Klaus
Harpprecht – Thomas Mann. Eine Biographie, Rowohlt Verlag 1995.
Der gefeierte Autor hatte keine Affären zu verbergen, aber er begab sich mit
einem neuen Werk in die nächste Nachbarschaft der Bedrohung. Im Frühling 1911
hatte er erwogen, noch einmal die «Naturheilanstalt» des Doktors Bircher-Benner
aufzusuchen. Doch dann entschloß er sich lieber, mit Katia und Heinrich in den
Süden zu reisen. Mitte Mai traf die kleine Gesellschaft auf der Insel Brioni
ein, die zum habsburgischen Dalmatien gehörte. Indes, die Unterkunft behagte
ihm nicht, und die Steilküste mit ihren dramatischen Schönheiten war nicht
seine Sache. Er verlangte nach einem flachen und sanften Strand, wie er ihn aus
Kindheitstagen von der Ostsee gewohnt war. Also Venedig, in dem er, wie er später
sagte, «die Vaterstadt, maurisch verzaubert», wiederzuerkennen glaubte. Ein
weiteres Mal das «Grand Hotel des Bains» am Lido.
Die Ereignisse und
Abenteuer der venezianischen Tage beschrieb er, nach eigenem Zeugnis, in der
Novelle, die ihn fortan beschäftigte, getreulich so, wie sie sich zugetragen
hatten. Nichts sei erfunden, bekannte er im «Lebensabriß»: nicht der «Wanderer
am Münchener Nordfriedhof», nicht seine Begegnung mit dem rothaarigen
Landfahrer und seinem herausfordernden Blick, nicht «das düstere Polesaner
Schiff», nicht «der greise Geck», der hochgeschminkte, diese Karikatur eines
alten Päderasten, nicht «der verdächtige Gondolier», nicht «Tadzio und die
Seinen», nicht «die durch Gepäckverwechslung mißglückte Abreise», die freilich
nicht ihm, sondern Bruder Heinrich zugestoßen war, nicht «die Cholera», nicht «der
ehrliche Clerc im Reisebureau», nicht «der bösartige Bänkelsänger» - auch er
ein rothaariger Bursche, wie der Wanderer am Friedhof in München, alle beide
durch ihre weißhäutig-rötliche Beschaffenheit für die ungemütliche Nähe eines dämonischen
und hexenhaften Elementes sorgend.
Erfunden war nichts, fast nichts an dem Porträt, das der Autor in der Gestalt
des Schriftstellers Gustav von Aschenbach von sich selbst und seiner Stellung
in der geistigen und sozialen Welt entwarf: nicht der Hinweis auf die «Merkmale
fremder Rasse» durch das «raschere, sinnlichere Blut» der Mutter; nicht die
Feststellung seiner «Meisterschaft», deren er sich «in Gelassenheit sicher fühlte»
und deren er dennoch nicht froh wurde, «während die Nation sie ehrte»; nicht
der ironisch-betuliche Vermerk der Pflicht, «von seinem Schreibtische aus zu
repräsentieren» und «seinen Ruhm zu verwalten», oder die Betonung der
Besonderheit seines Talentes, von dem er sagte, es sei dazu geschaffen, «den
Glauben des breiten Publikums und die bewundernde, fordernde Teilnahme der Wählerischen
zugleich zu gewinnnen»; nicht die Akzentuierung des «Tapfer-Sittlichen» in
seinem Künstlertum, nicht der «Heroismus der Schwäche», der moralische Zwang
zum «Durchhalten»: Charakterzüge, die allesamt Friedrich den Großen als
wesensverwandtes Sujet empfahlen, das Aschenbach Gelegenheit gab, ein Werk «in
kleinen Tagewerken aus aberhundert Einzelinspirationen zur Größe» emporzuschichten.
Der Verfasser stellte des imaginären Kollegen Licht nicht unter den Scheffel.
Aber auch «Verstöße gegen Takt und Besonnenheit», in jungen Jahren begangen, ja
ein «öffentliches Straucheln» wurden erwähnt (rumorte im Hintergrund die
Erinnerung an «Wälsungenblut»?). Aschenbachs Ehe «mit einem Mädchen aus
gelehrter Familie» konnte in wenigen Zeilen abgetan werden, da sie «nach kurzer
Glücksfrist durch den Tod getrennt» worden war; nur eine Tochter blieb aus der
Verbindung.
