Hannah-Arendt-Gymnasium
LKD 12 (Höfig)
01.05.00
Thema: Zu Hamlets Monolog (Sein oder nicht sein.) Textstellen
aus der Literatur zum Selbstmord
Der Selbstmord ist ein Ereignis der menschlichen
Natur, welches, mag auch darüber schon so viel ge-
sprochen und gehandelt sein als da will, doch einen
jeden Menschen zur Teilnahme fordert, in jeder Zeite-
poche wieder einmal verhandelt werden muß. Montes-
quieu erteilt seinen Helden und großen Männern das
Recht, sich nach Befinden den Tod zu geben, indem
er sagt, es müsse doch einem jeden freistehen, den
fünften Akt seiner Tragödie da zu schließen, wo es
ihm beliebe. Hier aber ist von solchen Personen nicht
die Rede, die ein bedeutendes Leben tätig geführt, für
irgend ein großes Reich oder für die Sache der Frei-
heit ihre Tage verwendet, und denen man wohl nicht
verargen wird, wenn sie die Idee, die sie beseelt, so-
bald dieselbe von der Erde verschwindet, auch noch
jenseits zu verfolgen denken. Wir haben es hier mit
solchen zu tun, denen eigentlich aus Mangel von
Taten, in dem friedlichsten Zustande von der Welt,
durch übertriebene Forderungen an sich selbst das
Leben verleidet. Da ich selbst in dem Fall war, und
am besten weiß, was für Pein ich darin erlitten, was
für Anstrengung es mir gekostet, ihr zu entgehn; so
will ich die Betrachtungen nicht verbergen, die ich
über die verschiedenen Todesarten, die man wählen
könnte, wohlbedächtig angestellt.
Es ist etwas so
Unnatürliches, daß der Mensch sich
von sich selbst losreiße, sich nicht allein beschädige,
sondern vernichte, daß er meistenteils zu mechani-
schen Mitteln greift, um seinen Vorsatz ins Werk zu
richten.
[Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit, S. 934. Digitale
Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 27640 (vgl. Goethe-HA Bd. 10, S.
583-584)]
›Dein Brief war Selbstmord.
Glaub mir nur dies, die
meisten Menschen sind Selbstmörder,
und Du gehörst
zu den vielen, die es
verachten ihr Leben durch einen
mächtigen Giftbecher zu
enden, aber das Gift gierig in
tausend schönen Lebensblumen
aufsuchen und ein-
saugen. Und ist nicht das
letzte unwillkürliche Ringen
nach Leben, der Todeskampf,
das letzte Aufatmen,
der Todesseufzer ein
eigentlicher Abscheu der Natur,
[Arnim: Armut, Reichtum,
Schuld und Buße der Gräfin Dolores, S. 162. Digitale Bibliothek Band 1:
Deutsche Literatur, S. 174 (vgl. Arnim-RuE Bd. 1, S. 98-99)]
LENA. Wer spricht da?
LEONCE. Ein Traum.
LENA. Träume sind selig.
LEONCE. So träume dich selig
und laß mich dein se-
liger Traum sein.
LENA. Der Tod ist der
seligste Traum.
LEONCE. So laß mich dein
Todesengel sein! Laß
meine Lippen sich gleich seinen Schwingen auf
deine Augen senken. (Er küßt sie.) Schöne Leiche,
du ruhst so lieblich auf dem schwarzen Bahrtuch
der Nacht, daß die Natur das Leben haßt und sich
in den Tod verliebt.
LENA. Nein, laß mich! (Sie
springt auf und entfernt
sich rasch.)
LEONCE. Zu viel! Zu viel!
Mein ganzes Sein ist in
dem einen Augenblick. Jetzt stirb! Mehr ist un-
möglich. Wie frischatmend, schönheitglänzend
ringt die Schöpfung sich aus dem Chaos mir entge-
gen! Die Erde ist eine Schale von dunklem Gold:
wie schäumt das Licht in ihr und flutet über ihren
Rand, und hellauf perlen daraus die Sterne. Dieser
eine Tropfen Seligkeit macht mich zu einem köstli-
chen Gefäß. Hinab, heiliger Becher! Er will sich in
den Fluß stürzen.
