Thomas Manns Darstellungen des Sterbens und der Triumph des Menschlichen
Von Wolfgang Schneider
Todesdarstellungen waren eine besondere Spezialität von Thomas Mann.
Hierin hielt er sich selbst für ziemlich unübertrefflich. Thomas Manns
Todessympathie verdankt sich zu einem guten Teil dem Erlebnis Wagners, aber
auch einer selektiven Schopenhauer-Lektüre. Doch nicht die Realität des
Todes, sondern die Poesie des Todes sucht Thomas Mann. Der Tod ist in seinem
Werk ein ästhetizistisches Refugium. Thomas Manns Geburtstag jährt sich am
6. Juni zum 125. Mal.
Zu den wenigen zeitgenössischen Autoren, die Thomas Mann als ranggleich
empfunden hat, gehörte Marcel Proust. 1935, als er an «Joseph in Ägypten»
arbeitete und die komplexe Psychologie der weiblichen Hauptfigur, der
Überlieferung etwas verächtlich bekannt als «Potiphars Weib», zu entwickeln
hatte, las er Proust zur Anregung und schrieb in einem Brief: «Er ist von
einer phantastischen Müssigkeit, die mich verblüfft und anzieht. Und Dinge
wie der ‹Tod meiner Grossmutter› in der ‹Herzogin von Guermantes›, mit den
Blutegeln im Haar, sind doch unvergesslich.» Es ist also eine
Todesdarstellung, die er rühmt.
Das Lob Prousts ist schon deshalb sehr hoch zu veranschlagen, weil
Todesdarstellungen eine besondere Spezialität des Schriftstellers Thomas Mann
waren; hier hielt er sich selbst für ziemlich unübertrefflich. Wenige Zeilen
vorher hatte er in dem Brief denn auch von einem Kapitel des «Joseph»
gesprochen, dem «Bericht von Montkaws bescheidenem Sterben», mit dem er
damals bei Lesungen regelmässig grossen Eindruck machte: «Ein Todesfall,
darin bin ich nun einmal stark.»
DER FREUNDLICHE BRUDER
Immer wieder werden in seinen Werken Todesfälle beschrieben, immer wieder
wird auch die Sympathie mit dem Tod beschworen, besonders ausgiebig in den
«Buddenbrooks». Vor allem für den lebensunlustigen Hanno Buddenbrook erscheint
der Tod als erlösende Macht. Thomas Manns Todessympathie verdankt sich zu
einem guten Teil dem Erlebnis Wagners, insbesondere der Einheitserotik des
«Tristan», aber auch der - offensichtlich noch selektiven - Lektüre
Schopenhauers. Das berühmte 41. Kapitel des zweiten Bandes der «Welt als
Wille und Vorstellung», «Über den Tod und sein Verhältnis zur
Unzerstörbarkeit unseres Wesens an sich», ist wie die «Aphorismen zur
Lebensweisheit» eine Abzweigung von der Hauptlinie der schopenhauerschen
Philosophie.
Wird dieses Kapitel isoliert betrachtet oder als die «Hauptsache», das
«eigentlich Wichtige» verstanden - so der schnell zu ihm hinblätternde Thomas
Buddenbrook bei seiner ergriffenen Lektüre der «Welt als Wille und
Vorstellung» -, kann es leicht zu einer Verzeichnung der philosophischen
Hauptabsichten kommen; der philosophierende Romanheld ist das beste Beispiel
dafür.
Der Tod wird von Schopenhauer hier als die sich «von selbst öffnende
Zuflucht» des Bedrängten, als freundlicher Bruder des Schlafes beschrieben;
auch der gewaltsame Tod könne nicht schmerzhaft sein, «da selbst schwere
Verwundungen in der Regel gar nicht gefühlt werden». Erst recht der Tod durch
Altersschwäche erscheint in diesem Zusammenhang als Wohltat: «ein
allmähliches Verschwinden und Verschweben aus dem Dasein auf unmerkliche
Weise». Die Todesqualen werden von dem sonst jedes Leiden mit empörter
Vehemenz schildernden Schopenhauer in diesem Kapitel merkwürdig verharmlost.
