Hannah-Arendt-Gymnasium

Leistungskurs Deutsch 2 (Höfig)

12/I

 

 

Von der Religion der Humanität

 

SÄKULARISATION DES CHRISTLICHEN ERBES

 

Des Euripides “Iphigenie in Taurie” konnte für Goethe nur den äußeren Rahmen abgeben, den er mit neuem Gehalt ausfüllte. Dieser ist gekennzeichnet durch das Seelen-Erbe christlich-abendländischer Entwicklung, das er, von kirchlicher und dogmatischer Bindung befreit, in die säkularisierte, welthaft gewordene Lebensform der Humanität einzuschmelzen versucht. Um dieses christliche Erbe verstehen und würdigen zu können, müssen wir einen kurzen Blick auf die europäische Geistes- und Seelenentwicklung unter der Führung des Christentums tun.

Die Ablösung vom heidnisch-religiösen Naturerlebnis warf den um das Heil seiner unsterblichen Seele sorgenden und bangenden Gläubigen in bisher nie gekanntem Maße auf sich selbst zurück. Eine äußerst folgenreiche religiöse Reflexion setzte ein, die das menschliche Ich teils schmerzlich, teils beseligend in sich emporsteigerte. Stand doch jeder einzelne vor der nie endenden Aufgabe, das Heilsgeschehen zwischen Gott, Christus und der Menschheit innerlich zu bewältigen. Unter solcher geistigen Verantwortung reifte das europäische Ich als Kern der sogenannten Persönlichkeit heran. Bald schon empfand es die vermittelnden Einrichtungen der zwischen Gott und den Menschen gesetzten Kirche nicht mehr für nötig. Die durch geistliche Übungen erregte Seele, die aus dem christlichen Streben nach Abgeschiedenheit vom natürlichen und kreatürlichen Außen sich immer mehr ablöste von den Ordnungen der Welt, empfand sich zuletzt als die entscheidende Mitte des religiösen Weltendramas und als den mystischen Hort des Gott-Geistes selbst. Diese Gottmitte im Menschen gefährdete in der Mystik bereits das kirchliche System der christlichen Heilslehre und wirkte auch in der Reformation Luthers weiter, als der aus dem Glauben und seinem Gewissen entscheidende Mensch hervortrat.

Über die biblischen Bindungen hinausgehend ermöglichte dann die Aufklärung das Bild des freien, guten Menschen, der nur noch seinem Gewissen verantwortlich, den rechten Weg zu gehen weiß. Abgelöst von Theologie und Heilslehre, im Vertrauen auf die göttliche Vernunft im Menschen nimmt er die christliche Forderung der Nächstenliebe und die Achtung vor dem einmaligen, unwiederholbaren Wert der aus Gott geborenen Menschenseele in die säkularisierte, allgemein verpflichtende Menschenliebe mit hinüber. Es ist hier nicht der Ort, Vor- und Nachteile dieser Entwicklung darzustellen. Fest steht, daß damit für den Menschen ein Reich der Innerlichkeit gewonnen wurde, innerhalb dessen ihm eine vorher nicht gekannte Verantwortung und sittliche Würde zukommt.

Dieses auf langen Wegen und Umwegen erworbene christliche Erbe baut Goethe mit der Iphigenie in sein Lebenswerk ein, das ursprünglich und auch weiterhin aus naturhaften und naturreligiösen Quellen gespeist wurde.

 

ERHÖHUNG DES MENSCHEN UND DAS KLASSISCHE BILD DER FRAU

 

Iphigenie, die Priesterin der Menschlichkeit, hat nicht nur (wie im Falle Thoas) versöhnende Macht, sondern auch entsühnende. "Alle menschlichen Gebrechen / Sühnet reine Menschlichkeit": Wenn diese Meinung des alten Goethe für Iphigenie gilt, dann ist dem in seiner sittlichen Reinheit gotterfüllten Menschen entsühnende Macht gegeben; das ist die notwendige und ungeheuerliche Folgerung aus dieser Religion der Humanität. Dem entspricht auch der Glaube Iphigeniens, daß ihr "Bild" von den Göttern das Maß einer göttlichen Weltordnung sei, d. h. der Mensch wird zum Maße Gottes und seiner Wirkung in der Welt.

So löste Goethe, indem er das Ewig-Menschliche aus dem Bereiche christlicher Sittlichkeit in den Bereich der Humanität überführte, aus der christlichen Erlösungsreligion das tragende Mittelstück heraus, nämlich das Mysterium der alleinigen Erlösung durch den Kreuzestod Christi. Der Mensch erfährt eine sehr anspruchsvolle religiöse Würde und Erhöhung. Goethe erkennt ihm ein priesterliches, ja göttliches Mittleramt zu, das sich nicht von Christus ableitet, sondern von der "reinen Menschlichkeit".

 

Immerhin ist der Hinweis angebracht, daß in einer seit Jahrtausenden durch den Mann-Geist bestimmten Weltordnung diese religiöse Würde der Humanität nicht dem Menschen schlechthin zuerkannt wird, sondern einer edlen Frau. Es gilt in diesem Zusammenhang das Pylades-Wort:

Wohl uns, daß es ein Weib ist! Denn ein Mann,

Der beste selbst, gewöhnet seinen Geist

An Grausamkeit und macht sich auch zuletzt

Aus dem, was er verabscheut, ein Gesetz.

 

Die Sittlichkeit des Herzens, um die es in Goethes Schauspiel geht, ist der Frau gemäßer. Goethe hat um die physische und metaphysische Sonderstellung der Frau gewußt und sie wiederholt bekannt. Nicht zufällig lautet sein wohl letztes Dichterwort “Das Ewig-Weibliche / Zieht uns hinan"

 (Rudolf Ibel)