Das freilich war eine wesentliche Verfremdung. Katia schien an der raschen
Beseitigung von Aschenbachs Gefährtin, die sich dem Autor aus psychologischen
und künstlerischen Gründen empfahl, keinen Anstoß zu nehmen. Sie stieß sich
auch nicht am «persönlichen Adel», den der Autor - ein diskreter Wink Richtung
Residenz?-dem Schriftsteller verliehen hatte. Gutmütig bestätigte sie in ihren
Erinnerungen, wie sehr der «sehr reizende, bildhübsche, etwa dreizehnjährige
Knabe» Tadzio mit seinem «Matrosenanzug, einem offenen Kragen und einer netten
Masche» ihrem Mann «sehr in die Augen gestochen» habe: «er gefiel ihm über die
Maßen, und er hat ihn auch immer am Strand mit seinen Kameraden beobachtet.»
Freilich sei Thomas dem schönen Jungen nicht «durch ganz Venedig nachgestiegen»,
anders als Aschenbach, der das Objekt seiner Begierde durch alle Gassen der
Stadt bis in die Kirchen verfolgte. Das Ziel der Passion aber, der kleine Baron
Wladyslaw Moes, wie er mit wirklichem Namen hieß - kein Graf, wie er sich in
Katias Gedächtnis darstellte -, gab sich ein halbes Jahrhundert später, im
Jahre 1964, dem polnischen Übersetzer der Werke Thomas Manns zu erkennen, durch
den er einige Familienphotos aus jenen Tagen an Erika schicken ließ. Leider
versäumte der alte Herr zu erzählen - er war damals siebenundsechzig -, wie er
sich durch die grausamen Jahre der deutschen Okkupation seines Vaterlandes und
die ersten Jahrzehnte der kommunistischen Diktatur geschlagen hatte. «Er wird
wahrscheinlich nicht alt werden», hatte der Autor von dem «zarten Gott» mit der
vormännlichen, herben Schönheit mehr als einmal seufzend bemerkt. Triumph des
Lebens über die Kunst: er wurde es dennoch, unter denkbar widrigen Umständen.
Für Aschenbach bemächtigte sich der Autor der Züge Gustav Mahlers, dem er im
September 1910 begegnet war, als der Komponist seine achte Symphonie in München
dirigierte. Er hatte ihm, von dem Werk tief beeindruckt, ein paar Tage später
geschrieben, er verkörpere den «ernstesten und heiligsten künstlerischen Willen»
der Zeit. Das war mehr als eine der üblichen Elogen, die ihm leicht von den
Lippen und aus der Feder gingen. Katia sagte er, er habe bei jenem Gespräch -
wohl zum erstenmal in seinem Leben - das Gefühl gehabt, «mit einem wirklich großen
Mann zusammen zu kommen». Die Nachricht von Mahlers Tod hatte ihn in Brioni
erreicht; sein Schatten begleitete ihn auf allen venezianischen Wegen, und die
Trauer verwob sich mit der Furcht vor der Cholera, die heimlich in allen
Winkeln hockte. Liebe und Tod: der Grundklang der Erzählung war gegeben. In ihm
verbarg sich der dunkle Zauber, den das kleine Werk, vom Augenblick seiner
Publikation an, für alle Welt auszustrahlen begann. Liebe und Tod. Das gefährliche,
herzzerreißende Spiel mit der verbotenen Lust, die zugleich durch die Beschwörung
sokratischer Heimsuchungen in Sphären der unangreifbaren «Vergeistigung» entrückt
war, in denen sich auch der wüste Traum von «Unzucht und Raserei des
Unterganges» aufhob: von ihm ging, kein Zweifel, der lockende Reiz der Novelle
aus. Kaum von der Autobiographie, die der Autor in Maske und Gewand Gustav von
Aschenbachs auch in dieser Erzählung aufs selbstverständlichste weiterschrieb.
Man mag auch daran zweifeln, daß die Künstlernovelle noch immer als der höchste
Ausdruck des Lebensgefühls der Epoche galt, wie es «Tonio Kröger» zu
annoncieren schien, die frühe Erzählung, deren Grundklänge «Tod in Venedig» in
gewisser Weise wieder aufnahm. Die Gestalt des Künstlers - war sie die
Erscheinung, in der sich die Zeit noch immer in wahrhaft «repräsentativer» Überhöhung
und Steigerung erkannte? Auch Aschenbach durfte seufzen, nicht ohne den
gewohnten Hauch des Selbstmitleides: «Wer enträtselt Wesen und Gepräge des Künstlertums!
