Rechtsanwalt Ioannis Stamoulis hilft auf seine Weise, die Erinnerung der deutschen
Öffentlichkeit aufzufrischen. Die Überlebenden des von der 2. Kompanie des
SS-Polizei-Panzergrenadier-Regiments 7 angerichteten Massakers und die
Hinterbliebenen fordern 23 Millionen Euro Entschädigung. Der Oberste Gerichtshof
Griechenlands, der Aeropag, bestätigte Mitte April 1999 ein Urteil des für Distomo
zuständigen Landgerichts Livadia, nach der Deutschland an die 296 Kläger zu zahlen
hat. Im vergangenen Monat fand sich nun das zwanzigköpfige Gremium des höchsten
Gerichts in Athen zusammen, um zu entscheiden, ob die Eintreibung deutscher
Schulden fortgesetzt werden kann.
Die Aeropag-Richter hörten sich die Argumentation beider Seiten mit unbewegter Miene
an. Die deutsche Argumentation blieb dabei unverändert. Die BRD und Griechenland
arbeiteten bilateral auch innerhalb der EU eng miteinander zusammen, Griechenland
profitiere doch auch davon - will heißen: Griechenlands wirtschaftliche Abhängigkeit
erlaubt eine harte Haltung der Bundesrepublik in der Entschädigungsfrage. Man hätte
doch Anfang der 60er Jahre schon 150 Millionen an Griechenland gezahlt, damit seien
alle Ansprüche abgegolten.
Eine kleine Überraschung bot sich am Ende der Verhandlung in der griechischen
Hauptstadt: Die in Deutschland lebende Gordana Milanovic aus der Stadt Kragujevac in
Jugoslawien hatte an der Verhandlung teilgenommen und überbrachte dem
kämpferischen Anwalt Grüße aus ihrer Heimatstadt. Hier waren am 21. Oktober 1941
7000 männliche Personen, darunter auch Schulkinder, von der deutschen Wehrmacht
erschossen worden. Rechtsanwalt Stamoulis versprach, die Grüße den griechischen
Opfern der deutschen Besatzung zu überbringen. Frühestens Ende Juni erwartet er die
Verkündung des Urteils im Fall Distomo. Wenn die deutsche Bundesregierung klug sei,
»sollte sie schon jetzt mit unserer Regierung ins Gespräch kommen«, rät er. »Wir
werden hartnäckig bleiben. Je länger die gerichtliche Auseinandersetzung dauert,
desto schlimmer wird es für die Deutschen.«

Interview von Maren Cronsnest

Entschädigung für Nazi-Opfer: Goethe bald unterm Hammer?

jW sprach mit Ioannis Stamoulis, Rechtsanwalt, ehemaliger Europaparlamentarier und
Anwalt der Überlebenden von Distomo (Griechenland)

In dem griechischen Dorf Distomo haben deutsche Truppen am 10. Juni 1944 ein
Massaker angerichtet. In einem aufsehenerregenden Prozeß hatten diese vor
griechischen Gerichten einen Schadensersatzanspruch gegen die Bundesrepublik
durchgesetzt

F: Vorletztes Jahr hat Griechenlands Oberster Gerichtshof (Aeropag) einen
Pfändungsbeschluß gegen das Deutsche Archäologische Institut in Athen sowie das
dortige Goethe-Institut gestoppt. Nun wurde der Fall im Mai erneut vor dem Aeropag
verhandelt. Worum ging es?

Um die Frage, ob die Pfändungen vollstreckt werden können. Bisher hieß es, es ginge
nicht ohne die Zustimmung des griechischen Justizministers, die dieser jedoch
verweigert. Wir halten eine solche Bestimmung für verfassungswidrig und meinen, daß
sie gegen die Menschenrechtskonvention verstößt. Deshalb wollten wir die
Rechtmäßigkeit klären lassen.

F: Können Sie das genauer erklären?

Nach unserer Verfassung ist die Justiz unabhängig von der Regierung. Das heißt, wenn
ein Urteil gefällt wird, muß es unabhängig von der jeweiligen Regierung vollstreckbar
sein. Die Vollstreckung der Pfändung der deutschen Liegenschaften von der
Zustimmung des Justizministers abhängig zu machen, ist also nicht legal. Das
griechische Gesetz erkennt zudem die Menschenrechtskonvention an, die vorschreibt,
daß die Staaten die Vollstreckung jedes Urteils garantieren, daß nach einer Klage gefällt
wurde. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechtsfragen in Strasbourg hat im
Fall der britischen Eheleute David und Ada Hornsby gegen Griechenland entschieden,
daß Urteile des Aeropags ohne Verzögerung vollstreckt werden müssen.

F: Die deutsche Seite argumentiert, daß die Pfändung gegen die Staatenimmunität
verstoße.

Genau darum geht es hier: Die Menschenrechte kommen in Konflikt mit der
Staatenimmunität. Die Frage, um die es auch geht: Wer hat das Recht, die
Entschädigung zu verlangen? Der Staat oder die Opfer? Nach der Haager Konvention
hat nur der Staat das Recht. Die Entscheidung des Kammergerichts von Livadia,
Griechenland, das im Herbst 1997 meinen Klienten 60 Millionen DM Entschädigung
zugestand, war die erste Entscheidung eines Gerichts, die Bürgern eines Staates
erlaubt, gegen einen anderen Staat zu klagen. Selbst die Bundesrepublik Deutschland
hat dieses Recht bisher nicht bestritten. Sie argumentiert lediglich mit der
Staatenimmunität. Das bedeutet eine Akzeptanz unserer Position.

F: Was für eine Entscheidung erwarten Sie?

Der Vorsitzende Richter und drei seiner Kollegen waren der Meinung, daß wir kein
Recht haben, mit dieser Klage beim Aeropag vorstellig zu werden. Die restlichen
sechzehn Richter waren anderer Auffassung. Wir erwarten also, daß demnächst eine
positive Entscheidung fällt.

F: Erhalten Sie Unterstützung aus der Bevölkerung?

Ja. In Griechenland hat fast jede Familie Opfer zu beklagen, die von den deutschen
Besatzern umgebracht wurden, oder ist in anderer Weise zu Schaden gekommen.

F: Sehen Sie Bewegung in der deutschen Position?

Die Bundesregierung befürchtet einen Präzedenzfall. Sie sollte sich aber darüber klar
werden: Ich habe beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte Beschwerde
eingelegt. Wenn Strasbourg positiv entscheidet, kann jeder Bürger eines jeden Landes
gegen Deutschland klagen. Deshalb glauben wir, daß die Deutschen gut beraten wären,
mit Hilfe der griechischen Regierung schnellstens eine Lösung zu finden.

F: Deutsche Gruppen wollen einen Distomo-Gedenktag einführen.

Wir freuen uns über jede Unterstützung. Einen Gedenktag in unserem Sinne gäbe es
aber erst, wenn die Forderungen der Opfer erfüllt sind. Wenn deutsche Freunde sich an
unseren Kampf aktiv beteiligen würden, wäre dies ein wahrer Beitrag für den Frieden.

junge Welt 12.6.02