VALERIO (springt auf und
umfaßt ihn.) Halt, Sere-
nissime!
LEONCE. Laß mich!
VALERIO. Ich werde Sie
lassen, sobald Sie gelassen
sind und das Wasser zu lassen versprechen.
LEONCE. Dummkopf!
VALERIO. Ist denn Eure Hoheit
noch, nicht über die
Leutnantsromantik hinaus: das Glas zum Fenster
hinauszuwerfen, womit man die Gesundheit seiner
Geliebten getrunken?
LEONCE. Ich glaube halbwegs,
du hast recht.
VALERIO. Trösten Sie sich!
Wenn Sie auch nicht
heut nacht unter dem Rasen schlafen, so schlafen
Sie wenigstens darauf: Es wäre ein ebenso selbst-
mörderischer Versuch, in eins von den Betten gehn
zu wollen. Man liegt auf dem Stroh wie ein Toter
und wird von den Flöhen gestochen wie ein Leben-
diger.
LEONCE. Meinetwegen. (Er legt
sich ins Gras.)
Mensch, du hast mich um den schönsten Selbst-
mord gebracht! Ich werde in meinem Leben keinen
so vorzüglichen Augenblick mehr dazu finden, und
das Wetter ist so vortrefflich. Jetzt bin ich schon
aus der Stimmung. Der Kerl hat mir mit seiner gel-
ben Weste und seinen himmelblauen Hosen alles
verdorben. - Der Himmel beschere mir einen recht
gesunden, plumpen Schlaf!
VALERIO. Amen! - Und ich habe
ein Menschenle-
ben gerettet
[Büchner: Leonce und Lena, S.
39. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 6848 (vgl. Büchner-WuB,
S. 137-138)]
»Red nicht so!« rief Georg.
»Du wirst keine Tod-
sünde begehen; Selbstmord ist
eine Todsünde und
eine Feigheit.«
»Unsinn!« stieß Pepi höhnisch aus. »Wie kann
man so ein Esel sein und
alles nachplappern, was sie
einem in der Schul sagen.
Aber du hast nie einen eige-
nen Einfall.
[Ebner-Eschenbach: Der
Vorzugsschüler, S. 25. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 9225
(vgl. Ebner-GW Bd. 1, S. 529)]
Aber du begehst einen
Selbstmord, fuhr es ihm durch
den Sinn, und ein Selbstmord
ist eine Todsünde. Ihn
schauderte. »Lieber Gott!
Allgütiger!« stöhnte er und
blickte flehend zum Himmel
empor. »Rechne mir
meinen Tod nicht als Sünde
an! Ich will keine Sünde
begehen, ich will sterben für
den Frieden meiner El-
tern. Mein Tod ist ein
Opfertod.«
[Ebner-Eschenbach: Der
Vorzugsschüler, S. 60. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 9260
(vgl. Ebner-GW Bd. 1, S. 550)]
O Jüngling, lern' aus
der Geschichte,
Die dich vielleicht zu
Tränen zwingt,
Was für bejammernswerte
Früchte
Die Liebe zu den Schönen
bringt!
Ein Beispiel
wohlgezogner Jugend,
Des alten Vaters Trost
und Stab,
Ein Jüngling, der durch
frühe Tugend
Zur größten Hoffnung
Anlaß gab;
Den zwang die Macht der
schönen Triebe,
Climenen zärtlich
nachzugehn.
Er seufzt', er bat um
Gegenliebe;
Allein vergebens war
sein Flehn.
Fußfällig klagt er ihr
sein Leiden.
Umsonst! Climene heißt
ihn fliehn.
»Ja«, schreit er, »ja
ich will dich meiden;
Ich will mich ewig dir
entziehn.«
Er reißt den Degen aus
der Scheide.
Und - o was kann
verwegner sein!
Kurz, er besieht die
Spitz' und Schneide,
Und steckt ihn langsam
wieder ein.
[Gellert: Fabeln und Erzählungen, S. 32. Digitale Bibliothek Band 1:
Deutsche Literatur, S. 18559 (vgl. Gellert-W Bd. 1, S. 47)]
»Ach ihr vernünftigen Leute!«
rief ich lächelnd aus.
»Leidenschaft! Trunkenheit!
