Nr. 23/2000
Selbst Faust hatte es einfacher als wir, wie das folgende kleine, aber komplizierte Philosophikum zeigen wird. Heinrich Faust wollte wissen, was die Welt im Innersten zusammenhält. Als er der Grenzen seiner Erkenntnismöglichkeit gewahr wurde, gedachte er, sich eine potentere Kraft gefügig zu machen: Er verschrieb - im Gegenzug dazu - seine Seele dem Teufel.
Der heutige Mensch aber will nicht nur wissen, was ihn selbst im Innersten zusammenhält, er will diese Bedingungen seiner eigenen Existenz gestalten und verändern; sogar sein
Erbgut und seine Gene. Er verlässt sich dabei allerdings nicht mehr auf den Teufel, sondern nur noch - auf sich selbst. Zu befürchten ist, dass das Ergebnis am Ende nicht weniger teuflisch ausfällt.
Was man im gegenwärtigen Streit etwas abstrakt "Bioethik" nennt, betrifft konkret das Verhältnis des Menschen zu sich selbst. Das geklonte Schaf Dolly ist uns nur ein Problem, weil wir vermuten, dass aus dem Schaf allzu bald ein Mensch werden könnte. Mit dem Schaf verbindet uns die Tatsache des Lebens - und des Todes; vom Schaf trennt uns, dass wir Menschen sind. Die Probleme der Bioethik haben also - zugespitzt - wenig damit zu tun, dass wir dem Schaf gleich leben und sterben (und uns ähnlich fortpflanzen), sondern damit, dass wir eben Menschen sind.
Die Biologie sagt nichts über die Bioethik aus
Die Fragen der Bioethik knüpfen also an biologische Sachverhalte an - aber die Antworten darauf setzen voraus, dass wir wissen, was es heißt: ein Mensch zu sein. Nicht die Naturwissenschaft kann sich selbst reflektieren, sondern nur der Mensch. Aber die Produkte dieser Selbstreflexion sind nicht naturwissenschaftlicher Natur, sondern gehören in den Bereich der Philosophie, der Moral, der Ethik ... Denn die "objektive" Naturwissenschaft ist davon bestimmt, dass ein Objekt sich niemals selbst erklären kann. (Und weil eben auch der Mensch sich selbst nicht erklären kann, sagen manche, diese Fragen gehörten in den Bereich der Theologie.)
Die wichtigste Unterscheidung, von der die Bioethik bestimmt sein könnte, ist diese: Berührt eine bestimmte Frage das Verhältnis des Menschen zu sich selbst - oder ist sie unter diesem Gesichtspunkt neutral?
So gesehen, erscheint vorerst folgender Konsens (noch) als haltbar: Eingriffe in die menschliche Keimbahn verändern das Verhältnis des Menschen zu sich selbst in so drastischer Weise, dass sie unterbleiben müssen. Würde der Mensch solche Eingriffe vornehmen, wäre er ein anderer. Dabei ist es zugleich ethisch hilfreich, dass sich diese Grenze auch biologisch eindeutig markieren lässt.
Aber wie verhält es sich mit der Möglichkeit der Präimplantationsdiagnose (PID) bei den in vitro erzeugten Embryonen? Bei diesem Verfahren wird ja nicht der Mensch als solcher um-gezeugt, sondern "nur" entschieden, ob ein Embryo zur Implantation (und zum Leben) ausgewählt - oder fortgeworfen wird. Wenn man so will, ändert der Mensch dabei nicht seine "biologische" Beschaffenheit, sondern seine moralische Rolle. Er wählt nämlich aus, welches Leben er für "lebenswert" hält. Und hat nicht die Versuchung zu dieser Wahl auf den ersten Blick sogar den Schein einer gewissen Plausibilität? Wir tolerieren heute die Möglichkeit, dass eine Abtreibung straffrei bleibt, wenn die Schwangere befürchten muss, ein schwerbehindertes Kind zur Welt zu bringen. Ist es dann "vernünftig", erst einmal eine solche Implantation vorzunehmen, um hernach die Schwangerschaft abzubrechen, wenn sich herausgestellt hat, dass das zu erwartende Kind unter einer gravierenden Behinderung leiden wird? Wäre es da nicht "vernünftiger", sich schon vorher Sicherheit zu verschaffen?
An dieser Stelle muss freilich anders unterschieden werden: Der Abbruch einer solchen Schwangerschaft wird ja nicht straffrei gestellt, weil es dem Menschen erlaubt sein soll, zu bestimmen, welches Leben "lebenswert" ist, sondern weil der Staat sich nicht imstande sieht, das Austragen einer solchen Schwangerschaft zu erzwingen. Die Präimplantationsdiagnose kann zwar dieses Dilemma vermeiden (oder zumindest in eine frühere Phase verlagern), sie eröffnet aber zugleich viele weitere Möglichkeiten. Kein deutscher Arzt würde auf den Gedanken kommen, eine Abtreibung zuzulassen, weil es der Schwangeren nicht zuzumuten ist, ein Mädchen (oder einen Jungen) auszutragen. Niemand käme auf die Möglichkeit, einer Mutter sozialen Beistand (und Achtung) vorzuenthalten, weil sie einen behinderten Fötus nicht abgetrieben hat. Aber läge es nicht viel zu nahe, im Falle zugelassener Präimplantationsdiagnose der Mutter und allen anderen Beteiligten die Verantwortung für die "Perfektion" des eingepflanzten Embryos aufzuerlegen? Und schon wäre das Verhältnis des Menschen zu sich selbst gravierend verändert: Er würde - im Sinne einer Ursprungshaftung - haftbar gemacht für die Gesundheit seiner Nachkommen. Zwar sind die Eltern verantwortlich für die Gesundheit der Kinder, sozusagen im Sinne des strafrechtlichen Verbots der Körperverletzung; aber das ist etwas anderes als eine "Haftung" im Sinne der Körperbeschaffenheit. Auf diesem Wege würde den Eltern also etwas aufgebürdet, was sie zwar technisch "machen", aber nicht ertragen könnten. Es gibt also eine Rationalität des Verhältnisses des Menschen zu sich selbst, die selbst irrational und unmoralisch ist.
