Samstag, 3. Juni 2000

Das durchdringende Auge des Todes

Thomas Manns Darstellungen des Sterbens und der Triumph des Menschlichen

Von Wolfgang Schneider

Todesdarstellungen waren eine besondere Spezialität von Thomas Mann. Hierin hielt er sich selbst für ziemlich unübertrefflich. Thomas Manns Todessympathie verdankt sich zu einem guten Teil dem Erlebnis Wagners, aber auch einer selektiven Schopenhauer-Lektüre. Doch nicht die Realität des Todes, sondern die Poesie des Todes sucht Thomas Mann. Der Tod ist in seinem Werk ein ästhetizistisches Refugium. Thomas Manns Geburtstag jährt sich am 6. Juni zum 125. Mal.

Zu den wenigen zeitgenössischen Autoren, die Thomas Mann als ranggleich empfunden hat, gehörte Marcel Proust. 1935, als er an «Joseph in Ägypten» arbeitete und die komplexe Psychologie der weiblichen Hauptfigur, der Überlieferung etwas verächtlich bekannt als «Potiphars Weib», zu entwickeln hatte, las er Proust zur Anregung und schrieb in einem Brief: «Er ist von einer phantastischen Müssigkeit, die mich verblüfft und anzieht. Und Dinge wie der ‹Tod meiner Grossmutter› in der ‹Herzogin von Guermantes›, mit den Blutegeln im Haar, sind doch unvergesslich.» Es ist also eine Todesdarstellung, die er rühmt.

Das Lob Prousts ist schon deshalb sehr hoch zu veranschlagen, weil Todesdarstellungen eine besondere Spezialität des Schriftstellers Thomas Mann waren; hier hielt er sich selbst für ziemlich unübertrefflich. Wenige Zeilen vorher hatte er in dem Brief denn auch von einem Kapitel des «Joseph» gesprochen, dem «Bericht von Montkaws bescheidenem Sterben», mit dem er damals bei Lesungen regelmässig grossen Eindruck machte: «Ein Todesfall, darin bin ich nun einmal stark.»

DER FREUNDLICHE BRUDER

Immer wieder werden in seinen Werken Todesfälle beschrieben, immer wieder wird auch die Sympathie mit dem Tod beschworen, besonders ausgiebig in den «Buddenbrooks». Vor allem für den lebensunlustigen Hanno Buddenbrook erscheint der Tod als erlösende Macht. Thomas Manns Todessympathie verdankt sich zu einem guten Teil dem Erlebnis Wagners, insbesondere der Einheitserotik des «Tristan», aber auch der - offensichtlich noch selektiven - Lektüre Schopenhauers. Das berühmte 41. Kapitel des zweiten Bandes der «Welt als Wille und Vorstellung», «Über den Tod und sein Verhältnis zur Unzerstörbarkeit unseres Wesens an sich», ist wie die «Aphorismen zur Lebensweisheit» eine Abzweigung von der Hauptlinie der schopenhauerschen Philosophie.

Wird dieses Kapitel isoliert betrachtet oder als die «Hauptsache», das «eigentlich Wichtige» verstanden - so der schnell zu ihm hinblätternde Thomas Buddenbrook bei seiner ergriffenen Lektüre der «Welt als Wille und Vorstellung» -, kann es leicht zu einer Verzeichnung der philosophischen Hauptabsichten kommen; der philosophierende Romanheld ist das beste Beispiel dafür.

Der Tod wird von Schopenhauer hier als die sich «von selbst öffnende Zuflucht» des Bedrängten, als freundlicher Bruder des Schlafes beschrieben; auch der gewaltsame Tod könne nicht schmerzhaft sein, «da selbst schwere Verwundungen in der Regel gar nicht gefühlt werden». Erst recht der Tod durch Altersschwäche erscheint in diesem Zusammenhang als Wohltat: «ein allmähliches Verschwinden und Verschweben aus dem Dasein auf unmerkliche Weise». Die Todesqualen werden von dem sonst jedes Leiden mit empörter Vehemenz schildernden Schopenhauer in diesem Kapitel merkwürdig verharmlost. Er will hier metaphysischen Trost bieten.