» Nein, der Blick in den Spiegel bemerkte die Verzauberung nicht. Übrigens rückte
Thomas Mann später von jedem Bezug auf sich selbst ab: wenn er vom «Meister»
oder vom «Künstler» handelte, habe er nicht sich gemeint, sondern nur, daß er
vom Künstler und Meister einiges wisse. So war das Bilse-Manifest aus dem Jahr
1906 endlich aufgehoben? «Nicht von euch ist die Rede», sondern «von mir, von
mir», hatte es damals geheißen.
Natürlich galt dies unvermindert fort, galt bis zum Ende seiner Tage. In einer
autobiographischen Skizze für das amerikanische Publikum («On Myself ») sprach
er, mit zweifelhaften Superlativen, von der «moralisch und formal
zugespitztesten und gesammeltsten Gestaltung des Décadence- und Künstlerproblems»,
in dessen Zeichen seine Produktion seit den «Buddenbrooks» gestanden habe und
das mit dem «Tod in Venedig» tatsächlich ausgeformt gewesen sei - in «voller
Entsprechung zu der Ausgeformtheit und Abgeschlossenheit der
individualistischen Gesamt-Problematik des in die Katastrophe mündenden bürgerlichen
Zeitalters», wie er nicht überbescheiden hinzufügte. Nein, Gustav von
Aschenbach - vielmehr der Dichter - entging seiner Selbstbesessenheit nicht,
die sich nur nuancierter, ironischer, skeptischer darbot als in den
voraufgegangenen Konfessionen. Die Anfälligkeit für weihevolle Banalitäten
wurde auch dieses Mal nicht immer unterdrückt: der entsagungsvoll
aristokratische Anspruch, den «Tonio Kröger» leidend bekannte, war in dieser
Novelle sozusagen in fürstlicher Höhe gesichert. Der Dichter sah sich - in der
fatalen Konfrontation mit der Lust, der Liebe, dem Leben - zum Martyrium
bestimmt.
Man darf ohne Übertreibung von einer tief romantischen Grundstimmung der Erzählung
reden. Die Klassizität diente dem tödlichen Spiel mit der verbotenen Lust
lediglich als schützender Mantel. Überdies sorgte sie für den Faltenwurf eines
hohen Pathos, und sie befriedigte das Recht der Elite auf eine Lektüre, an der
sich zumal in Deutschland - die wohlerworbene humanistische Bildung beweisen
konnte. Keiner, der auf sich hielt, mußte zum Lexikon greifen, um sich darüber
zu informieren, was unter dem «bleichen und lieblichen Psychagog» zu verstehen
sei, der dem sterbenden Aschenbach auf der achtletzten Zeile der Novelle zu lächeln
und zu winken begann: der hübsche Diener des Hades, des Todesgottes, in dessen
Gestalt sich der kleine Tadzio endlich verklärte. Nur dieser Rest von lastend
akademischer Schwere deutete an, daß sich der Verfasser bei der Arbeit an
seinem kleinen Werk tief über die griechischen Mythen und den Platon gebeugt
hatte.
Nein, all diese Vorzüge können die magische Wirkung der Erzählung auf
zehntausend, auf hunderttausend und schließlich Millionen von Lesern - weit über
den europäisch-atlantischen Kulturkreis hinaus - nicht erklären. Auch nicht die
fast vollkommene Sicherheit der Form, die so oft und mit so leuchtenden Augen
beschrieben wurde. Peter de Mendelssohn sprach hymnisch von der «Architektur
(...) eines antiken Tempels mit fünf Säulen» und im gleichen Atemzug von einer «Symphonie
in fünf Sätzen».
