Vortrag P. Sloterdijks am Goethe-Institut in Boston
Peter Sloterdijk:
Der operable MenschAnmerkungen zur ethischen Situation der Gen-Technologie
Es ist weder unser Fehler noch unser Verdienst, daß wir in einer Zeit leben, in der die Apokalypse des Menschen etwas Alltägliches ist. Wir brauchen nicht im Stahlgewitter, unter der Folter, im Auslöschungslager zu sein oder in der Nähe zu solchen Exzessen zu leben, um zu erfahren, wie der Geist der äußersten Situationen im Innersten des Zivilisationsprozesses durchbricht. Die Vertreibung aus den Gewöhnungen des humanistischen Scheins ist das logische Hauptereignis der Gegenwart, dem man sich nicht durch Flucht in den guten Willen entzieht. Aber die Vertreibung reicht noch weiter: Sie tastet alle Illusionen des Bei-sich-Seins an. Denn sie rückt nicht nur den Humanismus weg, sondern tangiert das Gesamtverhältnis, das Heidegger als Wohnen in der Sprache angesprochen hatte. Wer hätte nicht bemerkt, daß das Haus des Seins unter Gerüsten verschwindet - und niemand weiß, wie es nach dem Umbau aussehen wird. Das geistes- und technikgeschichtlich am meisten ins Auge springende Merkmal der aktuellen Weltsituation ist gerade, daß die Technikkultur einen neuen Aggregatszustand von Sprache und Schrift hervorbringt, der mit deren traditionellen Auslegungen durch die Religion, die Metaphysik und den Humanismus kaum noch etwas gemeinsam hat. Das alte Haus des Seins erweist sich als etwas, worin ein Aufenthalt im Sinne des Wohnens und des In-die-Nähe-Bringens von Fernem kaum noch möglich ist. Sprechen und Schreiben im Zeitalter der digitalen Codes und der genetischen Umschriften haben keinen irgendwie häuslichen Sinn mehr; die Schriftsätze der Technik entwickeln sich außerhalb der Übertragung und rufen keine Anheimelungen und Äußerlichkeitsbefreundungseffekte mehr hervor. Sie steigern im Gegenteil den Umfang des Äußeren und Nie-Assimilierbaren. Die Sprachprovinz schrumpft, der Klartextsektor wächst. Heidegger hat in seinem Brief Über den Humanismus diese Verhältnisse in einer altväterlichen Diktion, aber in sachlich gültiger Weise ausgesprochen, als er das herausragende ontologische Merkmal des zeitgenössischen modus essendi beim Menschen die Heimatlosigkeit nannte."Die Heimatlosigkeit wird ein Weltschicksal. Darum ist es nötig, dieses Geschick seinsgeschichtlich zu denken ... Die Technik ist in ihrem Wesen ein seinsgeschichtliches Geschick. Als eine Gestalt der Wahrheit gründet die Technik in der Geschichte der Metaphysik." [1]Daß zwischen Wahrheit und Schicksal ein Zusammenhang besteht, der über die metaphysische Zuflucht zum Zeitlosen hinausweist, gehört seit Hegel zu den großen Intuitionen des modernen europäischen Denkens. Sie sind präfiguriert in den Schemata der christlichen Geschichtstheologie. Hegel resümiert diese, wenn er dem Geist einen Weg nachzuweisen versucht, der dem alteuropäischen Schema vom Sonnenlauf zwischen Orient und Okzident nachempfunden ist. Dem hegelschen Geist schien es gelungen zu sein, in eine zweite Zeitlosigkeit einzutreten, die sich nach seiner Ankunft im fernen abendlichen Westen einstellt. Die äußerste Situation des Hegelianismus ist die völlige Selbsterfassung des Geistes: Ihr geopolitisches Symbol ist der äußerste Westen. In ihm hätte das Bei-sich-Sein seine Schlußgestalt gewonnen, und danach wäre es allenfalls noch darum zu tun, ein paar unwohnliche Provinzen am Rand der Ökumene zu arrondieren. Im wesentlich gälte schon der Satz: Alles wohnt. Und wo? Im unausweichlichen West-End der Geschichte. Wenn Michel Houellebeq am Schluß seines Romans Elementarteilchen seinen Helden, den deprimierten Erfinder der biologischen Unsterblichkeit, an der äußersten Landspitze Europas, unter einem "wechselhaften, sanften Licht" den Tod im irischen Atlantik suchen läßt, so ist dies zunächst nur ein adäquater Hegelkommentar. Wenn alles erreicht ist, soll man im Meer versinken. In