Merkmale der Kurzgeschichte
Kurzgeschichte
K. ist die Lehnübersetzung der anglo-amerikan. Bezeichnung ›short story‹.
Sie läßt sich seit den 90er Jahren des 19. Jh. neben der schon 1886 geprägten
Übertragung ›kurze Geschichte‹ nachweisen; als Synonyme werden um die
Jahrhundertwende ›Skizze‹ u. ›Novelette‹ verwendet, während auch der engl.
Terminus noch gebraucht wird. Daraus ist ersichtlich, daß der dt. Begriff im
Gegensatz zu ›short story‹ nicht Novelle u. längere Erzählung mit einschließt,
vielmehr bewußt von diesen abgehoben wird, indem zwar auch bestehende
Ähnlichkeiten, doch hauptsächlich der Unterschied zur Novelle durch die
Wortwahl ausgedrückt werden. Im 20 Jh. setzt sich die Bezeichnung K. jeweils
nach den beiden Weltkriegen durch, nach 1945 jedoch eindeutig verstanden als
Begriff für eine eigenständige, qualitativ hochstehende Gattung der Kurzprosa,
die der ›short Short-Story‹ entspricht. Ihr Gattungsprinzip ist die qualitativ
angewandte Reduktion u. Komprimierung, die alle Gestaltungselemente einbezieht
u. sich dementsprechend auf die Suggestivkraft der K. auswirkt.
Durch hohe Verdichtung kann eine komplexe, mehrschichtige Struktur
zustande kommen, die als »ein Stück herausgerissenes Leben« (Schnurre 1961)
empfunden wird. Schon die Stoffwahl, generell aus dem Alltagsleben getroffen,
verdeutlicht diese komplexe Kürze: Es finden sich knappe Einblicke in das
Spannungsverhältnis zwischen scheinbar gewöhnl. kleinen Konflikten oder Krisen
des Alltags u. der besonderen, vielleicht sogar tiefgreifenden existentiellen
deutung, die sie für das Leben eines Menschen annehmen können. Die plötzliche,
für den einzelnen ungewöhnl. Situation erfordert eine entsprechende Reaktion,
läßt daher eine an sich durchschnittl. Person momentan zu einem
»Ausnahmemenschen« werden (Damrau 1967). Andeutende Verkürzungen u. oft dramat.
Vergegenwärtigung des Geschehens erreicht die K. beispielsweise durch Verzicht
auf Erklärungen, v. a. bei weitgehend dialogischer, noch dazu umgangssprachl.
Durchgestaltung, zudem durch den oft eingesetzten personalen Erzähler mit
begrenztem Blick. Sie arbeitet dabei mit nur wenigen Personen, vielfach in
Dreierkonstellationen (Rohner 1973), ohne die Figuren zu entwickeln; statt
dessen enthüllt sie sie höchstens (Doderer 1952) durch einen charakterist. Zug
in Aussehen oder Verhalten, wobei Namensgebung, Gestik, Kleidung, Sprache der
Figur deren Motive u. Gefühle erkennen lassen. Auch der Raum wird nur
skizziert, oft gleich zu Beginn knapp bestimmt, etwa als: Kino, nebenan,
Bahnhof (Gutmann 1970), u. wird zur Erweiterung der Vorstellungskraft des
Lesers überlassen. Im Verweisungszusammenhang der verschiedenen Erzählelemente
enthält der Titel in der Regel eine rätselhafte, verschlüsselnde Andeutung auf
das Geschehen, das meistens mehr oder weniger offen, nämlich ohne Einleitung in
den Handlungsverlauf, einsetzt. Beim Schluß ist die Art der Pointierung zu
beachten. Soll die K. nicht verflachen, indem sie lediglich auf einen
spannungslösenden Schlußeffekt zuläuft, dann muß sie außer dieser Schluß- u.
