Nr. 26/2000
Langsam baut sich auf dem Bildschirm eine grüne Linie auf. Wie eine Fieberkurve steigt sie einmal zackig nach oben, dann sinkt sie wieder ab. Ich konzentriere mich: Nun geh schon nach unten! Und tatsächlich geht die Linie ein paar Stufen hinunter. Ja! Weiter so! Eine Weile schaffe ich es, die Kurve ins Minus zu drücken. Erst kurz vor Schluss des etwa fünfminütigen Experiments kommt sie wieder hoch und endet etwa in der Mitte des Bildschirms.
Ich befinde mich im Princeton Engineering Anomalies Research (Pear) Lab an der renommierten Eliteuniversität im US-Staat New Jersey. Keine Drähte führen von meinem Kopf zum
Computer. Die zuckende Linie auf dem Bildschirm gibt die Ergebnisse wieder, die ein Zufallsgenerator ausspuckt - ein echter physikalischer Zufallsgenerator in einem kleinen Kästchen. Er produziert Nullen und Einsen in wirrer Folge. Der Computer misst, ob bei den 200 Ziffern mehr oder weniger als die erwarteten 100 Einsen dabei sind - entsprechend geht die Kurve nach oben oder nach unten. Meine Aufgabe ist es, ihn dazu zu bringen, dauerhaft weniger Einsen zu produzieren und damit die Kurve nach unten zu drücken - wie, ist meine Sache. Ich darf meditieren, brüllen oder einfach daneben sitzen und ein Butterbrot essen. Nur Anfassen ist verboten. Allein die Kraft meines Willens soll zum gewünschten Ergebnis führen.
Seit über 100 Jahren bemüht sich die Parapsychologie auf mehr oder weniger seriöse Weise, die so genannte Psychokinese nachzuweisen - seien es makroskopische Phänomene wie das Rücken von Tischen oder eben mikroskopische wie der zufällige Zerfall von Elementarteilchen.
Ein unbekannter Geist ließ die Flugzeugelektronik spuken
Aber von Parapsychologie spricht Bob Jahn nicht gern. Er verwendet den Begriff Anomalien, schon um sich von der schillernden Szene abzugrenzen. Der Gründer des Pear-Labors war 15 Jahre lang Dekan der ingenieurwissenschaftlichen Fakultät in Princeton. Ein Ingenieur durch und durch, sachlich, wortkarg, hager, eine Baseballkappe auf dem militärisch kurz rasierten Haupthaar. Ungewöhnlich nur die Stofftiere, die das Büro des 70-Jährigen bevölkern. Irgendwann vor etwa 20 Jahren erzählte ihm der Flugzeugbauer James McDonnell von unerklärlichen Vorfällen, bei denen die Elektronik der Jets verrückt gespielt hatte. Anomalien eben. McDonnell bot an, die Erforschung dieser ungewöhnlichen Ereignisse zu sponsern. Seitdem gibt es in einem Keller in Princeton zwischen nüchternen Maschinen und Messgeräten der Flugzeugingenieure eine Tür mit einer Birne (englisch pear) darauf, hinter der eine Hand voll engagierter Menschen versucht, mit exakten wissenschaftlichen Methoden dem Zusammenhang zwischen Bewusstsein und Materie auf die Schliche zu kommen.
Die Pear-Forscher haben schon mit allen möglichen Zufallsquellen gearbeitet: linearen Pendeln, durch ein Nagelbrett fallenden Kugeln, einer stroboskopisch beleuchteten Wasserfontäne, einem grünen Plüschfrosch auf Rädern, der erratisch durch den Raum fährt. Bei den meisten Testpersonen korrespondierte tatsächlich der Output des Zufallsgenerators mit der Intention. Ganz, ganz minimal, mit einer Abweichung von etwa einem zehntel Promille vom mathematisch zu erwartenden Wert. Aber dies "statistisch signifikant".
10 001-mal Kopf bei 20 000 Würfen - Zufall oder Effekt?
Signifikant, das heißt, die Wahrscheinlichkeit, dass die Abweichung zufällig zustande kam, liegt unter fünf Prozent. Je kleiner ein Effekt, umso mehr Versuche muss man durchführen, um diese Signifikanz zu erreichen. Kommt bei zehn Roulettewürfen 6-mal Rot und 4-mal Schwarz heraus, wundert sich niemand. Kommt bei 100 Würfen 60-mal Rot und 40-mal Schwarz, dann wird der Chef wahrscheinlich die Anlage prüfen. Der von Pear gemessene winzige Effekt entspricht einer Münze, die bei 20 000 Würfen 10 001-mal mit dem Kopf nach oben landet und 9999-mal mit der Zahl - aber das regelmäßig. Um das signifikant nachzuweisen, muss man die Münze natürlich sehr, sehr oft werfen.
