Nr. 27/2000

Technisches Leben, lebende Technik

Das Erbgut des Menschen ist entziffert, Biologie und Informatik feiern Hochzeit. Wie reagiert die Gesellschaft?
 Von Gero von Randow und Andreas Sentker

Am vergangenen Montag also präsentierten Forscher in Washington, London, Paris, Berlin, Peking und Tokyo das, was sie die "Arbeitsversion" des menschlichen Genoms nannten. Die Lage von drei Milliarden Paaren der vier Basen Adenin (A), Cytosin (C), Thymin (T) und Guanin (G) ist jetzt zu 97 Prozent bestimmt. Damit fängt die eigentliche Arbeit indes erst an, nämlich herauszufinden, was diese Folge von Buchstaben bedeutet. Der Wettlauf um genbasierte Medikamente hat begonnen und mit ihm ein Boom der Bioinformatik-Firmen.

Der 26. Juni 2000 darf als historisches Datum gelten. An diesem Tag feierte das Bündnis von Biologie und Technik seinen bisher größten Triumph. Lebenswissenschaft und
Der Gen-Code des Menschen ist entziffert, aber längst nicht verstanden. Zeit genug für die internationale Politik, die juristischen, sozialen und ethischen Probleme gemeinsam anzupacken
Ingenieurkunst sind nun ein weltweit bewundertes Traumpaar geworden. Beim Staunen darf es freilich nicht bleiben; Gesellschaft und Politik müssen da schon intelligenter reagieren als nur mit Ahs und Ohs oder mit allgemein gehaltenen Bedenken, ob man denn alles tun dürfe, was man tun kann.

Die Entzifferung des Genoms sei bedeutender als die Erfindung des Rades, behaupteten einige Wissenschaftler, die nun die Chance wittern, in großem Stil Drittmittel für ihre Arbeit einzuwerben. In Wahrheit handelt es sich bei dem am Montag verkündeten Durchbruch um das Ergebnis einer Fleißarbeit. Gleichwohl ist es sensationell; denn die weltweit vernetzte Forschergemeinde ist fünf Jahre eher damit fertig geworden, als sie geplant hatte.

Forscher entziffern pro Sekunde tausend Genbuchstaben

Was für eine Beschleunigung: "Ein Genom, für das wir früher ein Jahr brauchten, sequenzieren wir heute in zwei Stunden", sagt Craig Venter, Chef der amerikanischen Bio-Tech-Firma Celera und größter Konkurrent der staatlichen Forscher. "Während noch 1995 ein Computer elf Tage über den Daten brütete, ist er heute nach fünf Minuten fertig." Tempo, Tempo! Genetiker entziffern heute rund tausend Genbuchstaben pro Sekunde. Den größten Teil ihrer zehnjährigen Arbeit am menschlichen Genom, die sie jetzt stolz vorstellten, bewältigten die Sequenzierer allein in den vergangenen 15 Monaten.

Sind die Erkenntnisse dieser Wissenschaft plötzlich explodiert?

Keineswegs. Die Ehre gebührt den Informatikern und Robotikern, deren Maschinen viel mühselige Laborarbeit überflüssig machten und deren Programme die Daten sortierten.

Die Zusammenarbeit von Technikern und Biologen ist ein Zug der Zeit. Bioforscher treiben mit Robotern und Superrechnern die Analyse von Proteinen voran, Ärzte reparieren mit computergesteuerten Gliedmaßen und Neuroprothesen den menschlichen Körper, Ingenieure holen sich Vorbilder und Ideen aus der Biologie. Ein Geben und Nehmen.

Angesichts der jetzt verfügbaren Datenmassen werden die Erforscher des Lebens die Hilfe der Informatik erst recht benötigen. Denn die präsentierte Gensequenz gibt ihre Geheimnisse noch lange nicht preis. Nun gilt es, dem Code seinen Sinn abzugewinnen, dem Entziffern muss noch das Entschlüsseln folgen. "Das ist nicht das Ende unserer Arbeit", beeilte sich Francis Collins, der Direktor des amerikanischen Genomprojektes, am Montag im Weißen Haus zu versichern, um vorsichtig hinzuzufügen: "Aber es ist vielleicht das Ende vom Anfang."

Die Forscher müssen zunächst den kleinen Anteil der eigentlichen Gene von dem unterscheiden, was sie salopp "Junk-DNA" nennen, Informationsmüll. Dann werden Genetiker, Zellbiologen, Physiologen, Biochemiker, Strukturanalytiker und nicht zuletzt Informatiker in einer gemeinsamen Kraftanstrengung die Funktionen dieser Gene zu klären haben, ihre Mechanismen und Regelungen, überdies ihr verwirrend kompliziertes Zusammenspiel, ehe die Mediziner auch nur in der Ferne eine Therapie bestimmter Erbleiden erahnen können.

