W. Frizen – Thomas Mann, Der Tod in Venedig
Die
Erotisierung der Welt Aschenbachs
Zeichen für die Erotisierung von Aschenbachs Welt (58 f.) ist das
mythologische Vokabular. Nicht die Sonne geht auf, sondern Eos, sonst geschäftig
als „Jünglingsentführerin", erhebt sich „von der Seite des Gatten",
streut – „rosenfingrig" wie bei Homer – „ein unsäglich holdes
Scheinen" über den Weltenrand und läßt „kindliche Wolken gleich dienenden
Amoretten im rosigen, bläulichen Duft" schweben. „Wallend" schwemmt
das Meer den Purpur des Lichtes vorwärts, „goldene Speere zuckten von unten zur
Höhe des Himmels hinauf", und „des Bruders heilige Renner", Helios'
Wagengespann, steigen in „Glut und Brunst" über den Horizont - ein
"Sinnlichwerden der Schöpfung", das einem den Atem benimmt. Solch ein
Sonnenerwachen entspricht nicht der klassischen Form Winckelmanns und Goethes:
Im Wabern und Wallen macht sich eine dionysische Dynamik bemerkbar, die
Todeszeichen („Speere") mit Liebeszeichen verbindet und die Klimax von
Aschenbachs Begehren und Ende vorabbildet. Aber Thomas Mann feiert auch nicht
die Korrektur des Griechenbildes Winckelmanns durch das dionysische Nietzsches.
Werden da nicht eher apollinischer Klassizismus und dionysisches Nietzschetum
gleichzeitig verzerrt? Wird da nicht die „attische Heiterkeit" barock-manieristisch
überladen, gehäuft und übertrieben und die dionysische Eros-Feier zugleich vom
rokokohaften Parfüm des Boudoirs durchtränkt?
So erfüllt sich, was zu
erwarten stand: Der Tag, der mit der Sonnenerotik begonnen, überschreitet die
Grenze zur dionysischen Katastrophe; Aschenbach ist gebannt: „Eine heilig
entstellte Welt voll panischen Lebens schloß den Berückten ein [...]." Die
„heilig entstellte Welt" wandelt alle Phänomene ins Theriomorphe, und zwar
in unangemessener, eben grotesker Weise, da die Tiergestalten dem Naturphänomen
solcher halkyonischer Tage gar nicht entsprechen wollen: Die weißen Federwölkchen
werden zu „weidenden Herden der Götter" - das mag den Wetterverhältnissen
noch angemessen sein -, die Rosse Poseidons laufen, „sich bäumend, daher"
- Wellen der beschriebenen Art finden sich am Lido von Venedig nur, wenn der
Wetterbericht „mare mosso“ anzeigt -, und dasselbe gilt für die Stiere, die die
Hörner senken und „mit Brüllen" gegen das Ufer anrennen.
“Entstellt" also ist diese Meereswelt allein durch den
erotisierten Aschenbach - und die tierisch belebte Natur nur sein Medium der
Seelenaussage. Weshalb denn auch der Gott mit dem Bocksfuß nun seine
dionysischen Zotten zeigt: „Zwischen dem Felsengeröll des entfernteren Strandes
jedoch hüpften die Wellen empor als springende Ziegen." Pan feiert hier
nicht den Großen Mittag Nietzsches, das Zusichselbstkommen des Übermenschen im
All-Einen des Universums, das hinter dem Schein der apollinischen Erscheinungen
verborgen liegt, sondern ist eine Projektion der Lebensschwäche Aschenbachs.
Das undifferenzierte, nicht-individualisierte Sein erscheint ihm in
mythologischen Meeres-Bildern, die das ozeanische Gefühl des Einsseins mit der
Natur und mit Tadzio nur simulieren.
Während der Große Pan schläft, träumt Aschenbach „zarte Fabeln" der
Mythologie (59), um sich auch Tadzio mythologisch zu vergegenwärtigen. Aber er
kann sich gar nicht einschwingen in eine solche Zartheit und Zärtlichkeit, müßte
er ja seine ganze Lebensgeschichte leugnen. Und so träumt er weiterhin Fabeln
des erotischen Solipsismus: Hat er zunächst Tadzio eifersüchtig auf Zeichen des
Verfalls hin untersucht und bald triumphierend festgestellt, daß der Geliebte
wahrscheinlich nicht alt werde, dichtet er ihm nun ein mythisches Modell auf
den Leib, das ihm die Rolle des Opfers von vornherein zudiktiert: das
Hyakinths, der von Apollo und Zephyr gleichzeitig geliebt - von Zephyr aus Neid
auf Apollo getötet wird, aber so, daß der Liebende, Apollo, selbst der Mörder
des Geliebten wird: Zephyr, der Windgott, lenkt dessen Diskus so, daß er den Jüngling
erschlägt. Wenn der Erzähler bald darauf die Reaktion Aschenbachs als „Hysterie
eines unbefriedigten, unnatürlich unterdrückten Erkenntnis- und Austauschbedürfnisses"
bezeichnet, benennt er einen von Nietzsche mit Vorliebe bedachten Sachverhalt -
das Ressentiment des asketischen Ideals gegenüber dem Leben - mit einem Begriff
aus Freuds Studien. Rückwirkend erklärt sich so auch, wer am Morgen dieses
Tages den „Hauch" entfächelt, „der auf einmal so sanft und bedeutend, höherer
Einflüsterung gleich, Schläfe und Ohr umspielte" - Zephyr, der Mörder, ist
gleich zu Beginn der Szene präsent; am Ende liegt der Geliebte, an der Schläfe
getroffen, in seinem Blut: Aschenbachs Sexualphantasien, ins Mythologische
transponiert, vagieren in Todesphantasien.