›Strukturpointe‹ einen zusätzl. Höhepunkt beinhalten, durch den der tiefere
Sinn der Geschichte sichtbar wird; die ›Stilpointe‹ ist jedoch nicht an die
Aufdeckung am Schluß gebunden, sondern durch doppelwertige, sinngerichtete
Wortwahl über die gesamte Geschichte verteilt (Auzinger 1956). Der Schluß kann
formal offen, u. er kann formal geschlossen, doch aufgrund der fortbestehenden
Problematik thematisch offen ausfallen. Vorherrschend ist die differenziert zu
sehende Offenheit entsprechend einer als mehrdeutig aufgefaßten Wirklichkeit.
Je nachdem, wie sich Raffungs- u. Dehnungstechnik an die chronolog. Abfolge des
Geschehens halten oder von ihr abweichen, entstehen verschiedene Strukturtypen,
deren Einteilung in Varianten von der Verbindungsart unter den einzelnen
Erzählphasen abhängt (Neuse 1980). Es lassen sich drei Hauptgruppen von
Gattungstypen aufstellen; sie gründen sich auf: 1. chronologisches
Durcherzählen, 2. rückwendendes Erzählen, 3. zeitloses Erzählen. In den beiden
ersten Gruppen finden sich jeweils mehrere Varianten, in denen z. T. intensiv
experimentiert wird, um mit erzähltechn. Mitteln eine möglichst zeitdeckende
Annäherung an die faktische Gleichzeitigkeit von Ereignissen zu erreichen; in
der dritten Gruppe liegt eine sog. Arabeskenordnung vor, d. i. die vom
chronolog. Raffungsprinzip unabhängige Ideenassoziation im inneren Monolog
eines Ich-Erzählers. Mögliche Ergänzungen zu jedem dieser Bautypen sind
Stofftypen wie die Initiations- u. Gegenstandsgeschichte sowie stilistisch
geprägte, etwa vorherrschend satirisch oder grotesk verfremdete,
Inhaltskriterien. Diese historisch belegten Varianten wären je nach der
anhaltenden Entwicklung der K. zu erweitern.
Der immer wieder betonte internationale Charakter der K. sowie die
Tatsache, daß diese Gattung in Deutschland seit dem ausgehenden 19. Jh.
Zunehmend beachtet wird, läßt sich auf das Zusammenspiel mehrerer Entwicklungen
zurückführen. In dem Maße, wie sich im Laufe des Jahrhunderts neue Erzählweisen
herausbilden, denen die traditionellen Prosagattungen nur begrenzt Raum bieten
können - dem offenen Anfang u. Schluß etwa -, wird die K. zum Sammelplatz
dieser modernen Erzählkriterien (Höllerer 1962), u. zwar unter dem
strukturbildenden Prinzip der Kürze. Wesentlich für das qualitative Verständnis
dieses Prinzips wird Edgar Allan Poes Kompositionstheorie, daneben aber auch
die Bekanntschaft mit übersetzten amerikan. K.n, vor allem denen von Poe u.
Bret Harte. Hinzu kommt um 1900 ein umfassendes Übersetzungsangebot von K.n aus
den Literaturen Frankreichs, Rußlands, Skandinaviens u. Englands hinzu, in
dessen Rahmen die Beispiele von Guy de Maupassant u. Anton Tschechow eine
nachhaltige Vorbildfunktion erlangen. Außerdem fördern Zeitschriften u.
Zeitungen die K.; Magazine wie »Simplicissimus« u. »Jugend« setzen sich schon
in den 90er Jahren durch Preisausschreiben für die neue Gattung in der dt.
Literatur ein. Experimentierfreudigkeit unter den Autoren im Umbruch der
Moderne trägt ebenso zur Aufnahmebereitschaft gegenüber der K. bei wie die
Faszination, die von Poes handwerkl. Darlegung des künstlerischen
Arbeitsvorgangs am Beispiel der Short-Story ausging. Poes Schwerpunkte von
Kürze, Spannung u. pointiertem Schluß im Sinne eines wirkungsvollen einheitl.