diesem Welt-Abend scheint die Irre beendet.Heidegger jedoch, hätte er erzählerische Absichten gehabt, würde einen Helden eine Hütte bauen lassen in den Hügeln, um dort abzuwarten, wie die Geschichte weitergeht. Für ihn war evident, daß die Irre andauert. Es findet kein totales Zusichkommen statt, vielmehr spricht alles dafür, daß die Offenbarung des Menschen durch die Geschichte und die Technik dabei ist, in ein Zeitalter noch höherer Spannungen und Verblendungen einzutreten. Hegel hatte in Heideggers Augen recht, der Wahrheit eine Geschichte zu geben; aber er hat unrecht, sie von Ionien nach Jena laufen zu lassen, ebenso wie er unrecht hat, sie als einen solaren Prozeß zwischen Aufgang und Untergang vorzustellen. Doch haben wir mit dieser Richtigstellung auch den furor teleologicus überwunden? Die Geschichte der Wahrheit ist nach Heidegger, vom Stand der Dinge im Jahr 1946 her gedacht, kein Sonnenlauf, sondern das Abbrennen einer begrifflichen Zündschnur, die von Athen nach Hiroshima läuft - und, wie wir sehen, weiter in die Labore der aktuellen Gentechnik und wer weiß wohin darüber hinaus. In diesem vorwärtslaufenden Zuwachs des technischen Wissens und Könnens enthüllt sich der Mensch vor sich selbst als Sonnen-Macher und als Leben-Macher und drängt sich in eine Position, in der er Antwort geben muß auf die Frage, ob das, was er da kann und tut, auch wirklich er selbst sei und ob er in diesem Tun bei sich ist.
Es läßt sich angesichts der Ergebnisse nicht leugnen, daß diese Geschichte, sofern sie eine Erfolgsgeschichte des könnenden Wissens und des wissenden Könnens ist, auch als Geschichte der Wahrheit und ihrer Meisterung durch Menschen gelesen werden muß, aber doch nur als eine Teilgeschichte der Wahrheit und ihrer immer nur fragmentarischen Ergreifung durch Menschen und Betriebe. Wenn über der Wüste von Neu- Mexico der Atomblitz aufzuckt, ist kein menschliches Zu-sich-Kommen im Spiel, immerhin hat Oppenheimer Chuzpe genug, den ersten Nuklearversuch Trinity zu nennen; wenn Dolly blökt, ist nicht der Geist heimatlich bei sich zu Hause, aber wenn ihre Produzenten ans Eigene denken, so in Form von Patenten.
Da nun die Geschichte nicht Anstalten macht, den Kreis zu schließen, bleiben sie und die technologische Gesellschaft in einer Bewegung gefangen, die Heidegger mit dem Ausdruck Irre bezeichnet hat. Das Irren charakterisiert die geschichtliche Bewegungsform der Existenz, die nicht bei sich ist und sich durch Nicht-Eigenes hindurcharbeitet - sei es mit dem Ziel, nach Hause zu kommen, sei es im Modus der unendlichen Fahrt ohne Ankunft. In der gerichteten wie der ungerichteten Irre ist Heimatlosigkeit die Grundsituation, Fehlgriffe bei der Selbstergreifung sind die Regel. Da aber die Irre hier wie eine Epochenkonstante präsentiert wird, drängt sich die Frage auf, ob nicht auch bei ihr - die doch mit der Metaphysik schicksalhaft verbunden scheint - , mit deren Abklingen und "Verwesung" eine tiefe Veränderung vor sich gehen müßte. Die enormen Zuwächse an Wissen und Können bei der modernen Menschheit erzwingen die Frage, ob die Irre-Diagnose für sie in derselben Weise gelten kann wie für die Zeiten vor der Entfaltung des modernen Potentials. Angesichts der Tatsache, daß ein Denker vom Rang Heideggers nach 2500 Jahren europäischer Metaphysik und Technik noch immer Gründe zu sehen glaubt, den Weltlauf als andauernde schicksalhafte Irre zu interpretieren, drängt sich die Vermutung auf, daß hier möglicherweise eine optische Täuschung vorliegen könnte - eine Frage, die um so plausibler wird angesichts der Tatsache, daß Heidegger nach seinem verunglückten Versuch mit der "nationalen Revolution" als Wendung ins Eigene und Eigentliche keinen Vorschlag mehr macht, wie eine Rückkehr aus der Irre philosophisch zu denken wäre - seine Zuflucht zur Poesie des Seins ist, auch in einer sympathetischen Sicht, bestenfalls eine Zwischenlösung. [2]