Er will hier metaphysischen Trost bieten.
Eine Schopenhauer-Rezeption, die in Einklang bleiben wollte mit Wagners
Todesschwärmerei im «Tristan», musste zwangsläufig das 41. Kapitel «Über
den Tod» vom Rand ins Zentrum rücken. Verklärung des Todes ist sonst nicht
Schopenhauers Sache; wer am Leben leidet, soll sich keinen schönen Tod
erträumen, sondern bis auf Weiteres die Zähne zusammenbeissen und den Willen
verneinen.
Auch Thomas Manns Todessympathie meint es nicht ganz ernst mit dem
Sterben. Vielmehr geht es um ein ästhetizistisches Refugium, um die Suche
nach einer schmerzlich-schönen und fragilen Gegenwelt zur gemeinen
Wirklichkeit des Lebens. Nicht die Realität des Todes, sondern die Poesie des
Todes wird gesucht, die «abendliche Verklärung des Verfalls, der Auflösung
und des Verlöschens».
Dass Thomas Manns Werk von Anfang an zwischen Todesästhetizismus und
Todesrealität sehr gut zu unterscheiden wusste, wird noch in der voluminösen
Biographie von Klaus Harpprecht übersehen. Pauschal werden die Darstellungen
Thomas Manns in die Nähe von Todeskitsch gerückt: «Freund Hein, Verklärung
des Schrecklichen, neunzehntes Jahrhundert. Er konnte, er wollte der
schrecklichen Realität des Letzten nicht ins Auge sehen.» Eher das Gegenteil
ist richtig. Der Blick auf das Letzte ist in diesem Werk gründlich und
unbestechlich. Metaphysische Perspektiven sind das eine, das andere ist die
«Lebenswahrheit, auf die der Dichter vor allem verpflichtet ist» (Thomas Mann
im «Versuch über Tschechow»).
Die Todesphilosophie wirft schon in den «Buddenbrooks» keinen verklärenden
Schein auf die Sterbe- und Todesdarstellungen. Die Zerstörung des Organismus
wird nicht als die Aussenseite eines befreienden Geschehens nebenbei
abgehandelt, sie ist das Eigentliche. Die subjektive Perspektive dagegen, die
allein den Tod als sanftes «Verschwinden und Verschweben» zeigen könnte, wird
konsequent ausgeschlossen. Bestimmend ist der naturalistisch genaue Blick auf
den von Krankheit und Tod überfallenen und zugerichteten Körper, das grausame
Detail. Selten zuvor ist eine Hauptfigur - Hanno Buddenbrook - so abrupt und
scheinbar unbeteiligt beseitigt worden, indem lediglich die Symptome des
Typhus aufgelistet werden.
AUS DEM LEBEN GERISSEN
Ohne Vorbereitung und mildernde Umstände werden die Figuren aus dem Leben
gerissen. Thomas Buddenbrook wird vom Schlaganfall auf das schmutzige
Pflaster «geschmettert», er stirbt in der folgenden Nacht. Ratloses
Dabeisitzen und Phrasen kennzeichnen die Situation der Familie. Selbst die
sich mit den Verstorbenen beschäftigenden Gespräche, wie sie im «Zauberberg»
an Totenbetten geführt werden, sind hier undenkbar, der Hilflosigkeit der
Lebenden angesichts der hässlichen Naturmacht Tod entspricht die Art, wie der
Roman unvermittelt zur Tagesordnung übergeht.
Johann Buddenbrook erwischt es beim Ankleiden zu einem Spaziergang. Die
Szene im Landschaftszimmer erinnert an die manière noire Flauberts. Das
Hausmädchen ist herbeigeeilt, um vom beängstigenden Zustand des Konsuls zu
berichten, sie ringt mit den Worten: «Lines ausdruckslose blaue Augen waren
weit aufgerissen, und ihre Kinnbacken arbeiteten eine Weile
vergebens . . .» Tony Buddenbrook vermutet in der ihr eigenen
Hausbackenheit: «Nun hat sie wieder Stücke gemacht! Wahrscheinlich aus gutem
Porzellan! Nein, Mama, dein Personal . . .!» Thomas schreit
nach dem Arzt. Kühl beendet der Erzähler das Kapitel: «Aber Johann
Buddenbrook war schon tot.»