Eine Schopenhauer-Rezeption, die in Einklang bleiben wollte mit Wagners Todesschwärmerei im «Tristan», musste zwangsläufig das 41. Kapitel «Über den Tod» vom Rand ins Zentrum rücken. Verklärung des Todes ist sonst nicht Schopenhauers Sache; wer am Leben leidet, soll sich keinen schönen Tod erträumen, sondern bis auf Weiteres die Zähne zusammenbeissen und den Willen verneinen.

Auch Thomas Manns Todessympathie meint es nicht ganz ernst mit dem Sterben. Vielmehr geht es um ein ästhetizistisches Refugium, um die Suche nach einer schmerzlich-schönen und fragilen Gegenwelt zur gemeinen Wirklichkeit des Lebens. Nicht die Realität des Todes, sondern die Poesie des Todes wird gesucht, die «abendliche Verklärung des Verfalls, der Auflösung und des Verlöschens».

Dass Thomas Manns Werk von Anfang an zwischen Todesästhetizismus und Todesrealität sehr gut zu unterscheiden wusste, wird noch in der voluminösen Biographie von Klaus Harpprecht übersehen. Pauschal werden die Darstellungen Thomas Manns in die Nähe von Todeskitsch gerückt: «Freund Hein, Verklärung des Schrecklichen, neunzehntes Jahrhundert. Er konnte, er wollte der schrecklichen Realität des Letzten nicht ins Auge sehen.» Eher das Gegenteil ist richtig. Der Blick auf das Letzte ist in diesem Werk gründlich und unbestechlich. Metaphysische Perspektiven sind das eine, das andere ist die «Lebenswahrheit, auf die der Dichter vor allem verpflichtet ist» (Thomas Mann im «Versuch über Tschechow»).

Die Todesphilosophie wirft schon in den «Buddenbrooks» keinen verklärenden Schein auf die Sterbe- und Todesdarstellungen. Die Zerstörung des Organismus wird nicht als die Aussenseite eines befreienden Geschehens nebenbei abgehandelt, sie ist das Eigentliche. Die subjektive Perspektive dagegen, die allein den Tod als sanftes «Verschwinden und Verschweben» zeigen könnte, wird konsequent ausgeschlossen. Bestimmend ist der naturalistisch genaue Blick auf den von Krankheit und Tod überfallenen und zugerichteten Körper, das grausame Detail. Selten zuvor ist eine Hauptfigur - Hanno Buddenbrook - so abrupt und scheinbar unbeteiligt beseitigt worden, indem lediglich die Symptome des Typhus aufgelistet werden.

AUS DEM LEBEN GERISSEN

Ohne Vorbereitung und mildernde Umstände werden die Figuren aus dem Leben gerissen. Thomas Buddenbrook wird vom Schlaganfall auf das schmutzige Pflaster «geschmettert», er stirbt in der folgenden Nacht. Ratloses Dabeisitzen und Phrasen kennzeichnen die Situation der Familie. Selbst die sich mit den Verstorbenen beschäftigenden Gespräche, wie sie im «Zauberberg» an Totenbetten geführt werden, sind hier undenkbar, der Hilflosigkeit der Lebenden angesichts der hässlichen Naturmacht Tod entspricht die Art, wie der Roman unvermittelt zur Tagesordnung übergeht.

Johann Buddenbrook erwischt es beim Ankleiden zu einem Spaziergang. Die Szene im Landschaftszimmer erinnert an die manière noire Flauberts. Das Hausmädchen ist herbeigeeilt, um vom beängstigenden Zustand des Konsuls zu berichten, sie ringt mit den Worten: «Lines ausdruckslose blaue Augen waren weit aufgerissen, und ihre Kinnbacken arbeiteten eine Weile vergebens . . .» Tony Buddenbrook vermutet in der ihr eigenen Hausbackenheit: «Nun hat sie wieder Stücke gemacht! Wahrscheinlich aus gutem Porzellan! Nein, Mama, dein Personal . . .!» Thomas schreit nach dem Arzt. Kühl beendet der Erzähler das Kapitel: «Aber Johann Buddenbrook war schon tot.»

