Zusammenfassung aus Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (Seiten 974 - 979)

 

Wäre totalitäre Herrschaft nichts anderes als eine moderne Form der Tyrannis, so würde sie sich gleich ihr damit begnügen, die politische Sphäre der Menschen zu zerstören, also Handeln zu verwehren und Ohnmacht zu erzeugen. Totalitäre Herrschaft wird wahrhaft total in dem Augenblick - und sie pflegt sich dieser Leistung auch immer gebührend zu rühmen -, wenn sie das privat-gesellschaftliche Leben der ihr Unterworfenen in das eiserne Band des Terrors spannt. Dadurch zerstört sie einerseits alle nach Fortfall der politisch-öffentlichen Sphäre noch verbleibenden Beziehungen zwischen Menschen und erzwingt andererseits, daß die also völlig Isolierten und voneinander Verlassenen zu politischen Aktionen (wiewohl natürlich nicht zu echtem politischem Handeln) wieder eingesetzt werden können. In der Ohnmacht der Tyrannis können Menschen innerhalb einer von Furcht und Mißtrauen beherrschten Welt sich immer noch bewegen; diese Bewegungsfreiheit in der Wüste ist es, die von totalitärer Herrschaft vernichtet wird. Totalitäre Herrschaft beraubt Menschen nicht nur ihrer Fähigkeit zu handeln, sondern macht sie im Gegenteil, gleichsam als seien sie alle wirklich nur ein einziger Mensch, mit unerbittlicher Konsequenz zu Komplizen aller von dem totalitären Regime unternommenen Aktionen und begangenen Verbrechen.

Die Zerstörung der Pluralität, die der Terror bewirkt, hinterläßt in jedem einzelnen das Gefühl, von allen ganz und gar verlassen zu sein. (Die Institution der Konzentrationslager, deren Insassen von allen anderen, auch von der eigenen Familie, vergessen werden müssen, gründet sich auf die genaue Umkehrung jenes Grundsatzes, der für alle gesunden Gemeinwesen gilt und den Clemenceaus großer politischer Instinkt während der Dreyfus-Affäre formulierte: »L'affaire d'un seul est l'affaire de tous.« Das dieser Verlassenheit entspringende Räsonnement ist der Prozeß des logischen Deduzierens, der sich verzweifelt im Strudel des beliebig Möglichen, weil von niemandem mehr verläßlich Kontrollierten, an eine Prämisse festhält. (Die Bolschewisten wissen, daß Geständnisse auf der Grundlage des »Wer A gesagt hat, muß auch B sagen« am besten und ohne Tortur von denen erpreßt werden, die man erst einmal auf längere Zeit der Verlassenheit und dem aus ihr resultierenden Realitätsverlust in der Einzelhaft ausgesetzt hat.) Die Grunderfahrung menschlichen Zusammenseins, die in totalitärer Herrschaft politisch realisiert wird, ist die Erfahrung der Verlassenheit.

Die merkwürdige Verbindung zwischen dem zwangsläufig-zwingenden Deduzieren der Ideologien und der Verlassenheit ist politisch zweifellos erst von den totalitären Herrschaftsapparaten entdeckt und zu ihren Zwecken ausgenutzt worden. Aber sie findet sich andeutungsweise bereits in einer kleinen Bemerkung von Luther zu der Bibelstelle, daß es nicht gut sei für den Menschen, allein zu sein. Luther sagt dort: »Ein solcher (nämlich ein einsamer) Mensch folgert immer eins aus dem anderen und denkt alles zum ärgsten.« Luther, der einige Erfahrungen in den Phänomenen der Einsamkeit und Verlassenheit hatte (und der einmal zu sagen wagte, es müsse schon darum einen Gott geben, weil der Mensch ein Wesen brauchte, dem er wirklich trauen könne), verstand, daß das spezifisch Zwingende der logischen Folgerungen nur den von allen Verlassenen mit ganzer Gewalt überfallen kann. In jeder Gemeinschaft stellt sich alsbald eine Pluralität von Prämissen her, aus denen gleich zwingend-evident gefolgert werden kann, so daß das zwingend Beweisbare dauernd in Schach und unter Kontrolle gehalten wird.