Die Vermutung, daß die Theorie der Irre, mit und ohne Ziel, aus einer falschen und revisionsbedürftigen Beschreibung des Verhältnisses zwischen Mensch und Sein hervorgeht, läßt sich konsolidieren. Auch Heidegger, so sehr seine Bedeutung als Destrukteur der Metaphysik unleugbar ist, bleibt teilweise in einer philosophischen Grammatik gefangen, die eine schlechterdings unhaltbare Ontologie und eine unzulängliche Logik zur Voraussetzung hat. Wir verdanken Gotthard Günther den Nachweis, daß die klassische Metaphysik, die auf der Verbindung von einwertiger Ontologie (Sein ist, Nicht-Sein ist nicht) und zweiwertiger Logik (Wahres ist nicht falsch, Falsches ist nicht wahr; tertium non datur) beruhte, in die absolute Unfähigkeit führt, kulturelle Phänomene wie Werkzeuge, Zeichen, Kunstwerke, Maschinen, Gesetze, Sitten, Bücher und alle anderen Artifizien ontologisch angemessen zu beschreiben, weil bei Gebilden dieses Typs die Grundeinteilung von Seele und Ding, Geist und Materie, Subjekt und Objekt, Freiheit und Mechanismus daneben greifen muß: Sie sind ja ihrer Konstitution nach Zwitter mit einer geistigen und einer materiellen "Komponente", und jeder Versuch, zu sagen, was sie im Rahmen zweiwertiger Logik und einwertiger Ontologie "eigentlich" seien, führt unweigerlich in aussichtslose Reduktionen und Verkürzungen. Nimmt man platonisch die Ideen als das eigentlich Seiende an, kann die Materie nur eine Art von Nicht-Sein bilden; substantialisiert man die Materie, fallen die Ideen als uneigentlich und nicht-seiend beiseite. Diese Fehler sind selbstverständlich nicht die Mißgriffe von Personen, sondern zeigen die Grenzen einer Grammatik. Sie sind in diesem Sinn Irrtümer als Schicksale und Epochen. Die Irre wäre aus dieser Sicht nichts anderes als die weltgeschichtliche Spur des platonisch-aristotelischen (allgemeiner gesprochen, des hochkulturell metaphysischen) Programms, der Gesamtheit des Seienden mittels der Zweiwertigkeit Herr zu werden.
Mit Hegels Werk ist nun zum ersten Mal eine Logik geschaffen worden, die den ontologischen Status von Artifizien unter dem Titel "objektiver Geist" zu bestimmen erlaubt. Durch die vorwiegend geist- und kulturtheoretische Ausrichtung der hegelschen Analyse blieb dieser Impuls blockiert, bis die Kybernetik als Theorie und Praxis intelligenter Maschinen und die moderne Biologie als Studium von System-Umwelt-Einheiten eine Neustellung dieser Fragen erzwangen, diesmal von der Seite der System- und der Organismentheorie her. Hier wandelt sich das Konzept objektiver Geist zu dem Prinzip Information. Dieses tritt als dritter Wert zwischen die Gedanken und die Sachen, den Reflexionspol und den Dingpol, den Geist und die Materie. Die intelligenten Maschinen - wie die kulturgeschaffenen Artifizien überhaupt - nötigen das Denken endlich auch auf breiter Front zur Anerkennung des Sachverhalts, daß da ganz offenkundig "Geist" oder Reflexion oder Denken in Sachbestände eingeflossen sind und in diesen auf wiederauffindbare und weiterbearbeitbare Weise verharren. Maschinen und Artifizien sind also real existierende Verneinungen der Zustände vor der Einprägung der in-formatio in den Träger. Sie sind in diesem Sinn Gedächtnisse oder objektiv gewordene Reflexionen. Um dies zu denken, braucht man eine mindestens zweiwertige Ontologie in Verbindung mit einer dreiwertigen Logik, mithin ein kognitives Instrumentarium, mittels dessen artikuliert werden kann, daß es real existierende bejahte Verneinungen und verneinte Bejahungen gibt beziehungsweise seiende Nichtse und nichtshaltige Seiende. Der Satz "es gibt Information" besagt letztlich nichts anderes. Um seine Ermöglichung und Konsolidierung geht es in dem Gigantenkampf des Denkens zwischen Hegel und Heidegger, in dessen Ausgang Autoren wie Günther, Deleuze, Derrida und Luhmann mit spürbaren Folgen eingreifen. Sie alle arbeiten daran, das tertium datur zu erobern.