Eindrucks (»unity of impression«) führen allerdings auch dazu, daß sich über
den Feuilletonteil der Zeitungen eine auf leichte Unterhaltung ausgerichtete,
geradlinig auf einen überraschenden Schlußeffekt zulaufende Variante
ausbreitet. Gegen ihre themat. Verflachung u. den formalen Schablonecharakter
wird in der Folgezeit, bes. in den 20er u. 30er Jahren, vielfach polemisiert,
wobei dieser Typus oft mit der K. überhaupt gleichgesetzt wird u. die Polemik
sich ebenfalls gegen den handwerkl. Aspekt des Erzählens richtet.
Demgegenüber kommt es bei dem Bestreben, den ausländischen, zumal den
amerikan. Vorbildern eine ausschließlich dt. Tradition für die K.
entgegenzusetzen, zu Vermischungen mit Anekdote u. Kalendergeschichte, indem
auf Heinrich von Kleist u. Johann Peter Hebel zurückgegriffen wird. Als
nachteilig erweist sich zudem die ideolog. Einwirkung nationalsozialistischer
Literaturpolitik, denn im Feuilleton hat die K. der ideolog. Erziehung der
Leser zu dienen, was die künstlerische Entwicklung der Gattung in Deutschland
erheblich behindert. Dennoch sind weiterhin amerikan. K.n von William Faulkner,
Ernest Hemingway, Thomas Wolfe, Sherwood Anderson, O. Henry, William Saroyan,
Jack London - z. T. in Anthologien - bis etwa 1942 verfügbar; die meisten
werden dann wieder ab 1945 durch das kulturpolit. Umerziehungsprogramm der
amerikan. Besatzung angeboten. Auch die K.n Maupassants, Tschechows, Katherine
Mansfields gehören zu den Vorbildern dieser Zeit; vereinzelt wird auf dt.
Kurzprosa des frühen 19. Jh. hingewiesen. Doch viele der dt. Nachkriegsautoren
beginnen unter dem Eindruck der Short-Story zu schreiben, fassen diese Gattung
als die ihnen zeitgemäße auf u. leiten die eigentl. Blütezeit der dt. K. ein.
Günstig dafür sind die zahlreichen dt. Zeitschriften, einerseits die ›Story‹
mit internationalen Kurzprosabeiträgen u. knappen theoret. Aussagen
zurShort-Story, andererseits die neugegründeten, die den literar. Arbeiten der
jungen Generation ein Forum bieten.
Die Anziehungskraft der K. geht von ihren nicht idealisierten Figuren -
Durchschnittsmensch oder Außenseiter - u. der suggestiven, andeutenden
Gestaltungsweise aus, also von ihrem strukturbildenden Komprimierungsprinzip.
Damit ist den Autoren viel Spielraum gegeben für eine kritisch-eindrucksvolle
Behandlung existentieller Situationen aus den Erfahrungsbereichen NS-Zeit,
Krieg, Wiederaufbau u.aus dem breiten Themenspektrum von Mitverantwortung des
einzelnen in der Gesellschaft. In den zwei Nachkriegsjahrzehnten geben v. a.
Wolfgang Borchert, Heinrich Böll, Wolfdietrich Schnurre, Kurt Kusenberg,
Elisabeth Langgässer, Hans Bender, Ilse Aichinger, Marie Luise Kaschnitz,
Siegfried Lenz, Martin Walser, Wolfgang Hildesheimer u. Peter Bichsel der dt.
K. ein abwechslungsreiches Profil; formale Vielfalt durch Strukturvarianten u.
ergänzende Stofftypen prägen die Gattung. Ab Mitte der 50er Jahre wird sie
zunehmend Teil des Deutschunterrichts, dadurch verbreitet u. wissenschaftlich
diskutiert. Seitdem in den 70er Jahren andere literar. Gattungen in den
Vordergrund gerückt sind u. der K. weniger Platz in Zeitungen u. Zeitschriften
zur Verfügung steht, spielt sie keine so dominante Rolle mehr, hat aber ihren
festen Platz in der literar. Öffentlichkeit durch ihre Funktion in der
Schulpraxis u. durch regelmäßig veranstaltete Wettbewerbe; besonders aufgrund
ihrer prägnanten, flexiblen Form eignet sie sich immer wieder für die
nachdrückl. Bearbeitung gesellschaftskrit. Themen, wie aus vielen K.n der 70er
u. 80er Jahre hervorgeht: bei Alfred Andersch, Angelika Mechtel, Josef Reding,
Hans van Ooyen etwa u. bei Autoren der ehemaligen DDR wie Jurek Becker, Thomas
Brasch, Ulrich Plenzdorf, Klaus Schlesinger.
