Der Zusammenhang von Befehl - Schuld - kategorischem Imperativ
Aus: Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem, S. 231 - 235.
Ein erstes Anzeichen von Eichmanns vager Vorstellung, daß in dieser ganzen Angelegenheit mehr zur Diskussion stehen könnte als die Frage, ob der Soldat auch Befehlen gehorchen müsse, die ihrer Natur und ihrer Absicht nach eindeutig verbrecherisch sind, ergab sich während des Polizeiverhörs, als er plötzlich mit großem Nachdruck beteuerte, sein Leben lang den Moralvorschriften Kants gefolgt zu sein, und vor allem im Sinne des kantischen Pflichtbegriffs gehandelt zu haben. Das klang zunächst nur empörend und obendrein unverständlich, da Kants Morallehre so eng mit der menschlichen Fähigkeit zu urteilen, also dem Gegenteil von blindem Gehorsam, verbunden ist. Der verhörende Offizier hatte sich darauf nicht weiter eingelassen, doch Richter Raveh, ob nun aus Neugier oder aus Entrüstung über Eichmanns Versuch, im Zusammenhang mit seinen Untaten sich auf Kant zu berufen, entschloß sich, den Angeklagten hierüber zu befragen. Und zu jedermanns Überraschung konnte Eichmann eine ziemlich genaue Definition des kategorischen Imperativs vortragen: »Da verstand ich darunter, daß das Prinzip meines Wollens und das Prinzip meines Strebens so sein muß, daß es jederzeit zum Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung erhoben werden könnte«, was auf Diebstahl oder Mord z. B. nicht gut anzuwenden ist, da der Dieb oder Mörder unmöglich in einem Rechtssystem leben wollen kann, das anderen das Recht gibt, ihn zu bestehlen oder zu ermorden. Auf weitere Befragung fügte er hinzu, daß er Kants Kritik der praktischen Vernunft gelesen habe. Weiter erklärte er, daß er in dem Augenblick, als er mit den Maßnahmen zur »Endlösung« beauftragt wurde, aufgehört habe, nach kantischen Prinzipien zu leben, er habe das gewußt und habe sich mit den Gedanken getröstet, nicht länger »Herr über mich selbst« gewesen zu sein - »ändern konnte ich nichts«. Was er dem Gericht darzulegen unterließ, war, daß er in jener »Zeit ... der von Staats wegen legalisierten Verbrechen«, wie er sie jetzt selber nannte, die Kantische Formel nicht einfach als überholt beiseite getan hat, sondern daß er sie sich vielmehr so zurechtbog, bis sie ihm im Sinne von Hans Franks Neuformulierung »des kategorischen Imperativs im Dritten Reich«, die Eichmann gekannt haben mag, befahl: »Handle so, daß der Führer, wenn er von deinem Handeln Kenntnis hätte, dieses Handeln billigen würde« (»Die Technik des Staates«, 1942, S. 15f). Natürlich ist es Kant nie in den Sinn gekommen, das Prinzip des Handelns einfach mit dem Prinzip des jeweiligen Gesetzgebers eines Landes oder den in ihm jeweils geltenden Gesetzen zu identifizieren, da für ihn ja jeder Bürger im Augenblick seines Handelns selbst Gesetzgeber wird durch den Gebrauch seiner »praktischen Vernunft«. Dennoch entspricht Eichmanns unbewußte Entstellung dem, was er selbst »den kategorischen Imperativ für den Hausgebrauch des kleinen Mannes« nannte. In diesem »Hausgebrauch« bleibt von Kants Geist nur noch die moralische Forderung übrig, nicht nur dem Buchstaben des Gesetzes zu gehorchen und sich so in den Grenzen der Legalität zu halten, sondern den eigenen Willen mit dem Geist des Gesetzes zu identifizieren - mit der Quelle, der das Gesetz entsprang. In Kants Philosophie war diese Quelle die praktische Vernunft; im Hausgebrauch, den Eichmann von ihr machte, war diese Quelle identisch geworden mit dem Willen des Führers. Viel von der gespenstisch peniblen Gründlichkeit, mit der die »Endlösung« in Gang gesetzt und gehalten wurde - einer Gründlichkeit, die auf Beobachter meistens als typisch deutsch oder doch als Charakteristikum des perfekten Bürokraten wirkt -, läßt sich auf die eigentümliche, in Deutschland tatsächlich sehr verbreitete Vorstellung zurückführen, daß Gesetzestreue sich nicht darin erschöpft, den Gesetzen zu folgen, sondern so zu handeln verlangt, als sei man selbst der Schöpfer der Gesetze, denen man gehorcht. Daraus entwickelt sich leicht die Überzeugung, mehr als seine Pflicht zu tun sei das mindeste, was man von sich verlangen müsse.