Noch müssen die Forscher bei dieser Arbeit auf biologische Werkzeuge zurückgreifen, die sich im Laufe der Evolution über Jahrmillionen entwickelt haben: auf Enzyme, die DNA kopieren, schneiden und synthetisieren. Auch die schnellsten Sequenzierroboter setzen nur biologische Prozesse in Gang, dann müssen sie auf das Ergebnis warten. Der direkte Zugriff auf das Erbgut ist Mensch und Maschine versperrt. Doch das könnte sich ändern. Der Miniaturisierungstrend der technischen Informatik hat mittlerweile auch die biologische Analytik erfasst: Es ist nicht mehr unvorstellbar, dass ein Diagnoseinstrument dereinst so klein sein wird wie das zu untersuchende Molekül. Biologen und Physiker prüfen derzeit Verfahren, die es eventuell erlauben, winzige mechanische Fühler am Erbmolekül entlangfahren zu lassen wie den Finger eines Blinden an einer Braille-Zeile. Das Tempo der heutigen Gensequenzierung ließe sich damit erneut vervielfachen.

Auch der nächste Schritt zum Verständnis der Lebensmechanik - und zu medizinischen Therapien - lässt sich womöglich vereinfachen: die Analyse der Eiweiße, für deren Bau die DNA die Blaupause liefert. Gegenwärtig wird die Struktur dieser Proteine auf komplizierten technischen Umwegen analysiert. Doch es wird bereits über Verfahren nachgedacht, mit denen sich die Moleküle gewissermaßen live beobachten lassen.

Mit anderen Worten: Weitere Beschleunigung ist in Sicht.

Es kommt in der Wissenschaft immer auf die Werkzeuge an, wie der britische Mathematiker, Physiker und Bestseller-Autor Freeman Dyson in seinem neuen, im September bei S. Fischer erscheinenden Buch Die Sonne, das Genom und das Internet schreibt: "Die treibende Kraft hinter den meisten wissenschaftlichen Revolutionen der neueren Zeit waren neue Instrumente, das gilt etwa für die Revolution der Doppelhelix in der Biologie oder die des Urknalls in der Astronomie." In der Tat: Ohne das Skalpell keine Anatomie, ohne das Mikroskop keine Bakterienkunde, und auch die Genetik wird kräftig von ihren neuen Instrumenten profitieren.

Just am Tag der weltweit koordinierten Pressekonferenzen zum Humangenomprojekt ging in den Vereinigten Staaten ein Kongress zu Ende, der den künftigen Einfluss der Nanotechnik auf die biomedizinische Forschung diskutierte; mit Nanotechnik wird ein Forschungszweig bezeichnet, dessen Ziel es ist, biologische und nichtbiologische Gebilde von der Größe mehrerer Nanometer zu manipulieren - Moleküle also und sogar Atome, denn ein Nanometer ist ein millionstel Millimeter.

Die Forscher berieten avantgardistische Ideen: Lassen sich dereinst einzelne Poren von Nervenzellen verschließen, um die Informationsverarbeitung im Gehirn zu steuern? Könnte man gezielt biochemische Reaktionen im Zellkern anstoßen? Richard N. Zare, Laserchemiker aus Stanford, hält sogar den direkten Zusammenbau von DNA-Sequenzen für möglich.

Nicht nur um Analyse und Beobachtung ging es also, sondern auch um die unmittelbare Manipulation des Zellgeschehens. Hat die Hochzeit von Biotechnik, Robotik und Informatik den Erkenntnisgewinn des Genomprojekts beschleunigt, so wird die Ehe von Biotechnik und Nanotechnik ungeahnte Eingriffe in das Genom ermöglichen. Erst kürzlich machte der Physiker Wolfgang Heckl von der Universität München Schlagzeilen, weil es ihm gelungen war, ein Chromosom gezielt zu zerteilen - mit einer Nadel, die an ihrer Spitze nur aus einem einzigen Atom besteht.

Sofort springt die Fantasie an. Nanoroboter manipulieren Gehirnzellen; Mikroroboter patrouillieren die Blutbahnen entlang, um störende Ablagerungen oder fremde Zellen zu vernichten; Nanofähren schleusen rettende DNA in eine erbkranke Zelle ein. Und, wenn die Technik erst einmal weit fortgeschritten ist, lassen sich dann nicht auch die Kompromisslösungen, mit denen sich die Evolution zufrieden gab, wieder revidieren? Ist nicht mancher technische Werkstoff haltbarer, belastbarer und leichter zu reparieren als diese Mischung aus Eiweiß, Zucker, Fett und Wasser, aus der unsere Zellen aufgebaut sind?