Genau gesprochen sind alle die Redensarten, welche dazu dienen, Henker und Opfer gleich gut auf das Funktionieren eines totalen Herrschaftsapparates vorzubereiten - wie »Wo gehobelt wird, da fallen Späne« und »Wer A gesagt hat, muß auch B sagen« -, volkstümliche Sprüche, welche von der Verlassenheit des Menschen Kunde geben. Nur jemandem, der seine Freunde und wen er liebt bereits verlassen hat und darum verlassen ist, wird es mit dem »Wo gehobelt wird, da fallen Späne« wirklich ernst sein; und nur wer darüber hinaus auch von sich selbst bereits verlassen ist, so daß nur noch das rein formale Sich-nicht-Widersprechen ihm Garantie dafür bieten kann, daß es ihn auch wirklich gegeben hat, wird die Konsequenz ziehen, ein »B« zu sagen und zu vollziehen, das ihn zwingt, nicht nur sein Leben, sondern seine Person, seine Ehre und das Andenken an sich zu opfern.

Verlassenheit und Einsamkeit sind nicht dasselbe, obwohl es die Gefahr jeder Einsamkeit ist, in Verlassenheit umzuschlagen, so wie es die Chance jeder Verlassenheit ist, zur Einsamkeit zu werden. In der Einsamkeit bin ich eigentlich niemals allein-, ich bin mit mir selbst zusammen, und dies Selbst, das niemals zu einem leiblich unverwechselbar Bestimmten werden kann, ist zugleich auch jedermann. Einsames Denken gerade ist dialogisch und in Gesellschaft mit jedermann. Dies ist die Zwiespältigkeit der Einsamkeit, in der ich, immer auf mich selbst zurückbezogen, mich niemals als Einen, in seiner Identität Unverwechselbaren, wirklich Eindeutigen erfahren kann. Aus der Zwiespältigkeit und Vieldeutigkeit der Einsamkeit werde ich erlöst durch die Begegnung mit anderen Menschen, die mich dadurch, daß sie mich als diesen Einen, Unverwechselbaren, Eindeutigen erkennen, ansprechen und mit ihm rechnen, in meiner Identität erst bestätigen. In ihren Zusammenhang gebunden und mit ihnen verbunden, bin ich erst wirklich als Einer in der Welt und erhalte mein Teil Welt von allen anderen.

Verlassenheit entsteht, wenn aus gleich welchen personalen Gründen ein Mensch aus dieser Welt hinausgestoßen wird oder wenn aus gleich welchen geschichtlich-politischen Gründen diese gemeinsam bewohnte Welt auseinanderbricht und die miteinander verbundenen Menschen plötzlich auf sich selbst zurückwirft. Zu einer politisch tragfähigen Grunderfahrung kann Verlassenheit natürlich nur in dem zweiten Fall werden. In der Verlassenheit sind Menschen wirklich allein, nämlich verlassen nicht nur von anderen Menschen und der Welt, sondern auch von dem Selbst, das zugleich jedermann in der Einsamkeit sein kann. So sind sie unfähig, den Zwiespalt der Einsamkeit zu realisieren, und unfähig, die eigene, von den anderen nicht mehr bestätigte Identität mit sich selbst aufrechtzuerhalten. In dieser Verlassenheit gehen Selbst und Weit, und das heißt echte Denkfähigkeit und echte Erfahrungsfähigkeit, zugleich zugrunde. An der Wirklichkeit, die keiner mehr verläßlich bestätigt, beginnt der Verlassene mit Recht zu zweifeln; denn diese Welt bietet Sicherheit nur, insofern sie uns von anderen mit garantiert ist.