Von dem Satz "es gibt Information" hängen Sätze ab wie: Es gibt Systeme, es gibt Gedächtnisse, es gibt Kulturen, es gibt künstliche Intelligenz. [3] Auch der Satz "es gibt Gene" läßt sich nur als ein Ausfluß der neuen Situation verstehen - er zeigt den erfolgreichen Übersprung des Prinzips Information in die Sphäre der Natur an. Diese Zugewinne an wirklichkeitsmächtigen Konzepten lassen das Interesse an traditionellen Theoriefiguren wie der Subjekt-Objekt-Beziehung verblassen. Auch die Konstellation von Ich und Welt verliert viel von ihrem Glanz, um von der ausgelaugten Polarität von Individuum und Gesellschaft zu schweigen. Vor allem aber wird mit der Vorstellung der real existierenden Gedächtnisse oder der selbstorganisierenden Systeme die metaphyische Unterscheidung von Natur und Kultur hinfällig, weil beide Seiten der Differenz nur regionale Zustände von Information und ihrer Prozessierung darstellen. Man muß sich darauf gefaßt machen, daß der Nachvollzug dieser Einsicht besonders jenen Intellektuellen schwer fallen wird, die von der Antithese Kultur gegen Natur gelebt haben und sich jetzt in einer reaktiven Stellung wiederfinden.
Sucht man nach tieferen Motivationen für die sogenannte Irre der geschichtlichen Menschheit, so ist einer ihrer Gründe in dem Umstand zu entdecken, daß die Akteure des metaphysischen Zeitalters an das Seiende im ganzen offenkundig mit einer falschen Beschreibung herangetreten sind. Sie teilen das Seiende in Subjektives und Objektives auf und stellen das Seelische, das Selbsthafte und Menschliche auf die eine Seite und das Dingliche, das Mechanische und Unmenschliche auf die andere. Die praktische Anwendung dieser Unterscheidung heißt Herrschaft. Im Gang der technischen Aufklärung - und diese gescheiht de facto durch Maschinenbau und Prothetik - stellt sich heraus, daß diese Einteilung unhaltbar ist, weil sie, wie Günther betont, dem Subjekt und der Seele eine Überfülle von Eigenschaften und Fähigkeiten zuspricht, die in Wahrheit auf die andere Seite gehören. Zugleich spricht sie den Dingen oder Materialien eine Fülle von Eigenschaften ab, die sie bei näherem Zusehen doch besitzen. Werden die traditionellen Fehler nach beiden Seiten hin korrigiert, entsteht eine radikal neue Sicht auf kulturelle und natürliche Objekte. Man beginnt zu verstehen, daß und wieso die "informierte Materie" oder der höhere Mechanismus parasubjektive Leistungen erbringen können - bis hin zum Schein von planender Intelligenz, Dialogfähigkeit, Spontaneität und Freiheit.