Biologie und Technik erfinden den Menschen neu

Biologie und Technik schicken sich an, den Menschen umzukonstruieren, ihn gar neu zu erfinden. Die Technisierung seines Körpers ist dem Menschen ja nicht fremd. Begonnen hatte sie schon vor Jahrhunderten: mit Prothesen, Brillen, Zahnplomben, zurechtgenagelten Knochen. Im 20. Jahrhundert beschleunigte sich das Tempo, es kamen die Herzschrittmacher, Herzklappen und die künstlichen Hüftgelenke. Nächste Stufe: computergesteuerte Körperfunktionen. Kniegelenke lassen sich per Joystick steuern, künstliche Bauchspeicheldrüsen regeln den Insulinpegel, implantierte Messinstrumente alarmieren den Notarzt, Mikropumpen geben in programmierten Intervallen dosierte Medikamente ins Blut.

Das ist keine Science-Fiction, das gibt es schon. Manches zwar nur als Prototyp - das medizintechnische Erfahrungswissen ist noch schmal -, aber die Anfänge sind gemacht.

Zu den hoffnungsvollsten Projekten der Biotechnik zählen die künstlichen Sinne: Implantate in Ohr und Auge versorgen Nervenfasern mit vorverarbeiteten Signalen. Auf diesem Gebiet hat ein weltweiter Forschungswettlauf eingesetzt.

Unter dem Dachbegriff der "Neurosensorik" richteten die Rijksuniversitaet Groningen und die Universität Oldenburg soeben ein Forschungszentrum und ein europäisches Graduiertenkolleg ein, die künstliche Sinnesorgane erkunden. Das Projekt führt die feuchten oder weichen Wissenschaften (Medizin, Biologie und Psychologie) mit den harten oder trockenen (Physik, Elektronik, Mathematik und Informatik) zusammen; in trauter Eintracht widerlegen die so unterschiedlichen Disziplinen das Vorurteil, die moderne Naturwissenschaft zerlege das Leben bloß, anstatt es ganzheitlich zu verstehen.

Diese Interdisziplinarität wird von der Forschungspolitik leider noch nicht nachvollzogen. Von Ausnahmen abgesehen ziehen gerade jene Forscher beim Verteilungskampf um Fördergeld den Kürzeren, die nicht eindeutig biologisch oder eindeutig ingenieurtechnisch arbeiten. Das gilt weniger für die Behörden der Europäischen Union, die durchaus in Projekten denken, wohl aber für die deutschen Wissenschaftsbeamten. Ob im Bundesministerium für Forschung oder in der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die Entscheidungen fallen in Fachreferaten, die nur mit Mühe zu bewegen sind, über ihre Grenzen hinauszublicken.

Sie müssen umlernen: Biologie wird technisch, Technik biologisch.

Offenkundig ist diese Doppelbewegung dort, wo Robotiker ihre Vorbilder in der Natur suchen. Den Schaben, Spinnen, Schlangen und Primaten schauen sie nicht nur ihre Fortbewegungsarten ab, sondern sie programmieren ihre Kunsttiere auch nach Prinzipien, die sie von Neurobiologen gelernt haben.

Sogar die Informatik importiert ihre Methoden aus der lebendigen Natur. Seit vielen Jahren erweist es sich als sinnvoll, Computerprogramme gegeneinander antreten zu lassen, sie mit Mutation, Rekombination und Selektion einem Darwinschen Prozess zu unterwerfen, bis ein leistungsfähiges Programm entstanden ist. Mit dieser Methode lassen sich auch technische Probleme lösen und sogar Körperformen verbessern, weitaus schneller als in der natürlichen Evolution. In Zürich zum Beispiel optimierte ein Roboter auf diese Weise sein Facetten-Auge.

So sind bereits etliche Zutaten beisammen, eine eigenständige Entwicklungsgeschichte der Roboter zu starten. Nur eines klappt noch nicht, dass nämlich Roboter ihre Nachkommen selbst bauen. Aber im Prinzip benötigen sie dafür - außer den Bauplänen - nur Energie, Metall und Silizium. Davon wäre genug vorhanden, in der Sahara zum Beispiel, oder auf dem Mond (ein Gedanke von Freeman Dyson aus früheren Tagen). Und wenn wir voraussetzen dürfen, dass Intelligenz evolutionär entstanden ist und später sozialkulturell verfeinert wurde, dann ist nicht einzusehen, warum die Genesis des Geistes nicht ein zweites Mal einsetzen könnte, diesmal in einer Roboterpopulation.

