DIONYSOS
Zeusgeborenes Kind!
Erscheine, o Herrscher,
mit deinen Scharen,
mit deinen Mänaden,
die nächtlich rasend,
Bakchos den Führer umwogen im Tanz!
Sophokles, Antigone 1149 ff., übertragen
von E. Buschor
Aus Thrakien oder Phrygien kam Dionysos nach Attika. Daran erinnern
Vasenbilder des 6. Jh., wie das Schalenbild des Exekias in München, das den
über das Meer segelnden Gott zeigt, oder die formelhafte Abkürzung eines mit
Tierkopf geschmückten Nachens, in dem Dionysos mit seinem Trinkhorn erscheint.
Semele, Tochter des Kadmos, hatte ihn vorzeitig zur Welt gebracht. Als sie Zeus
um ein Zeichen seiner göttlichen Vaterschaft bat, traf sie der Blitz, und Zeus
trug das Kind in seinem Schenkel aus, bis die Zeit gekommen war, dann brachte
Hermes es zu den Nymphen nach Nysa, die den kleinen Dionysos pflegten.
Der homerischen Welt ist
Dionysos noch so gut wie unbekannt. Als Bringer des Weines, begleitet von Satyrn
und Mänaden, finden wir ihn seit Beginn des 6. Jh. auf attischen Vasen, im Zug
der Götter bei der Hochzeit von Peleus und Thetis und bei der Rückführung des
Hephaistos zum Olymp auf der Francoisvase, häufiger inmitten seiner Anhänger,
die ihn in bakchischem Taumel schwärmend umgeben. Die Ausbreitung des neuen
Kultes stieß aber auch auf Widerstand. Lykurg wurde dafür mit Blindheit
gestraft, Pentheus von seiner eigenen Mutter und ihren Schwestern zerrissen,
die ein wildes Tier vor sich zu haben wähnten. Der Mythos berichtet auch,
Seeräuber hätten den jungen Gott, in der Annahme, er sei der Sohn eines Königs,
gebunden und entführt. Dionysos aber verwandelte sie in Delphine, wie es am
Lysikratesmonument in Athen dargestellt ist.
Am Südabhang der Akropolis liegt der heilige Bezirk des Dionysos, in dessen
Theater die attischen Tragödien zu Ehren des Gottes aufgeführt wurden. Von den
Dionysos-Festen, Lenäen und Anthesterien, erhalten wir durch Literatur und
Vasenmalerei ziemlich ergiebige Nachrichten (L. Deubner, Attische Feste 93 ff.
E. Simon, in: Antike Kunst 6, 1963, S. 6 ff.). Oft wurde der Gott in dem
einfachen Kultmal einer an den Baum oder einen Pfahl gebundenen Maske (Abb. 40)
verehrt, mit Gewändern und Zweigen geschmückt. Die Makronschale, die man »die
schönste aller Lenäenvasen« genannt hat, zeigt den Gott mit Rebe und
Thyrsosstab, außen aber die um Altar und Kultmal herum schwärmenden Mänaden,
die auch als Bakchen, Lenai oder Bassariden bezeichnet werden. Die dem Dionysos
auf einem schwarzfigurigen Teller gegenüber sitzende Nymphe oder Göttin wird
die ihm von Naxos her verbundene Ariadne sein.
Zum Wesen des Dionysos und seines Kultes gehört der Orgiasmus, der Rausch, die
Ekstase. Darin ist er dem griechischsten aller Götter, Apollon, völlig entgegengesetzt.
Aber gerade darauf beruht die Eigenart und Größe aller griechischen Kultur, der
Geist und Adel ihrer Kunst, daß sie beides in sich vereinigte, die stampfenden
Rhythmen des Dithyrambos und die apollinischen Klänge des Hyperboräers, der auf
geflügeltem Dreifuß sitzend, leierspielend über das Meer zieht.
Der Kult des
Dionysos prägte die christliche Legendenbildung entscheidend. Bei der
Darstellung von Leben und Werk des Jesus Christus haben sich die vier
Evangelisten häufig selbst im Detail der Dionysos-Mythologie bedient, so dass
der evangelische
Mythenbestand von Dionysosmotiven, wie der Kreuzigung, dem Verspeisen des
Fleisches und dem Trinken des Blutes des Herrn, durchsetzt ist.