Es gibt einen Zusammenhang von Dekadenz und einem würdelosen,
überfallartigen Tod, musterhaft im Fall des Senators Möllendorpf: «Diesem
diabetischen Greise waren die Selbsterhaltungsinstinkte so sehr abhanden
gekommen, dass er in den letzten Jahren seines Lebens mehr und mehr einer
Leidenschaft für Kuchen und Torten unterlegen war. Doktor Grabow hatte mit
aller Energie [. . .] protestiert, und die besorgte Familie hatte
ihrem Oberhaupte das süsse Gebäck mit sanfter Gewalt entzogen. Was aber hatte
der Senator getan? Geistig ungebrochen, wie er war, hatte er sich in einer
unstandesgemässen Strasse [. . .] ein Zimmer gemietet, eine Kammer,
ein wahres Loch, wohin er sich heimlich geschlichen hatte, um Torte zu essen . . .
und dort fand man auch den Entseelten den Mund noch voll halb zerkauten
Kuchens.»
Die Einzelheiten dieses Todesfalles werden von der Familie geheimgehalten,
dennoch bilden sie schnell den Klatsch an der Börse und im Klub, auf den
Bällen, Diners und Abendgesellschaften. Der groteske Tod des Senators ist
eine entwürdigende Heimsuchung für die ganze Familie.
WÜRDE
Ein Jahrhundertdrittel später macht sich in den Josephsromanen eine
deutlich geänderte Sicht auf Sterben und Tod geltend. Die Sterbe- und
Todeskapitel dieses vierbändigen Hauptwerks gestalten immer wieder
zeremonielle Abschiedsszenen, das Sterben nimmt den Figuren nicht die Würde.
Die eigenwillige mythische Lebensphilosophie, die sich Thomas Mann in diesem
Riesenwerk erarbeitet hat, steht mit ihrer Einbindung des Todes dem Sterben
weniger hilf- und sprachlos gegenüber als das bürgerliche Leistungsdenken der
«Buddenbrooks», wo man das Körperliche, Naturhafte durch dezente
Umgangsformen fernzuhalten sucht, in der Ahnung, dass schliesslich doch alles
unter dem «nahen und durchdringenden Auge des Todes zunichte» wird.
Vor allem diese gezielte Verdrängung ist die Voraussetzung für den hämisch
und hässlich triumphierenden Tod. Der Mythos stellt dagegen Denk- und
Umgangsformen bereit, die es mit der Formlosigkeit des Todes aufnehmen
können. Das heisst jedoch nicht, dass das Sterben beschönigt wird. Rahel, die
grosse Liebe Jaakobs, stirbt nach grausamen Qualen bei der Geburt Benjamins
am Strassenrand. Im Fall des sterbenden Hausverwalters Mont-kaw verhindert
das feierliche Reden von Abdankung und gottgewolltem Opfertod zugunsten
Josephs nicht Beschreibungen von moderner klinischer Genauigkeit. Wie beim
Typhustod Hanno Buddenbrooks macht der Autor für dieses Kapitel medizinische
Exzerpte zur Nierenpathologie.
Der Tod erscheint auch hier als grausam bewaffnete Macht. Wenn der Roman
dann aber übergeht zu den feierlichen Sterbe- und Trostreden, so ist das auch
als Triumph des Menschlichen über die stumme Macht zu verstehen. Das
Plötzliche, womit die Darstellungen der «Buddenbrooks» die völlige Fremdheit
des Todes gegenüber der Lebensform zum Ausdruck brachten, weicht einer
innehaltenden Ausführlichkeit. Der Tod einer Figur bildet nicht mehr einen
schlagartigen Kapitelschluss, ihm werden lange Kapitel eingeräumt, die der
Autor immer wieder als Höhepunkte seines Erzählens empfand. Nicht eine
forciert kalte Beschreibung der Symptome und Entstellungen des Körpers ist
bestimmend, sondern die erzählerische Einfühlung in die Leidenden und
Mitleidenden.