Wahnsinn! Ihr steht so
gelassen, so ohne Teilnehmung
da, ihr sittlichen Men-
schen, der Priester und dankt
Gott wie der Pharisäer,
daß er euch nicht gemacht hat
wie einen von diesen.
Ich bin mehr als einmal
trunken gewesen, meine Lei-
denschaften waren nie weit
vom Wahnsinn, und bei-
des reut mich nicht: denn ich
habe in einem Maße be-
greifen lernen, wie man alle
außer ordentlichen Men-
schen, die etwas Großes,
etwas Unmöglichscheinen-
des wirkten, von jeher für
Trunkene und Wahnsinnige
ausschreien mußte.
Aber auch im gemeinen Leben ist's unerträglich,
fast einem jeden bei halbweg
einer freien, edlen, uner-
warteten Tat nachrufen zu
hören: ›Der Mensch ist
trunken, der ist närrisch!‹
Schämt euch, ihr Nüchter-
nen! Schämt euch, ihr
Weisen!«
»Das sind nun wieder von deinen Grillen,« sagte
Albert, »du überspannst alles
und hast wenigstens
hier gewiß unrecht, daß du
den Selbstmord, wovon
jetzt die Rede ist, mit
großen Handlungen vergleichst:
da man es doch für nichts
anders als eine Schwäche
halten kann. Denn freilich
ist es leichter zu sterben,
als ein qualvolles Leben
standhaft zu ertragen.«
Ich war im Begriff abzubrechen; denn kein Argu-
ment bringt mich so aus der
Fassung, als wenn einer
mit einem unbedeutenden
Gemeinspruche angezogen
kommt, wenn ich aus ganzem
Herzen rede. Doch
faßte ich mich, weil ich's
schon oft gehört und mich
öfter darüber geärgert hatte,
und versetzte ihm mit ei-
niger Lebhaftigkeit: »Du
nennst das so Schwäche?
Ich bitte dich, laß dich vom
Anscheine nicht verfüh-
ren. Ein Volk, das unter dem
unerträglichen Joch
eines Tyrannen seufzt, darfst
du das schwach heißen,
wenn es endlich aufgärt und
seine Ketten zerreißt?
Ein Mensch, der über dem
Schrecken, daß Feuer sein
Haus ergriffen hat, alle
Kräfte gespannt fühlt und mit
Leichtigkeit Lasten wegträgt,
die er bei ruhigem
Sinne kaum bewegen kann;
einer, der in der Wut der
Beleidigung es mit sechsen
aufnimmt und sie über-
wältigt, sind die schwach zu
nennen? Und, mein
Guter, wenn Anstrengung
Stärke ist, warum soll die
Überspannung das Gegenteil
sein?« - Albert sah
mich an und sagte: »Nimm
mir's nicht übel, die Bei-
spiele, die du da gibst,
scheinen hieher gar nicht zu
gehören.«
[Goethe: Die Leiden des
jungen Werther, S. 68. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 23258
(vgl. Goethe-HA Bd. 6, S. 47-48)]
Man schreibt wider den
Selbstmord mit Gründen
die unsere Vernunft in dem
kritischen Augenblick be-
wegen sollen. Dieses ist aber
alles vergeblich, so
lange man sich diese Gründe
nicht selbst gefunden
hat, das heißt, so bald sie
nicht die Früchte, das Re-
sultat unserer ganzen
Erkenntnis und unsres erworbe-
nen Wesens sind. Also alles
ruft uns zu, bemühe dich
täglich um Wahrheit, lerne
die Welt kennen, befleißi-
ge dich des Umgangs mit
rechtschaffnen Menschen,
so wirst du jederzeit handeln
wie dirs am
zuträglichsten ist, und
findest du dereinst den
Selbstmord für zuträglich,
das heißt sind alle deine
Gründe nicht hinreichend dich
abzuhalten, so ist er
dir auch - erlaubt.
[Lichtenberg: [Aus den
»Sudelbüchern«], S. 463. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S.
