Nr. 27/2000
Das Christentum kann man angreifen - bitte sehr. Von Celsus bis zu Nietzsche haben das Heiden wie Christen immer wieder getan. Zweierlei sollte man aber vermeiden: hassvolle Voreingenommenheit und eine Argumentation, die auf die Vernichtung des Gegners zielt. Es könnte nämlich sein, dass man dabei seine Kräfte überschätzt und als ruhmrediger miles gloriosus dasteht.
Schnädelbachs These (ZEIT Nr. 20/00), in einem Satz zusammengefasst, ist die: Wer Christ ist, ist im Irrtum, und dies nicht aufgrund persönlichen Versagens oder historischer
Umstände - er irrt, weil das Christentum selbst an schweren, ja unüberwindlichen Geburtsfehlern krankt, die ein einzelner gar nicht beheben kann. Schnädelbach zählt sieben solcher Fehler auf - parallel zu den "sieben Todsünden" im Schuldbekenntnis von Papst Johannes Paul II. Er folgert: "Nicht bloß die Untaten einzelner Christen, sondern das verfasste Christentum selbst als Ideologie, Tradition und Institution lastet als Fluch auf unserer Zivilisation."
Hans Maier, Professor emeritus am Geschwister-Scholl-Institut in München, war bayerischer Kultusminister
1. Christentum - ein Seminarbegriff? Das "verfasste Christentum" - kennt Schnädelbach es denn? Man sollte annehmen, dass er sich mit der Geschichte der christlichen Kirchen eingehend beschäftigt hat, wenn er kühn 2000 Jahre Christentum auf seinen philosophischen Seminartisch stemmt. Aber auch nach mehrfacher Lektüre seines Aufsatzes habe ich Zweifel. Dabei meine ich nicht in erster Linie theologische Patzer wie die Ausführungen über die "unbefleckte Empfängnis" oder die Äußerungen zu Eschatologie und Platonismus. Ich denke mehr an die konkreten Gestalten des Christentums, an die christlichen Kirchen und Gemeinden, von denen nur wenige in den Blick des Kritikers kommen. Wo sind die Altorientalen, wo sind die Kirchen der Orthodoxie? Wo ist das lateinamerikanische, nordamerikanische, afrikanische, asiatische Christentum? Auf Schnädelbachs Landkarte des Christentums gibt es mehr weiße Flächen als bewohnte Länder. Es fehlt weit mehr, als da ist. Doch erst das Ganze ist das Wahre - das gilt gerade für die christlichen Kirchen und ihre Annäherungen an christliche Wahrheit, christliches Leben. Gewiss, Christentum bleibt immer Fragment. Aber die vielen Fragmente geben doch eine Vorstellung vom Ganzen. Daher genügt es nicht - zum wievielten Mal? -, die Geschichte des abendländischen Christentums zu erzählen und nur einfach die Vorzeichen umzudrehen.
In Schnädelbachs aussparender Optik erscheint das Christentum wesentlich als ein europäisches, bestenfalls westliches Gebilde mit "protestantischen" Zügen (immerhin mit Rom und dem Papst als "alt bös Feind" im Rücken!); als eine mit Zwang missionierende Einrichtung; als eine Lehrreligion zudem, in der die wichtigsten Entscheidungen im Feld von Wort, Auslegung, philosophisch-theologischer Erhellung des Glaubens fallen. Das, mit Verlaub, ist ein zu schmales Fundament, es trägt nicht die generalisierende Allgemeinheit der Thesen. Statt sich auf die konkreten Entscheidungen des Christentums einzulassen, weicht der Verfasser in Allgemeinheiten von hohem Abstraktionsgrad aus. Am Ende bleibt vom Christentum fast nur Begriffliches übrig. Glaubt man wirklich, auf diese Weise urchristliche Gemeinden, Bettelorden, Ritterorden, reformatorische Gemeindedemokratie, das weite Feld der Freikirchen, moderne Säkularinstitute, afrikanische und lateinamerikanische Basisgemeinden von heute fassen zu können?
Nein, Christentum ist nicht nur dort präsent, wo schwierige Glaubensfragen in anspruchsvollen philosophisch-theologischen Runden reflektiert werden. Das hieße die übergroße Mehrheit früherer wie heutiger, wie künftiger Christen aus der Teilhabe am Christentum ausschließen. Sie haben das Christentum überwiegend aus mündlicher Rede, aus Bildern, Zeichen, Gesängen, Gebeten, aus persönlichen Vorbildern und überzeugenden Taten gelernt. Haben sie deshalb in der heutigen Diskussion über das Christentum geringeres Gewicht als die philosophisch-theologischen Eliten?
Auch die verschiedenen christlichen Kirchen kommen bei Schnädelbach höchst unterschiedlich zu Wort. Dafür nur zwei Beispiele. Rechtfertigung ist ein katholisch-lutherisches (in jüngster Zeit entschärftes) Streitthema. Schnädelbach stellt es in den Mittelpunkt seiner Analysen. Aber in den reformierten Kirchen hat es nie eine ähnliche Rolle gespielt wie im Luthertum - und die Orthodoxie hat für Rechtfertigung noch nicht einmal ein Wort.
