6.1 Bild der Epoche
Harmonie Die
Klassik hält fest an der Forderung des Sturm und
und Ideal Drang,
der einzelne müsse sich in organischer Entwick‑
lung
zu einer
harmonischen Individualität entfalten. Zugleich aber erkennt sie eine
gesellschaftliche Ordnung an. Daher sucht sie harmonische Individualität und
harmonisches Zusammenleben miteinander zu verbinden. Dazu ist einerseits
erforderlich, daß der einzelne Mensch nicht unterdrückt und verformt wird,
andererseits aber auch, daß er freiwillig Maß und Grenzen anerkennt. Wäre eine
solche doppelte Harmonie allgemein hergestellt, so wäre das Ideal verwirklicht,
nämlich ein Zustand, in dem die Idee des Menschen, sein Wesen, in ihm Gestalt
gewinnt.
Humanität Diesen Zustand herzustellen ist demnach die eigentlich
menschengemäße
Aufgabe. Sie ist nur zu lösen, wenn jeder einzelne das Ideal freiwillig
anerkennt. Sobald ihn seine Vernunft auf Vorschriften im Dienst des Ideals
verpflichtet, muß er sich so weit selbst überwinden, daß seine Neigung nicht
mehr dieser Pflicht, seine Sinnlichkeit nicht mehr dieser Vernunft
widerspricht. Das Streben nach der doppelten Harmonie und die Bereitschaft,
sich im Konfliktfall selbst zu überwinden, bezeichnen die Vertreter der Klassik
als Humanität. Es ist eine selbsterzieherische moralische Leistung. Diese ist die
Voraussetzung dafür, daß alle zusammen überhaupt erst Menschen im eigentlichen
Sinne werden. Der Humanitätsgedanke verbindet demnach das Schöne (doppelte
Harmonie) mit dem Guten (moralische Leistung) und dem Wahren (Idee des
Menschen).
Individualität Individualität kann sich jetzt nicht mehr, wie im
und Typus Sturm und Drang, als irgendeine Originalität unter
anderen
entfalten. Wenn der einzelne auf dem Wege
ist, das allen gemäße Ziel zu
erreichen, dann muß seine Individualität
immer durchsichtiger werden für
den idealen Typus des Menschen. Die
Klassik sucht in den
mannigfachen und veränderlichen Erscheinungen
den einen und unveränderlichen
Typus aufzuzeigen, der die Idee ver
körpert. Goethe nennt ihn
“Urphänomen".
Bildung und Natur Bildung als Ausbildung der eigenen Anlagen
muß
daher zugleich Bildung zum humanen,
wahren Menschen sein. Dem entspricht eine zwiefache Bestimmung des
Natürlichen. Als unkultivierter
Mensch besitzt er eine rohe, tierische
Natur. Erst wenn er diese mit
dem Ideal in Einklang bringt, erreicht er
seine eigentliche. menschliche
Natur, in welcher Vernunft und Sinnlich
keit miteinander harmonieren.
Das zu tun, die rohe Natur nicht auszu
rotten, wohl aber sie zu kultivieren, ist das Ziel klassischer Bildung.
Die
rohe Natur ist an sich nicht
schlecht:
Dreiphasige Es gibt eine Epoche, welche das Leitbild der doppelten
Geschichte Harmonie schon in Kunst und Leben veranschaulicht
hat
das ist die griechische Antike. Das
Studium der Griechen ist darum ein unverzichtbarer Teil der Bildung. Aber die
doppelte Harmonie ist bei ihnen noch Naturgabe, keine Frucht ethischer
Leistung. Als solche können wir sie uns nun, nachdem sie inzwischen verloren
wurde, erneut erwerben. Die Geschichte verläuft also im Dreischritt von naturgegebener
Harmonie, ihrem Verlust und ihrer Neuerwerbung durch eine Selbstbildung, die
zugleich ethische Leistung ist.
Ästhetische Damit jeder einzelne sich zu bilden geneigt wird, bedarf
Erziehung es
der Erziehung. Kunst und Dichtung erhalten, wie in
der
Aufklärung, eine erzieherische Aufgabe. Sie sollen aber nicht nur, wie dort,
durch ihren möglichst wirkungsvoll vorgetragenen Inhalt beeinflussen, etwa
indem sie Vorbilder humanen Verhaltens oder die Lösung typischer Konflikte vor
Augen stellen, sondern auch durch die schöne, harmonische Form selbst. Insofern
diese ästhetische Erziehung dem Menschen die Idee seiner selbst, sein Wesen im
schönen, begrifflich nie ganz ausdeutbaren Bild vorstellt, bekommen Kunst und
Dichtung eine religiöse Funktion. Letztlich sind beide für die Klassik nicht
mehr deutlich von den Religionen zu trennen.