69557 (vgl. Lichtenberg-SuB Bd. 1, S. 820)]
Der
berühmte Monolog: To be or not to be etc.
macht natürlich den großen Eindruck auf den Zuhörer
nicht, und kann ihn nicht machen. Er tut aber doch
ungleich mehr, als man von einem Räsonnement über
Selbstmord und Tod in einem Trauerspiel erwarten
sollte, deswegen, weil ihn nicht allein ein großer Teil
der Versammlung wie ein Vaterunser auswendig
weiß, sondern auch, mögte ich sagen, jedermann wie
ein Vaterunser sprechen hört, zwar freilich nicht mit
den großen begleitenden Ideen unsers geheiligten Ge-
bets, aber doch mit einem Gefühl von Feierlichkeit
und Würde, wovon sich jemanden, der England nicht
kennt, kein Begriff geben läßt. Shakespear ist auf die-
ser Insel nicht berühmt, sondern heilig; man hört
seine Sittensprüche überall; ich selbst habe sie am 7.
Februar, an einem wichtigen Tag, im Parlement ge-
hört. So verwächst sein Namen mit den ehrwürdigsten
Ideen; man singt aus ihm und von ihm, und daher
lernt ihn ein großer Teil der englischen Jugend eher
kennen als das ABC und den Pontius Pilatus.
Hamlet, der, wie ich schon
erinnert habe, in Trauer
ist, erscheint hier, weil er schon angefangen hat, den
Verrückten zu spielen, mit dickem, losem Haar,
davon ein Teil über die eine Schulter hervorhängt;
einer von den schwarzen Strümpfen ist herunter gefal-
len und läßt den weißen Unterstrumpf sehen, auch
eine Schlinge des roten Kniebandes hängt über die
Mitte der Wade herab. So tritt er langsam und in tie-
fer Betrachtung hinter den Szenen hervor; das Kinn
unterstützt er mit der rechten Hand, und den Ellbogen
des rechten Arms mit der linken, und sieht mit großer
Würde seitwärts auf die Erde nieder. Hierauf, indem
er den rechten Arm von dem Kinn wegbringt, aber,
wo ich mich recht erinnere, ihn noch durch den linken
unterstützt hält, spricht er die Worte To be or not to
be etc. leise, aber wegen der großen Stille (und nicht
aus einer besondern Gabe des Mannes, wie sogar in
einigen Schriften steht) überall vernehmlich.
Eine kleine Sprachanmerkung
muß ich hier ma-
chen. In der vierten Zeile dieses Monologs schlagen
doch einige vor, against assailing troubles anstatt
against a sea of troubles zu lesen, weil man gegen
ein Meer die Waffen nicht ergreifen könne. Herr Gar-
rick sagt dem ungeachtet against a sea of troubles.
Ich gebe Ihnen hier bloß Garricks Stimme; was er für
Autoritäten für sich hat, untersuche ich nicht. Mir
[Lichtenberg: Briefe aus England, S. 31. Digitale Bibliothek Band 1:
Deutsche Literatur, S. 69800 (vgl. Lichtenberg-SuB Bd. 3, S. 341-342)]
MILLER. Was hast du vor,
meine Tochter? - Du
willst eigenmächtig Hand an dich legen.
LUISE. Nenn Er es nicht so,
mein Vater. Eine Gesell-
schaft räumen, wo ich nicht wohlgelitten bin - An
einen Ort vorausspringen, den ich nicht länger mis-
sen kann - Ist denn das Sünde?
MILLER. Selbstmord ist die
abscheulichste, mein
Kind - die einzige, die man nicht mehr bereuen
kann, weil Tod und Missetat zusammenfallen.
LUISE (bleibt erstarrt
stehen.) Entsetzlich! - Aber
so rasch wird es doch nicht gehn. Ich will in den
Fluß springen, Vater, und im Hinuntersinken Gott
den Allmächtigen um Erbarmen bitten.
MILLER. Das heißt, du willst
den Diebstahl bereuen,
sobald du das Gestohlene in Sicherheit weißt -
Tochter! Tochter! gib acht, daß du Gottes nicht
spottest, wenn du seiner am meisten vonnöten hast.
O! es ist weit! weit mit dir gekommen! - Du hast
dein Gebet aufgegeben, und der Barmherzige zog
seine Hand von dir.
[Schiller: Kabale und Liebe,
S. 145. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 83489 (vgl.
Schiller-SW Bd. 1, S. 837-838)]