Es gibt einen Zusammenhang von Dekadenz und einem würdelosen, überfallartigen Tod, musterhaft im Fall des Senators Möllendorpf: «Diesem diabetischen Greise waren die Selbsterhaltungsinstinkte so sehr abhanden gekommen, dass er in den letzten Jahren seines Lebens mehr und mehr einer Leidenschaft für Kuchen und Torten unterlegen war. Doktor Grabow hatte mit aller Energie [. . .] protestiert, und die besorgte Familie hatte ihrem Oberhaupte das süsse Gebäck mit sanfter Gewalt entzogen. Was aber hatte der Senator getan? Geistig ungebrochen, wie er war, hatte er sich in einer unstandesgemässen Strasse [. . .] ein Zimmer gemietet, eine Kammer, ein wahres Loch, wohin er sich heimlich geschlichen hatte, um Torte zu essen . . . und dort fand man auch den Entseelten den Mund noch voll halb zerkauten Kuchens.»

Die Einzelheiten dieses Todesfalles werden von der Familie geheimgehalten, dennoch bilden sie schnell den Klatsch an der Börse und im Klub, auf den Bällen, Diners und Abendgesellschaften. Der groteske Tod des Senators ist eine entwürdigende Heimsuchung für die ganze Familie.

WÜRDE

Ein Jahrhundertdrittel später macht sich in den Josephsromanen eine deutlich geänderte Sicht auf Sterben und Tod geltend. Die Sterbe- und Todeskapitel dieses vierbändigen Hauptwerks gestalten immer wieder zeremonielle Abschiedsszenen, das Sterben nimmt den Figuren nicht die Würde. Die eigenwillige mythische Lebensphilosophie, die sich Thomas Mann in diesem Riesenwerk erarbeitet hat, steht mit ihrer Einbindung des Todes dem Sterben weniger hilf- und sprachlos gegenüber als das bürgerliche Leistungsdenken der «Buddenbrooks», wo man das Körperliche, Naturhafte durch dezente Umgangsformen fernzuhalten sucht, in der Ahnung, dass schliesslich doch alles unter dem «nahen und durchdringenden Auge des Todes zunichte» wird.

Vor allem diese gezielte Verdrängung ist die Voraussetzung für den hämisch und hässlich triumphierenden Tod. Der Mythos stellt dagegen Denk- und Umgangsformen bereit, die es mit der Formlosigkeit des Todes aufnehmen können. Das heisst jedoch nicht, dass das Sterben beschönigt wird. Rahel, die grosse Liebe Jaakobs, stirbt nach grausamen Qualen bei der Geburt Benjamins am Strassenrand. Im Fall des sterbenden Hausverwalters Mont-kaw verhindert das feierliche Reden von Abdankung und gottgewolltem Opfertod zugunsten Josephs nicht Beschreibungen von moderner klinischer Genauigkeit. Wie beim Typhustod Hanno Buddenbrooks macht der Autor für dieses Kapitel medizinische Exzerpte zur Nierenpathologie.

Der Tod erscheint auch hier als grausam bewaffnete Macht. Wenn der Roman dann aber übergeht zu den feierlichen Sterbe- und Trostreden, so ist das auch als Triumph des Menschlichen über die stumme Macht zu verstehen. Das Plötzliche, womit die Darstellungen der «Buddenbrooks» die völlige Fremdheit des Todes gegenüber der Lebensform zum Ausdruck brachten, weicht einer innehaltenden Ausführlichkeit. Der Tod einer Figur bildet nicht mehr einen schlagartigen Kapitelschluss, ihm werden lange Kapitel eingeräumt, die der Autor immer wieder als Höhepunkte seines Erzählens empfand. Nicht eine forciert kalte Beschreibung der Symptome und Entstellungen des Körpers ist bestimmend, sondern die erzählerische Einfühlung in die Leidenden und Mitleidenden.