Gegen die Französische
Revolution
Die ästhetische Erziehung hat
eine gesellschaftliche, aber keine unmittelbar politische Aufgabe.
Eine solche lehnen die Klassiker aufgrund ihrer Erfahrung der Französischen Revolution ab. Zunächst begrüßten fast alle deutschen Intellektuellen die Revolution, denn sie schien den Anbruch einer Zeit zu versprechen, in der sich die einzelnen frei und in allgemeiner Harmonie entfalten können. Von den Folgen der Revolution waren aber sehr viele enttäuscht. Nur wenige Jakobiner, z. B. Georg Forster, hielten konsequent zu ihr. Die Klassiker, außer Ilerder, verurteilten sie. Zwar standen sie weiterhin zu ihren alten Idealen ‑eben diese soll die Kunst darstellen ‑, wollten sie aber nicht durch einen Umsturz verwirklicht sehen, sondern durch Reformen im Rahmen der alten ständischen Ordnung oder durch die ästhetische Erziehung jedes einzelnen; die allgemein humanisierende Wirkung dieser Erziehung sollte einen Umsturz überflüssig machen und insofern letzten Endes doch politisch wirken.
Winckelmann Kunstverständnisses empfängt die Klassik von dem
Archäo
logen
und Kunstgelehrten Winckelmann. Schon in seinem
Erstlingswerk, Gedanken über die Nachahmung der
griechischen Werke in der
Malerei und Bildhauerkunst' (1755), hält er
spätbarockem 'Schwulst' die "edle
Einfalt und stille Größe" griechischer
Kunstwerke entgegen. Damit meint er, daß
in diesen Werken, auch wenn sie bewegt im
Ausdruck sind, immer eine große,
das heißt eine zur eigentlich menschlichen
Individualität gebildete Seele hin
durchschimmert. Diese das Kunstwerk bestimmende
Idee muß der Betrachter zu
erfassen suchen, statt willkürlich Einzelheiten herauszulösen. Seit Winckelmann,
der schon Lessing anregte, wird Literatur immer
wieder im Verhältnis zur bilden
den Kunst untersucht. Erst die Romantik wendet
sich auch dem Verhältnis der
Literatur zur Musik zu. Seit Winckelmann wird
auch in Deutschland die griechi
sche über die römische Antike gestellt.
6.2 Literarisches Leben
Weimar Die deutsche
Klassik ist eng an das kleine Herzogtum Wei
mar
gebunden. Herzog Karl August, von Wieland in gemä
ßigt aufklärerischem Geist erzogen, war liberal
gesinnt und ließ eine
gewisse Meinungs‑ und Pressefreiheit zu. In
der provinziellen, dafür
aber noch unbürokratischen und persönlichen, in
der verhältnismäßig freiheitlichen, aber doch traditionsgebundenen Atmosphäre
Weimars
konnte sich für einige Zeit eine kultivierte aristokratisch‑bürgerliche
Geselligkeit entfalten, in der sich Traditionsbewußtsein mit dem Bemühen um
allgemeine Bildung verband. Die Nähe der Universität Jena, die vom Herzog
mitverwaltet wurde, förderte das Interesse an den Wissenschaften.
Freundschaften Das Dichterbündnis zwischen Goethe und Schiller,
das von 1794 bis zu
Schillers Tod im Jahre 1805 dauerte, prägte nicht nur das geistige Leben
Weimars, sondern die ganze literarische Epoche. Zwei andere Weimarer standen
dem Bündnis nahe: Wieland, dessen weltmännisch‑elegantem Stil sich Goethe
und Schiller verpflichtet fühlten, und Herder, der den Humanitätsgedanken mit
erarbeitete. Das Verhältnis zu Herder trübte sich allerdings zunehmend, vor
allem wegen seiner unverändert positiven Beurteilung der Französischen
Revolution. Ein weiterer Freund, der die klassische Bildungsidee mitprägte,
lebte zumeist in Berlin: Wilhelm von Humboldt, Ästhetiker, Geschichts‑
und Sprachphilosoph, Übersetzer und preußischer Kulturpolitiker. Zwar gelang es
ihm nur in sehr begrenztem Maß.
seine
Reformideen in Preußen zu verwirklichen, aber sein kulturpolitisches Ziel ‑
er erstrebte eine allgemeine, an der Antike orientierte Bildung, die es jedem
erlaubt, seine Individualität harmonisch zum eigentlich Menschlichen zu
erweitern, bevor er sich einengen und in dem
einen oder
anderen Fach spezialisieren muß ‑ blieb für lange Zeit ein
verpflichtendes Ideal, vor allem an den Gymnasien und Universitäten.
Zirkel, Das gesellige Weimar traf sich in den Salons vorneh‑
mer
Damen und in Goethes Haus am Frauenplan.