Nicht nur die absoluten Werte der Pear-Ergebnisse waren interessant, sondern auch andere Details: Zwar unterschied sich die Trefferquote von Proband zu Proband, grundsätzlich aber schien jeder in der Lage zu sein, den Zufall zu beeinflussen - eine besondere "Psi-Fähigkeit" war also nicht erforderlich. Die räumliche Distanz zwischen Mensch und Zufallsquelle schien keine Rolle zu spielen, selbst wenn ganze Kontinente zwischen ihnen lagen. Und selbst von der Zeit war der Effekt unabhängig. Die so genannten Operatoren konnten mit ihrer Geisteskraft zukünftige und sogar vergangene Ereignisse beeinflussen - spätestens hier stehen dem naturwissenschaftlich denkenden Menschen die Haare zu Berge.
Eine schlüssige Erklärung dafür konnten auch Jahn und seine Kollegin, die Psychologin Brenda Dunne, nicht liefern. Zwar entwickelten sie mit metaphorischen Anleihen aus der Quantenphysik eine neue Theorie des Bewusstseins. Die aber hat noch keine Erkenntnisse oder gar überprüfbare Hypothesen hervorgebracht. Klar ist, dass es nicht um eine neue Art von Wellen oder Kräften gehen kann - dazu sind die behaupteten Eigenschaften zu verrückt. Der Geist müsste auf einer viel grundlegenderen Ebene in die Welt eingreifen. "Wir verändern die Wahrscheinlichkeitstabelle der Welt", umschreibt Jahn seine Ideen.
Als ich im Mai 1999 in Princeton war, wurde mir beteuert: Wir haben zwar keine umfassende Erklärung, aber dass der Effekt existiert, steht außer Frage. Selbst der berühmte Magier James Randi, bekannt als Entlarver von parawissenschaftlichen Scharlatanen, konnte keine Unsauberkeiten entdecken. Man sei über die Phase hinaus, in der es um den bloßen Nachweis gehe, sagte Bob Jahn. "Die sklavische Beschäftigung mit der Replikation ist nicht hilfreich." Stattdessen erforsche man nun Details und Anwendungen. Pear-Mitarbeiter Roger Nelson etwa glaubt, dass die Zufallsgeneratoren auch die Schwingungen und Konflikte in Gruppensituationen aufzeichnen können. Inzwischen vertreibt Pear sogar kommerziell ein kleines tragbares Gerät, mit dem etwa Firmen die Harmonie bei ihren Vorstandssitzungen überprüfen sollen.
Man fragt sich, wie die Überzeugungen Jahns und seiner Kollegen so lange stabil bleiben konnten - kannten sie doch bereits damals, vor einem Jahr, die Zahlen einer Studie, die erst jetzt veröffentlicht worden ist. An drei Instituten wurden mit identischen Apparaturen die Pear-Versuche wiederholt: Neben Princeton nahmen das Freiburger Institut für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene (IGPP) und das Institut für Psychobiologie und Verhaltensmedizin der Universität Gießen teil - beides durchaus "befreundete" Institutionen. Insgesamt 750 Versuche wurden durchgeführt, bei denen jeweils 3000-mal 200 Elementarereignisse gesammelt wurden. Je 1000-mal musste der Operator versuchen, eine möglichst hohe, eine möglichst niedrige beziehungsweise überhaupt keine Abweichung vom Mittelwert zu erzielen. Also eine Datenbasis, die auf 450 Millionen digitalen "Münzwürfen" basierte - mehr, als das Pear-Labor in den ersten zwölf Jahren seiner Arbeit gesammelt hatte.Das sollte eigentlich reichen für eine solide Bestätigung der ursprünglichen Ergebnisse. Aber als ich im Juni 1999 das Freiburger IGPP besuchte, ließ man unter der Hand durchblicken, dass die Ergebnisse wohl nicht so gut seien wie erwartet. Eine Veröffentlichung wurde für den Herbst 1999 angekündigt, verzögerte sich aber immer wieder. Offenbar wurde hinter den Kulissen heftig darum gerungen, wie man die eher enttäuschenden Resultate denn nun formulieren sollte. Denn die Hauptbotschaft der neueren Versuche ist eindeutig, wie der soeben erschienene Forschungsbericht zeigt: Die sensationellen Pear-Ergebnisse früherer Jahre konnten nicht wiederholt werden. Zwar registrierten alle drei Institute Abweichungen vom Mittelwert, aber die waren um den Faktor 10 kleiner als zuvor und erreichten nicht die Signifikanzschwelle von fünf Prozent. Und untereinander widersprachen sie sich auch noch - so erzielten etwa die Gießener Operatoren die höchsten Werte gerade dann, wenn sie besonders niedrige erzeugen wollten. Natürlich sagen die Forscher des Dreierkonsortiums nun nicht, dass damit alle vergangenen Ergebnisse hinfällig seien. Im Gegenteil, sie halten daran fest, dass es Anomalien gebe. "Es ist wie mit dem Glas, das gleichzeitig halb voll und halb leer ist", sagt Robert Jahn. Die Replikation der absoluten Werte sei zwar misslungen, dafür enthielten die Daten eine Menge struktureller Besonderheiten. Um überhaupt Abweichungen von der gewöhnlichen Statistik zu finden, müssen die Forscher sich immer tiefer in den Datenbestand hineingraben, auf der Suche nach einem "polyglotten Muster struktureller Verzerrungen", wie es blumig im Bericht heißt.