In diesem Zusammenhang wäre eine weitere Unterscheidung anzubringen: Bestimmte Vorgehensweisen sind schon aus intrinsischen Gründen verwerflich, also an sich selbst; andere Vorgehensweisen aus extrinsischen Gründen, also wegen dessen, was aus ihnen gemacht werden kann. Aber auch diese Unterscheidung ist selbst problematisch: Die Zeugung von Menschen in vitro wurde zunächst aus extrinsischen Gründen toleriert - weil Eltern auf diese Weise zu Kindern kommen konnten, die ihnen sonst verwehrt geblieben wären. Nun sieht man, dass man auch anderes aus dieser Methode machen kann - zum Beispiel Embryonen als nutzlos wegwerfen oder zur "verbrauchenden" Forschung heranziehen. Und folglich stellt sich nun die Frage, ob diese Methode nicht aus intrinsischen Gründen von vornherein hätte abgelehnt werden müssen (als die Grenze technisch noch eindeutig war), so wie wir den Eingriff in die menschliche Keimbahn eben aus intrinsischen Gründen ablehnen, ungeachtet dessen, was man damit alles machen könnte.
Eine "klassische" Moral hat es da viel einfacher: Sie "weiß", was erlaubt ist und was nicht - und zwar unabhängig vom Zweck. Und kein Zweck kann für sie die Mittel heiligen. (Sie vermochte freilich auch die Todesstrafe zu rechtfertigen - und zwar auch ohne jeden prak-tischen Zweck.) So einfach haben wir es heute nicht mehr. Aber wir müssen uns trotzdem über einige einfache, fundamentale Regeln verständigen. Die Kardinalregel muss heißen: Weil der Mensch seinen eigenen Wert nicht kennen kann und daher seine Würde als unantastbar verstehen muss, steht es ihm nicht zu, über den Wert des Lebens anderer (und zukünftiger) Menschen und über ihre Beschaffenheit zu verfügen - auch nicht zu deren vermeintlichem Besten. Denn damit würde er die Grenzen zwischen Geschöpf und Schöpfer überschreiten. (Das gilt übrigens auch für das moralisch dann zwingende Verbot der Todesstrafe.) Nur so lassen sich die Fragen der Bioethik noch praktisch sortieren - in ethisch neutrale Fälle und in Tabus. Sonst wäre das Ergebnis wirklich teuflisch.
Unter www.zeit.de/links/ erhalten Sie weitere Informationen zum Thema.
Artikel zu diesem Thema:
DIE ZEIT 22/2000: Wunschkinder aus dem Reagenzglas
200022.diagnostik_.html
DIE ZEIT 22/2000: Der perfekte Keim des Lebens
200022.gentherapie_.html
DIE ZEIT 1/2000: Die stille Selektion. Pränatale Diagnostik hilft, Behinderungen früh zu erkennen. Paare müssen sich
200001.praenataldiagnos.html
DIE ZEIT 34/1999: Deutsche Forscher züchten menschliche Organe im Reagenzglas
199934.ohrmacher_.html
DIE ZEIT 47/1999: Droht der Gentherapie nach einem Todesfall das Aus?
199947.gentherapie_.html
DIE ZEIT 23/2000: Bericht vom Symposium zur Fortpflanzungsmedizin
200023.embryonen_berlin.html
Links zu diesem Thema:
AMGEN - Internet Guide - Gentherapie und Genomics
http://www.amgen.de/internet/tx_gen.html
Reproductive techlologies
http://www.acusd.edu/ethics/reproductive_technologies.html
Bioethics.Net
http://www.med.upenn.edu/bioethics/library/
Mending Broken Genes
http://www.foxnews.com/science/popsci/genetherapy1.sml
SCID - Homepage
http://www.scid.net/
New York Times - Health: Gene Therapy
http://www.nytimes.com/library/national/science/health/gene-therapy.html
DRZE - Links
http://www.drze.de/links/index_html?la=de
Bundesgesundheitsministerium - Pressemitteilung
http://www.bmgesundheit.de/presse/2000/2000/37.htm
Dialog-Gesundheit
http://www.dialog-gesundheit.de/b/imdialog/foren.htm
Professor Lori B. Andrews
http://islat.iit.edu/faculty/andrews_bio.html
NY Times - The Clone Age
http://www.nytimes.com/books/99/09/19/reviews/990919.19turnert.html
Testimony to french National Assembly
http://islat.iit.edu/islat/french_testimony.htm
Institute for Science, Law & Technology
http://islat.iit.edu/
© beim Autor/DIE ZEIT 2000 Nr. 23
All rights reserved.