Wie immer man Kants Einfluß auf die Entstehung der Mentalität »des kleinen Mannes« in Deutschland beurteilen mag, in einer Beziehung hat sich Eichmann ganz zweifellos wirklich an Kants Vorschriften gehalten: Gesetz war Gesetz, Ausnahmen durfte es nicht geben. In Jerusalem gab er zu, in zwei Fällen Ausnahmen gemacht zu haben - er hatte einer halbjüdischen Kusine geholfen und einem jüdischen Ehepaar aus Wien, für das sich sein Onkel verwendet hatte -, aber diese Inkonsequenz war ihm auch jetzt noch peinlich, und bei der Befragung im Kreuzverhör klang seine Erklärung, er habe diese Dinge seinen Vorgesetzten »erzählt, oder besser gesagt, gebeichtet«, unverhohlen apologetisch. Diese kompromißlose Haltung bei der Verrichtung seiner mörderischen Pflichten belastete ihn natürlich in den Augen des Gerichts mehr als alles andere, vor sich selbst aber fühlte er sich gerade durch sie gerechtfertigt, und es ist kein Zweifel, daß das Bewußtsein, Ausnahmen nicht geduldet zu haben, in ihm, was immer an Gewissen bei ihm noch übriggeblieben sein mochte, zum Schweigen brachte. Keine Ausnahmen, keine Kompromisse - das war der Beweis dafür, daß er stets gegen die »Neigung« - Gefühle oder Interessen der Pflicht gefolgt war.
Unerbittliche Pflichttreue war ihm damals bereits fast zum Verhängnis geworden, denn sie hatte ihn schließlich in offenen Konflikt mit den Befehlen seiner Vorgesetzten gebracht. Während des letzten Kriegsjahres, über zwei Jahre nach der Wannsee-Konferenz, erlebte er seine letzte Gewissenskrise. Als die Niederlage heranrückte, traf er auf Männer aus den eigenen Reihen, die sich immer nachdrücklicher für Ausnahmen einsetzten, schließlich sogar für den völligen Abbruch der »Endlösung«. Für ihn war das der Augenblick, seine übliche Vorsicht aufzugeben und noch einmal selbst die Initiative zu ergreifen, zum Beispiel organisierte er den Fußmarsch der Juden von Budapest zur österreichischen Grenze, nachdem die alliierten Bombenangriffe das Transportsystem lahmgelegt hatten. Damals schrieb man Herbst 1944; Eichmann wußte, daß Himmler die Demontage der Vernichtungsanlagen in Auschwitz angeordnet hatte, daß das Spiel aus war. Um diese Zeit hatte Eichmann eine seiner wenigen persönlichen Besprechungen mit Himmler, der ihn angebrüllt haben soll: »Wenn Sie bisher Juden ausrotteten, so müssen Sie, wenn ich es wie in diesem Falle wünsche, jetzt Judenpfleger sein. Ich erinnere Sie daran, daß nicht der Gruppenführer Müller oder Sie, sondern ich 1933 das RSHA gegründet habe und daß ich befehle.« Als einziger Zeuge für diese Worte bürgt der recht dubiose Kurt Becher. Eichmann bestritt, daß Himmler ihn angeschrien habe, nicht aber, daß eine solche Besprechung stattgefunden habe. Himm]er kann dem Wortlaut nach so nicht gesprochen haben, er wußte natürlich, daß das RSHA nicht 1933 gegründet worden war, sondern 1939 und auch nicht von ihm, sondern von Heydrich mit seiner Billigung. Dennoch muß sich so etwas Ähnliches zugetragen haben -, Himmler hat damals nach allen Himmelsrichtungen Befehle gegeben, daß die Juden gut behandelt werden sollten -er hielt sie für »sein bestes Kapital« -, und das muß für Eichmann eine niederschmetternde Erfahrung gewesen sein.