In dieser Perspektive kann der Tod auch als Erleichterung erfahren werden: «Wie ist doch alle Last von mir genommen, Kindeslast, Lebenslast, und es wird Nacht», sagt Rahel am Ende. Auch dem sterbenden Mont-kaw bringt der Tod neben Leiden eine freudige Erregung darüber, «abdanken» zu können. Josephs letzte Trost- und Einschlafrede verheisst ihm ersehnte Ruhe: «Aus ist's mit Plack und Plage und jeglicher Lästigkeit. Keine Leibesnot mehr [. . .]. Auf tut sich die Kerkergrube deiner Belästigung.»

Diese Entbürdung hat aber wenig gemeinsam mit Hannos stummem Verschwinden aus dem brutalen Getriebe des Lebens. Der Tod wird nicht schopenhauerisch als bewusstloses Zurücksinken in den «Schoss der Natur» begriffen. Vorsorge, Rückblick, in die Zukunft hineinwirkende Sterbereden, wie sie der Patriarch Jaakob, aber auch der bescheidene Mont-kaw halten, Abschied, Trauer: Das Sterben wird dadurch gewiss nicht einfach, aber doch erleichtert, es verliert das Groteske, Höhnische, Fremde. Die unfassbare Naturgewalt des Todes, die in den «Buddenbrooks» die Darstellungen prägte, scheint hier durch menschliche Formen gebändigt, die mehr sind als Verlegenheit und schales Arrangement.

«ZAUBERBERG» ALS ÜBERGANG

Der «Zauberberg» ist, auch was die Todesdarstellungen betrifft, ein Werk des Übergangs. Hans Castorp bildet sich auf seine fromme Sympathie mit dem Tod einiges ein. In der täglichen Wirklichkeit des Sanatoriums bekommt er es dann unerwarteterweise immer wieder mit den Schrecken des Sterbens zu tun. Wenn der Herrenreiter hustet, hat das nichts von Todesschönheit, es klingt vielmehr «wie ein schauerlich kraftloses Wühlen im Brei organischer Auflösung. Es ist ja gerade, als ob man dabei in den Menschen hineinsähe, wie es da aussieht - alles ein Matsch und Schlamm.» Das Organische, ein Grauen! Feierlichkeit auf der ideellen, Schocks auf der realistischen Ebene.

Gegen diese unvermittelte Dualität macht sich im «Zauberberg» schon die neue Sichtweise geltend. Sie resultiert, ganz kurz gesagt, aus einer veränderten Einstellung zur Vergänglichkeit, zur Zeit. Im Zentrum der Philosophie Schopenhauers ist ein vernichtendes Gefühl von Vergänglichkeit wirksam: «Die Zeit ist das, vermöge dessen alles jeden Augenblick unter unseren Händen zu nichts wird - wodurch es allen wahren Wert verliert.»

Gegen solche Vanitas-Empfindungen müssen sich auch die frühen Helden Thomas Manns immer wieder behaupten. «In der Regel aber läuft zuletzt jeder schiffbrüchig und entmastet in den Hafen ein», schreibt Schopenhauer. Die «Buddenbrooks» sind ganz durchdrungen von dieser Vergeblichkeitsphilosophie. Hans Castorp nun ist der erste Held Thomas Manns, der ausgerechnet in der Vergänglichkeit einen Lebensreiz entdeckt. Das geschieht, als programmatisches Initiationserlebnis inszeniert, bei dem berühmten Ausflug in den Schnee, als Hans Castorp plötzlich voll tiefer Rührung, umgeben von der weiten weissen Todeswüste, sein eigenes, in Clawdia Chauchat verliebtes Herz schlagen hört. Von hier leitet sich eine unspektakuläre Lebensfreundlichkeit her: Rührung und Sympathie mit dem Vergänglichen, gerade weil es vergänglich ist. Das Leben gewinnt an Reiz und Seele, weil es eine Episode ist und zum Tod führt. Damit ist der Tod nicht mehr der grosse Entwerter, unter dessen Auge «alles zunichte wird». Hier liegt der Schlüssel für die veränderte Todesdarstellung in den späteren Werken Thomas Manns.

Neue Zürcher Zeitung, 3. Juni 2000