Theater Man organisierte Gesprächs‑
und Leseabende,
Laientheater, Musikveranstaltungen, Maskenzüge, Bälle. Es bildeten sich wissenschaftliche Gesellschaften wie etwa die
"Weimarer
Kunstfreunde”‑, dort trafen Goethe und Schiller mit dem Maler und
Kunstgelehrten Heinrich Meyer zusammen. Das Weimarer Theater entwickelte sich
unter Goethes Leitung von einem Liebhaber- zu einem berührnten Hoftheater.
6.3 Theorie und Formen der Literatur
Autonomie der Wenn sie das Ideal aufzeigen sollen, das für alle gilt,
Kunst und die dann dürfen Kunst und Dichtung sich nicht von
Weltliteratur Gruppeninteressen leiten lassen. Sie müssen viel
mehr
autonom sein, das heißt unabhängig von poli
tischen, sozialen, nationalen
Zwecken. Dementsprechend zählen auch
die Nationalliteraturen nur,
sofern sie zur Weltliteratur beitragen. Welt
literatur ist ein von Goethe
eingeführter Begriff, welcher der Vorstel
lung einer übernationalen
Gemeinschaft von Menschen entspricht, die
sich zum allgemeinen Ideal
bilden. In diesem überpolitischen, ethisch
ästhetischen Sinn behält die
Klassik die aufklärerische Idee des Weltbür
gertums bei.
Besonderes Das Kunstwerk muß aber nicht nur ein autonomes
und Allgemeines und darum "in sich vollendetes‑ Ganzes sein,
wie
Karl
Philipp Moritz im Übergang vom Sturm und Drang zur Klassik formuliert. Darüber
hinaus soll im besonderen Kunstwerk zugleich ein Allgemeines erscheinen: im
Individuellen das Idealtypische, im Einzelfall das Gesetz, im Zufälligen das
Notwendige. Dabei muß der Eindruck der Freiheit, des Ungezwungenen stets
gewahrt bleiben. Dieser ästhetischen Forderung entspricht die ethische, in den
besonderen, spontanen Äußerungen des einzelnen Menschen müsse sich ohne Zwang
das allgemeine Sittengesetz ausdrücken.
Ideal und Das Ideal, so lehren die Klassiker, sei vorläufig nur in
Wirklichkeit Kunst und Dichtung, also im symbolischen Bild, im
schönen
Schein, im bedeutungsvollen Spiel, nicht in
der Wirklichkeit zu fassen. Dichtung wird somit zur ästhetischen
Kritik
an der gesellschaftlichen
Wirklichkeit. Entweder stellt sie. in harmoni‑
scher Form, den Zustand
allseitiger Harmonie dar und tritt damit unausgesprochen in Gegensatz zur
Wirklichkeit, oder sie zeigt die unharmonisehe Wirklichkeit in ihrer Spannung
zum Ideal. Schiller nennt die erstere Haltung die naive, die zweite die
sentimentalische (s. unten S. 124).
Das Idyllische Die reine Darstellung der idealen Harmonie ist nach
Schiller
die IdyIle. Die Klassik hat zwar die Gattun‑,
der Idylle nicht gepflegt, sieht
man von den frühklassischen Idvllen des
späten Johann Heinrich Voß ab
(z. B. Luise', 1783/84). Aber immer
wieder erscheint der idyllische
Zustand als verlorener und wieder zu
erwerbender. Goethes
Hexameterepos Hermann und Dorothea' hat
die Spannung zwischen Idylle und
der Wirklichkeit der Französischen
Revolution zum Thema.
Drama Das
Drama der Klassik zeigt, wie die Konflikte zwischen den
Ansprüchen
des einzelnen und der unvollkommenen gesell
schaftlichen Wirklichkeit die
ideale, idyllische Harmonie gefährden.
Das Ideal wird schließlich zwar
in der Erwartung einer besseren Zukunft
gerettet, doch oft nur um den
Preis einer völligen, bis zur Aufopferung
reichenden Selbstüberwindung des
einzelnen. Die Klassiker streben
nach strenger Form (Vers,
zumeist Blankvers), nach allgemeingültiger
Formulierung (Sentenz) und nach
der Beschränkung aufs Wesentliche
(wenig Handlung, wenige
Personen, starke Stilisierung, monologisie
rende Selbstbesinnung der
Personen).
Bildungsroman Goethes ‚Wilhelm Meister' gilt
für lange Zeit als
Vorbild
einer eigenen Romangattung, des Bildungs
romans. Im Bildungsroman wird der Lebenslauf des
Helden zugleich als
eine idealtypische Bildungsgeschichte angesehen;
die Individualität des
Helden entfaltet sich organisch und stufenweise,
um sich schließlich der
bestehenden Gesellschaft einzufügen. So
unproblematisch ist Wilhelm
Meister' allerdings nicht angelegt (s. Seite 120