Das einzige, was in der Verlassenheit als scheinbar unantastbar sicher verbleibt, sind die Elementargesetze des zwingend Evidenten, die Tautologie des Satzes: zwei mal zwei ist vier. Damit erfährt das zwingend Einsehbare für den Verlassenen eine eigentümliche Gewichtsverschiebung: es ist nicht mehr die selbstverständliche Regelung menschlichen Denkens, ein Mittel des Verstandes, um Widersprüche zu vermeiden; sondern es wird aus sich heraus gleichsam produktiv, beginnt Denkreihen zu entfalten, Prozesse zu entwickeln, »folgert eins aus dem anderen und denkt alles zum ärgsten«. Dies Zwangsfolgern ist der Extremismus, der allem ideologischen Denken eignet und an dem gemessen freies und kontrolliertes Denken an mangelnder Radikalität zu leiden scheint. Die »Radikalität« totalitärer Ideologien ist nur der Extremismus des Ärgsten und hat mit echter Radikalität gar nichts zu tun.

Was moderne Menschen so leicht in die totalitären Bewegungen jagt und sie so gut vorbereitet für die totalitäre Herrschaft, ist die allenthalben zunehmende Verlassenheit. Es ist, als breche alles, was Menschen miteinander verbindet, in der Krise zusammen, so daß jeder von jedem verlassen und auf nichts mehr Verlaß ist. Das eiserne Band des Terrors, mit dem der totalitäre Herrschaftsapparat die von ihm organisierten Massen in eine entfesselte Bewegung reißt, erscheint so als ein letzter Halt und die »eiskalte Logik«, mit der totalitäre Gewalthaber ihre Anhänger auf das Ärgste vorbereiten, als das einzige, worauf wenigstens noch Verlaß ist. Vergleicht man diese Praxis mit der Praxis der Tyrannis, so ist es, als sei das Mittel gefunden worden, die Wüste selbst in Bewegung zu setzen, den Sandsturm loszulassen, daß er sich auf alle Teile der bewohnten Erde legt.

Die Bedingungen, unter denen wir uns heute im politischen Feld bewegen, stehen unter der Bedrohung dieser verwüstenden Sandstürme. Ihre Gefahr ist nicht, daß sie etwas Bleibendes errichten können. Totalitäre Herrschaft gleich der Tyrannis trägt den Keim ihres Verderbens in sich. So wie Furcht und die Ohnmacht, aus der sie entspringt, ein antipolitisches Prinzip und eine dem politischen Handeln konträre Situation darstellen, so sind Verlassenheit und das ihr entspringende logisch-ideologische Deduzieren zum Ärgsten hin eine antisoziale Situation und ein alles menschliche Zusammensein ruinierendes Prinzip. Dennoch ist organisierte Verlassenheit erheblich bedrohlicher als die unorganisierte Ohnmacht aller, über die der tyrannisch-willkürliche Wille eines einzelnen herrscht. Ihre Gefahr ist, daß sie die uns bekannte Welt, die überall an ein Ende geraten scheint, zu verwüsten droht, bevor wir die Zeit gehabt haben, aus diesem Ende einen neuen Anfang erstehen zu sehen, der an sich in jedem Ende liegt, ja, der das eigentliche Versprechen des Endes an uns ist. Initium ut esset, creatus est homo - »damit ein Anfang sei, wurde der Mensch geschaffen«, sagt Augustin. Dieser Anfang ist immer und überall da und bereit. Seine Kontinuität kann nicht unterbrochen werden, denn sie ist garantiert durch die Geburt eines jeden Menschen.

 

George Orwell hat fast gleichzeitig mit Hannah Arendt an diesem Thema gearbeitet (Hannah Arendts Buch ist 1951 in Englisch in New York erschienen - 1955 dann in Deutsch), seine Überlegungen in "1984" zeigen erstaunliche Parallelen zu der oben aufgeführten Textstelle).

Sehr gut auch zu sehen in der Verfilmung von "1984". (Klaus Höfig)