Für die Pleite führt der Bericht mehrere mögliche Gründe an: Die ursprünglichen Studien könnten mangelhaft und damit ungültig gewesen sein. Oder die neuen Studien weisen Fehler auf. Es könnte objektive oder subjektive Bedingungen für Anomalien geben, die bei den neuen Versuchen nicht berücksichtigt worden sind. Vielleicht hat man auch die falschen Parameter untersucht. Oder die Statistik stimmte nicht. Vielleicht ist es aber auch die Natur der Psi-Phänomene, dass sie sich gegen den naturwissenschaftlichen Nachweis sträuben. Dann könnte man allerdings jede systematische Studie einstellen.
Für skeptische Naturwissenschaftler ist die naheliegendste Lösung natürlich die erste - die ursprünglichen Pear-Ergebnisse sind ein Artefakt. Dazu muss man gar keinen bewussten Pfusch unterstellen, vielleicht allenfalls eine gewisse Schlampigkeit mit den Daten. Dann gäbe es gar nichts zu erklären, und das physikalische Weltbild wäre wieder im Lot. Einen so radikalen Schnitt mit der eigenen Vergangenheit wollen die Pear-Forscher natürlich nicht ziehen. Sie werden weiter experimentieren und mit neuen mathematischen Ansätzen versuchen, in ihrem Datenmeer signifikante Muster zu entdecken.
Einer, der über das neuerliche Ergebnis gar nicht erstaunt ist, sondern sich eher die Hände reibt, ist Walter von Lucadou, ein Psi-Veteran, der in Freiburg die (nur lose mit dem IGPP verbandelte) Parapsychologische Beratungsstelle betreibt. Denn es ist nicht das erste Mal, dass Psi-Phänomene, die man nachgewiesen zu haben glaubte, sich erstaunlich bockig zeigen, wenn sie repliziert werden sollen. Diese Widerspenstigkeit hat sogar einen Namen: Decline-Effekt nennen das die Para-Wissenschaftler. Lucadou hat mit seinem aus der Systemtheorie stammenden "Modell der Pragmatischen Information" einen Ansatz entwickelt, der sogar voraussagt, dass ein Experiment, das einmal funktioniert hat, sich unter identischen Bedingungen nicht wiederholen lässt. Grob gesagt soll die Information, die die Experimentatoren über vorherige Versuche haben, die Korrelation zwischen Beobachter und Zufallsereignis beeinflussen. Allerdings hat Lucadous Ansatz auch eine bittere Konsequenz: Analog zu nichtlokalen Quantenphänomenen können Psi-Phänomene nach seinem Verständnis nicht praktisch genutzt werden, weil sich über den übersinnlichen Kanal keine Information übertragen lässt.
Das Freiburger IGPP wird dieser Tage 50. Der 1991 verstorbene Gründer Hans Bender machte noch Schlagzeilen, indem er in Zahnarztpraxen Poltergeister jagte. Die Nachfolger machen wissenschaftlich saubere Arbeit mit wenig spektakulären Experimenten, die sich immer weiter der Alltagserfahrung entziehen. Der behauptete Einfluss des Geistes auf Zufallsprozesse ist ja aufgrund der winzigen Effektgröße gar nicht mehr direkt wahrnehmbar - er erscheint nur noch in den Zahlenkolonnen der Statistik. Gibt es eine Wechselwirkung zwischen Geist und Kosmos? Und lässt sie sich einfangen mit Experimenten, wie sie das Pear-Labor durchführt? Wenn man vor den zuckenden Linien auf dem Computermonitor sitzt, vor dem Pendel oder vor dem zufällig hin und her flitzenden Stofftier, dann kann man sich kaum der Suggestion entziehen, dass man diese willkürlichen Bewegungen beeinflusst - selbst wenn man nicht dran glaubt. So einfach aber, das zeigen die neuen Daten, lässt sich das Übersinnliche nicht festnageln. "Wir haben dem Kosmos eine Frage gestellt", sagt Pear-Chef Robert Jahn, "und der Kosmos hat nein gesagt."
Unter www.zeit.de/links/ erhalten Sie weitere Informationen zum Thema.
Links zu diesem Thema:
Princeton Engineering Anomalies Research
http://www.princeton.edu/~pear/
CSICOP On-line
http://www.csicop.org/
Forum Parawissenschaften
http://www.forum-parawissenschaften.de/
Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften e.V.
http://www.gwup.org/
Institut für Psychobiologie und Verhaltensmedizin (IPV), Uni Gießen
http://www.psychol.uni-giessen.de/abteil/klinisch/IPV.htm
IGPP - Institut für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene
http://www.igpp.de/
© beim Autor/DIE ZEIT 2000 Nr. 26
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