Ähnlich steht es mit dem, was Schnädelbach Eschatologie nennt (vielleicht sollte man konkreter von Apokalyptik sprechen): es ist offenkundig, dass diese bei Katholiken, Lutheranern, Orthodoxen, Reformierten und Freikirchen eine höchst unterschiedliche Rolle spielt - sodass man die konkreten Wirkungen im Leben der Kirchen und Gemeinden erst studieren muss, ehe man zu waghalsigen und generalisierenden Schlüssen kommt. Nebenbei: Dass die Menschen des Abendlandes aus diesem Buch Angst gelernt haben sollen, ist ein ebenso rührendes wie unzutreffendes Vorurteil. Die Ängste waren doch längst da, für Schrecken sorgten Hunger, Verfolgung, Kriege und Katastrophen - und das Buch der Offenbarung versuchte die Menschen in ihrer kreatürlichen Angst gerade zu trösten. Es grenzt an Magie, zu meinen, Ängste würden durch Bücher erzeugt.
2. "Sie verließen alles ..." Kurzum: Christentum ist mehr als der intellektuelle Nachvollzug eines "Wortgeschehens". Es ist vor allem eine Bereitschaft, ein Wagnis, eine Haltung - zusammengefasst in der neutestamentlichen Mitteilung über die Jünger Jesu: Sie verließen alles und folgten ihm. Wer Unheil (oder Segen) des Christentums messen wollte, müsste sein Augenmerk auf die Menschen richten, die in 2000 Jahren jenem Anruf Jesu folgten, der prophetisch "an alle" erging und die Schranken von "Nation" und "Religion" durchbrach.
Mit gutem Grund lernen wir das Christentum nicht nur aus dem Katechismus, wo die Lehrsätze ihren legitimen Ort haben. Wir lernen es vor allem aus der Bibel, wo die Geschichte von Jesus erzählt wird, dem leidenden Gottesknecht, der für die, die ihm nachfolgten, der Christus war und ist. Der Kern dieser Geschichte ist einfach, wenn auch abgründig. Gott wird Mensch, er "wird einer von uns". Gott leidet - er tritt dem Menschen nicht mit jenseitiger Herrlichkeit entgegen, er leidet "in Freiheit, in Einsamkeit, abseits und in Schanden, an Leib und Geist" (Dietrich Bonhoeffer). Er erleidet den Tod für die Menschen. Erst in der äußersten Demütigung wird der sterbende Gottesknecht "über alle erhöht"; er richtet eine Hoffnung auf, die "die Welt überwindet". Und so wird der Mensch zwar nicht aus der Welt genommen, aber vom Bösen gerettet; seine Leid-erfahrung bleibt - aber sie kann hineingenommen werden in Kreuz und Auferstehung Christi.
Man kann darüber spekulieren, ob dies eine Botschaft für die wenigen oder für die vielen ist, ob es in 2000 Jahren viele Christen gegeben hat oder nur einige wenige. Ich meine, es waren sehr viele, "eine große Schar, die niemand zählen konnte" (Apoc 7,9); denn die Leiderfahrung der Menschheit ist universell - und das Bedürfnis nach Tröstung, Hoffnung, Erlösung nicht minder.
Dass die erlösende Botschaft des Christentums oft missbraucht und binnenethisch reduziert wurde - wer wollte es bestreiten? Deshalb haben Schuldbekenntnisse wie die des Papstes einen guten Sinn. Nicht akzeptieren kann ich Schnädelbachs Meinung, dass dies nur ein Ausweichmanöver und der "Fluch des Christentums" unaufhebbar sei. Ein unaufhebbarer Fluch - das soll eine christliche, aufklärerische, eine moderne Vorstellung sein? Eher erinnert sie mich an die Ananke der Griechen oder an die Düsternis des germanischen Götterhimmels. Der Mensch lebt nicht in einem Verhängnis. Er kann sich befreien - freilich nur mit Gottes Hilfe. Daher kann in christlichen Zeiten die Komödie - als Divina Commedia - die antike Tragödie beerben. Damit ist die Richtung angedeutet, in der das Christentum die Welt verändert - mag der Einzelne und die Institution hinter der Frohen Botschaft so weit zurückbleiben wie eh und je.
Artikel zu diesem Thema:
DIE ZEIT 25/2000: Liebe ohne Gnade. Von Slavoj Zizek
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DIE ZEIT 23/2000: Einspruch gegen Schnädelbachs Ökumene der Absurditäten von Robert Spaemann
200023.replik_schaedelb.html
DIE ZEIT 22/2000: Das Christentum und die Geschichte seiner permanenten Selbstkritik von Richard Schröder
200022.replik_schnaedel.html
DIE ZEIT 20/2000: Der Fluch des Christentums. Von Herbert Schnädelbach
200020.christentum_.html
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