Die vollendete Gestaltung enträtselte den Enthusiasmus des Publikums nicht, das
sich um die formalen Schwächen des «Tonio Kröger» sowenig kümmerte wie um die
Perfektion der neuen Novelle. Eher war es die Sprache, deren Zauber sich kein
sensibler Leser zu entziehen vermochte, ihre Musikalität, die ganz dem Bekenntnis
entsprach, das Thomas Mann dem Freund Bruno Walter zu seinem siebzigsten
Geburtstag darbrachte: Er sei überzeugt, sagte er, «daß die geheimste und stärkste
Anziehungskraft einer Prosa in ihrem Rhythmus» liege. Wie oft steigerte sich der
Text seiner Erzählung zum heimlichen Gedicht: «Standbild und Spiegel! Seine
Augen umfaßten die edle Gestalt dort am Rande des Blauen, und in aufschwärmendem
Entzücken glaubte er mit diesem Blick das Schöne selbst zu begreifen».
Poesie, verbotene Lust, die «kranke Liebe» und ihre Vermählung mit dem Tod: sie
machen das Geheimnis dieser Novelle und ihre bis heute unverwelkte Magie aus.
Thomas Mann wußte es. In seinen Briefen sprach er von einer «gewagten», auch
von einer «sonderbaren Sache», die er aus Venedig mitgebracht habe, «einen Fall
von Knabenliebe bei einem alternden Künstler behandelnd »,doch « ernst und rein
im Ton» und durchaus «anständig». Seiner Freundin Ida Boy-Ed in Lübeck, die
ihre Bedenken angemeldet hatte, antwortete er ärgerlich: «Eine Nation, in der
eine solche Novelle nicht nur geschrieben, sondern gewissermaßen akklamiert
werden kann, hat vielleicht einen Krieg nötig.» (Dies immerhin im Frühjahr
1913.) Doch dann richtete er sich auf, steil und streng: das Werk sei «vom
ersten bis zum letzten Wort stramm moralisch», ja er zitierte einen Kritiker,
der boshaft von einer «puritanisch-neuprotestantischen Tendenz» gesprochen
hatte. Georg Lukäcs, der kommunistische Analytiker des «bürgerlichen Realismus»,
bemerkte später allerdings, in der Novelle werde dem «preußischen Ethos» ein «Untergang
von ironischer Tragik» bereitet. Doch es ließe sich auch umgekehrt
argumentieren, daß der preußische Geist im Untergang Gustav von Aschenbachs
noch einmal auf tragische Weise triumphierte.
Thomas Mann wußte wohl, daß er auf einem schmalen Grat wandelte. Mit der üblichen
Umsicht mobilisierte er die verläßlichen Freunde, um einiger Rezensionen sicher
zu sein, die kein Mißverständnis zuließen. Er hatte Glück: niemand außer dem
Altfeind Alfred Kerr und dem unglückseligen Theodor Lessing, die unverfroren
auf die femininen Züge des Autors wiesen, wagte den Verdacht zu äußern, Thomas
Mann habe im «Tod in Venedig» sein privatestes Problem sichtbar gemacht - und
es zugleich, wie Karl Werner Böhm feststellte, «mit der Wahrheit verhüllt». Die
Öffentlichkeit ließ sich überlisten. Der Knabe Tadzio wurde mit gutgläubiger
Ergebenheit als Symbol des Schönen betrachtet, gleichsam geschlechtslos, und
der arme Aschenbach starb an der abstrakten Wahrheit des Platen-Verses: «Wer
die Schönheit angeschaut mit Augen...»
Und Katia? Ein ganzes Jahr - vom Juni 1911 bis zum Sommer 1912 - schrieb Thomas Mann an der Erzählung,
die ihm nicht zum Roman entwuchs wie so viele seiner Werke: achtzig Druckseiten
waren es schließlich, nicht mehr. Während der Arbeit, im September 1911, erwähnte er in einem Brief, daß
der Gesundheitszustand seiner Frau « sehr zu wünschen übrig » lasse. Er sprach
von «Temperatur-Unregelmäßigkeiten» und von der Notwendigkeit eines
Aufenthaltes im Hochgebirge. Ferien in Sils-Maria (im oberen Engadin) mit den
Eltern Pringsheim brachten keine Besserung. Die offizielle Diagnose, die von
einem «Lungenspitzenkatarrh» sprach, schien eine beginnende Tuberkulose zu
tarnen. Eine Kur im Sanatorium Ebenhausen bei München im Januar 19 12 schlug nicht an. Im März des
Jahres fand sich Katia im Waldsanatorium von Davos ein. Sie blieb ein halbes
Jahr. Ihr Befinden veränderte sich nur langsam.