& LITERATUR: Julius Wiegand: Gesch. der dt.Dichtung [...]. Köln 1922,
S. 413. - Felix Langer: Die K. In: Die Lit. 32 (1929/30), S. 613 f. - HansAdolf
Ebing: Die dt. K. Diss.
Münster 1935. Bochum 1936. - Elizabeth Bowen: The Short Story. In: Dies. (Hg.):
The Faber Book of Modern Short Stories. London 1937, S. 7-19. - Helga v.
Kraft: Die K. als Gegebenheit u. als Idee. Diss. Münster 1942. - Elisabeth
Langgässer: Das Kreuz der K. In: SZ, 9. 12. 1949. - Klaus Doderer: Die K. in
Dtschld. Diss. Marburg
1952. Darmst. 1953. Neudr. ebd. 1972. 61980. - Siegfried Unseld: An
diesem Dienstag. Unvorgreifl. Gedanken über die K. In: Akzente 2 (1955), S.
139-148. - Helene Auzinger: Die Pointe bei Cechov. Diss. Mchn. 1956. - Ruth
Lorbe: Die dt. K. der Jahrhundertmitte. In: DU 9, H. 1 (1957), S. 36-54. -
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Rundschau 87 (1961), S. 61-66. - Hans Bender: Ortsbestimmung der K. In: Akzente
9(1962), S. 205-225. - Walter Höllerer: Die kurze Form der Prosa. In: ebd., S.
226-245. - Helga Maleen Damrau: Studien zum Gattungsbegriff der K. im 19. u.
20. Jh. Diss. Bonn 1967. - Ruth Kilchenmann: Die K. Stgt. 1967. 51978. - Lily
Daetz: Studien zur sowjetruss. K. Diss. Mchn. 1969. - Paul-Otto Gutmann:
Erzählweisen in der dt. K. Braunschw. 1970. - Jan Kuipers: Zeitlose Zeit. Die
Gesch. der dt. Kurzgeschichtsforsch. Groningen 1970. - Paul Goetsch: Studien u.
Materialien zur Short Story. Ffm. 1971. 31978. - Ferdinand Piedmont: Die Rolle
des Erzählers in der K. In: ZfdPh 92 (1973), S. 537-552. - Ludwig Rohner:
Theorie der K. Ffm. 1973. Wiesb. 21976. - Erna Brandenberger: Die span. K. Bonn
1974. - Günter Jäckel u. Ursula Roisch: Große Form in kleiner Form. Zur sozialist.
K. Halle/Saale 1974. - Klaus Lubbers: Typologie der Short Story. Darmst. 1972.
21989. - Günter Ahrends: Die amerikanische K. Stgt. 1980. - Manfred Durzak: Die
dt. K. der Gegenwart. Ebd. 1980. 21983. - Erna Kritsch Neuse: Die dt. K. Das
Formexperiment der Moderne. Bonn 1980. - Leonie Marx: Die dt. K. Stgt. 1985. -
M. Durzak: Die Kunst der K. Mchn. 1989. - K. Lubbers (Hg.): Die englische u.
amerikanische K. Darmst. 1990. - E. K. Neuse: Der Erzähler in der dt. K. Columbia/S. C. 1991. Leonie Marx
[Sachlexikon: Kurzgeschichte, S. 9 ff.
Digitale Bibliothek Band 9: Killy Literaturlexikon, S. 25100 (vgl. Killy
Bd. 13, S. 500 ff.)