Diese Debatte taucht alle paar Jahre auf, jedes Mal mit gesteigerter Intensität, denn ihre technische Basis erweitert sich. Und jedes Mal ist auch der klassische Einwand gegen künstliches Denken aus dem Computer zu hören: Intelligenz ist situativ, körpergebunden und sozial. Doch gegen die Idee intelligenter Roboter-Kollektive lässt sich dieses Argument auf Dauer nicht geltend machen. Freilich könnten Kollektive von Softwareagenten, die durchs Internet wandern und die angeschlossenen Rechner und Menschen als ihre Sinnesorgane und Extremitäten einsetzen, das Rennen um die künstliche Intelligenz noch vor den Robotern gewinnen - das hält Helge Ritter, Neuroinformatiker an der Universität Bielefeld, für möglich.

Pure Fantasie?

Nicht ganz. Solche Visionen beschreiben einen Möglichkeitsraum, den die Wissenschaft jetzt betreten will. Softwaretechnik und Robotik, Biokybernetik und Neuroinformatik befruchten sich derzeit gegenseitig, rekombinieren ihre Ideen und bringen unausgesetzt neue Prototypen hervor. "Living Artefacts" - lebendige Kunstprodukte - heißt ein Forschungsprogramm der Europäischen Union, das derzeit vorbereitet wird. Damit sind Maschinen gemeint, die wachsen, die aus Erfahrung lernen, die sich sozial verhalten und zu Mitlebewesen des Menschen werden können. Der Unterschied von Biosphäre und Technosphäre wird kleiner, bis er ganz verschwindet.

Das deutet sich bereits in den Begriffen an. Biologie und Technik finden eine gemeinsame Sprache (der alte Traum der Kybernetiker aus den fünfziger Jahren wird wahr). Robotiker sprechen von "Verhalten", Verhaltensbiologen von "fest verdrahteten" Präferenzen, Programmierer von "Vererbung", Hirnforscher von "Parallelverarbeitung".

Darf Homo sapiens sich selbst transzendieren?

Nun mögen das nur Bilder sein, bloße Veranschaulichungen. Aber es gibt stärkere Indizien für das Zusammenwachsen von Lebens- und Technowissenschaften: Sie greifen zunehmend auf die gleiche Mathematik zurück, und sie haben ein gemeinsames Zentralthema, die Informationsverarbeitung. Ob Zelle oder Lebewesen, ob natürliches oder künstliches Wesen, jedes Mal ist Innen und Außen zu unterscheiden, es müssen Signale aufgenommen, verarbeitet und abgegeben werden; es gibt Verhalten, Kommunikation, Kooperation - und heutzutage ist die Computerleistung verfügbar, mit deren Hilfe diese Prozesse simuliert werden können.

Wird das 21. Jahrhundert also das Zeitalter der Biologie? Oder der Computer? Oder doch der Mathematik? Die Debatte darüber, was denn nun die neue "Leitwissenschaft" sei, ist scholastisch. Sie dient wohl eher dem Streit um Forschungsmittel. Besser wäre es, eine lang anhaltende Diskussion darüber in Gang zu bringen, nach welchen Kriterien das Menschengeschlecht seine Zukunft gestalten sollte.

Darf Homo sapiens sich selbst transzendieren? Eine schwierigere Frage gab es nie.

Trotz seines verbalen Getöses traf US-Präsident Bill Clinton auf der Pressekonferenz am Montag daher an einem Punkt richtig: Die unterschiedlichen Moralvorstellungen der Kulturen dürfen kein Hindernis dafür sein, die ethischen Probleme weltweit zu diskutieren, die sich aus der heraufziehenden Machbarkeit ergeben. Aber in welcher Form soll diskutiert, wie und von wem entschieden werden? Vielleicht tut sich ja die deutsche Regierung mit einem Vorschlag hervor.

Ein solcher politischer Vorstoß käme nicht zur Unzeit. Biologen und Techniker greifen mit Macht die Vorstellung an, Lebendiges und Künstliches seien zwei Welten. Die aus der Antike herrührende Mauer zwischen dem Natürlichen und dem Gemachten erzittert. Die Ereignisse vom vergangenen Montag haben ihr einen tragenden Stein herausgeschlagen.

Unter www.zeit.de/links/ erhalten Sie weitere Informationen zum Thema.

 Artikel zu diesem Thema:

DIE ZEIT 40/1998: Bio-Info-Broker: Die Entschlüsselung menschlichen Erbguts
199840.genautomat_.html


Links zu diesem Thema:

Human Genome Project - FAQ
http://www.ornl.gov/hgmis/faq/faqs1.html

Links to the Genetic World
http://www.ornl.gov/TechResources/Human_Genome/links.html

Human Genome Most Used Links
http://www-ls.lanl.gov/HGhotlist.html

HUGO
http://www.gdb.org/

The Sanger Centre
http://www.sanger.ac.uk/

Yahoo! Spezial - Menschliches Erbgut entschlüsselt
http://de.fc.yahoo.com/e/erbgut.html

Celera
http://www.celera.com/

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