In dieser Perspektive kann der Tod auch als Erleichterung erfahren werden:
«Wie ist doch alle Last von mir genommen, Kindeslast, Lebenslast, und es wird
Nacht», sagt Rahel am Ende. Auch dem sterbenden Mont-kaw bringt der Tod neben
Leiden eine freudige Erregung darüber, «abdanken» zu können. Josephs letzte
Trost- und Einschlafrede verheisst ihm ersehnte Ruhe: «Aus ist's mit Plack
und Plage und jeglicher Lästigkeit. Keine Leibesnot mehr [. . .].
Auf tut sich die Kerkergrube deiner Belästigung.»
Diese Entbürdung hat aber wenig gemeinsam mit Hannos stummem Verschwinden
aus dem brutalen Getriebe des Lebens. Der Tod wird nicht schopenhauerisch als
bewusstloses Zurücksinken in den «Schoss der Natur» begriffen. Vorsorge,
Rückblick, in die Zukunft hineinwirkende Sterbereden, wie sie der Patriarch
Jaakob, aber auch der bescheidene Mont-kaw halten, Abschied, Trauer: Das
Sterben wird dadurch gewiss nicht einfach, aber doch erleichtert, es verliert
das Groteske, Höhnische, Fremde. Die unfassbare Naturgewalt des Todes, die in
den «Buddenbrooks» die Darstellungen prägte, scheint hier durch menschliche
Formen gebändigt, die mehr sind als Verlegenheit und schales Arrangement.
«ZAUBERBERG» ALS ÜBERGANG
Der «Zauberberg» ist, auch was die Todesdarstellungen betrifft, ein Werk
des Übergangs. Hans Castorp bildet sich auf seine fromme Sympathie mit dem
Tod einiges ein. In der täglichen Wirklichkeit des Sanatoriums bekommt er es
dann unerwarteterweise immer wieder mit den Schrecken des Sterbens zu tun.
Wenn der Herrenreiter hustet, hat das nichts von Todesschönheit, es klingt
vielmehr «wie ein schauerlich kraftloses Wühlen im Brei organischer
Auflösung. Es ist ja gerade, als ob man dabei in den Menschen hineinsähe, wie
es da aussieht - alles ein Matsch und Schlamm.» Das Organische, ein Grauen! Feierlichkeit
auf der ideellen, Schocks auf der realistischen Ebene.
Gegen diese unvermittelte Dualität macht sich im «Zauberberg» schon die
neue Sichtweise geltend. Sie resultiert, ganz kurz gesagt, aus einer
veränderten Einstellung zur Vergänglichkeit, zur Zeit. Im Zentrum der
Philosophie Schopenhauers ist ein vernichtendes Gefühl von Vergänglichkeit
wirksam: «Die Zeit ist das, vermöge dessen alles jeden Augenblick unter
unseren Händen zu nichts wird - wodurch es allen wahren Wert verliert.»
Gegen solche Vanitas-Empfindungen müssen sich auch die frühen Helden
Thomas Manns immer wieder behaupten. «In der Regel aber läuft zuletzt jeder
schiffbrüchig und entmastet in den Hafen ein», schreibt Schopenhauer. Die
«Buddenbrooks» sind ganz durchdrungen von dieser Vergeblichkeitsphilosophie.
Hans Castorp nun ist der erste Held Thomas Manns, der ausgerechnet in der
Vergänglichkeit einen Lebensreiz entdeckt. Das geschieht, als
programmatisches Initiationserlebnis inszeniert, bei dem berühmten Ausflug in
den Schnee, als Hans Castorp plötzlich voll tiefer Rührung, umgeben von der
weiten weissen Todeswüste, sein eigenes, in Clawdia Chauchat verliebtes Herz
schlagen hört. Von hier leitet sich eine unspektakuläre Lebensfreundlichkeit
her: Rührung und Sympathie mit dem Vergänglichen, gerade weil es vergänglich
ist. Das Leben gewinnt an Reiz und Seele, weil es eine Episode ist und zum
Tod führt. Damit ist der Tod nicht mehr der grosse Entwerter, unter dessen
Auge «alles zunichte wird». Hier liegt der Schlüssel für die veränderte
Todesdarstellung in den späteren Werken Thomas Manns.