Man sagt nicht zu viel, wenn man die Revision der falschen metaphysischen Einteilung des Seienden als eine Titanenschlacht bezeichnet, die sehr tief in gewachsene menschliche Selbstverhältnisse eingreift. Sie wird von Unzähligen als eine Enteignung des Selbst beargwöhnt und als technologische Teufelei abgewiesen. Die Unheimlichkeit des Vorgangs ist nicht zu leugnen, gerade weil er durch unabweisbare Ergebnisse beeindruckt. Auch seine Faszination springt dem Beobachter ins Auge, weil alles, was an der Technikfront geschieht, nun Folgen fürs humane Selbstverständnis hat. In seinem Fortgang wird auch die Zitadelle der Subjektivität, das denkende und erlebende Ich angetastet, und zwar nicht nur durch symbolische Dekonstruktionen, die im übrigen in den Weltkulturen vielfach vorweggenommen wurden, man denke an die mystischen und yogischen Systeme, an die negative Theologie und die romantische Ironie, sondern auch durch materielle Modifikationen, etwa die Umstimmung der seelischen Befindlichkeit mit Hilfe von psychotropen Substanzen (ein Verfahren, das in den Drogenkulturen seit Jahrtausenden, in der Psychiatrie seit Jahrzehnten üblich ist); dazu kommt in absehbarer Zeit wohl auch die Induktion von Ideeninhalten durch nootrope Substanzen. Der spektakulärste Übergriff des Mechanischen ins Subjektive kündigt sich aber in den genetischen Technologien an. Denn sie ziehen einen weiten Bereich von körperlichen Voraussetzungen des Selbst in die Reichweite artifizieller Manipulationen. Daran knüft sich die populäre, mehr oder weniger phantastische Vorstellung, man könne in absehbarer Zeit ganze "Menschen machen" - wobei in solchen Phantasien primitive Biologismen mit hilflosen Humanismen und Theologismen wetteifern, ohne daß bei den Proponenten solcher Meinungen eine Spur von Einsicht in die evolutionären Bedingungen der Anthropogenese nachgewiesen werden könnte. [4] Die Grundlage für den von Ängsten umwitterten Einbruch ins imaginäre Feld des "Subjekts" oder der "Person" ist darin zu suchen, daß auch auf der Seite des sogenannten Objekts, in der materiellen Basisstruktur des Lebendigen, wie die Gene sie präsentieren, nichts Dingliches im Sinne der alten Stoffontologie mehr angetroffen wird, sondern die purste Form von informierter und informierender Information - denn Gene sind nichts anderes als "Befehle" für die Synthese von Eiweißmolekülen. Es ist klar, daß das traditionell ausgelegte personale Subjekt in diesen Vorgängen nichts mehr von dem wiederfindet, woran es ontologisch gewohnt war -- weder die Selbstseite, wie sie sich traditionell darstellte, noch die Dingseite, wie man sie kannte. Deswegen scheint es ihm, es sei mit dem Ernstfall von Antihumanismus konfrontiert: es kommt ihm vor,als tue sich der schärfste Gegensatz auf gegen das humanistische und olympische Programm, sich als menschliches Subjekt oder Geist-Person die Welt heimatlich anzueignen und ihre Äußerlichkeit ins Selbst zu integrieren. Es sieht im Gegenteil jetzt so aus, als solle das Selbst ohne Rest in die Dinglichkeit und Äußerlichkeit versenkt werden und dort verloren gehen.
Aber natürlich ist auch diese Schreckensvorstellung nur eine hysterische Illusion und als solche das Negativ der falschen metaphysischen Grundeinteilung des Seienden. Der Mensch als reflektierende und konstruierende Macht ist nicht eine Instanz, die zwischen Ganz-bei-sich-Sein und Ganz-außer-sich-Sein wählen müßte. Er kann sich ebensowenig zwischen totaler Selbstdurchleuchtung und völliger Selbstverfehlung entscheiden wie zwischen totaler Sammlung und definitiver Zerstreuung. Er ist eine regionale Möglichkeit von Lichtung und eine lokale Möglichkeit von Sammlung. Der Mensch ist eine relativ intensive Wahrheits- und Machtsammelstelle, aber kein All-Sammler: das ergibt den nach-metaphyischen Logos- und Dichtungs-Begriff, der eines Tages wohl als Heideggers folgenreichste Idee verstanden werden wird; er gibt den Übergang zu der Deleuzeschen Lehre von den Vielheiten frei. Das ist es, was der Denker des "Seyns" in seinem langwierigen Widerstandsgefecht gegen Hegels Ideologie des absoluten Geistes und deren humanistische Kopien herausgearbeitet hat. Im Brief über den Humanismus heißt es hierzu:
"Das Denken überwindet die Metaphysik nicht, indem sie es, noch höher hinaufsteigend, übersteigt und irgendwohin aufhebt, sondern indem es zurücksteigt in die Nähe des Nächsten... Der Abstieg führt in die Armut der Ek-sistenz des homo humanus... Die Wahrheit des Seins denken, heißt zugleich: die humanitas des homo humanus denken." [5]Der Passus ist bemerkenswert, nicht nur, weil er Heideggers Denunzianten ins Unrecht setzt, die seinen vorgeblichen "Antihumanismus" nie genug anklagen können; er bietet den Ausgangspunkt eines Verständnisses von menschlicher Existenz als einer noblen Schwäche und einer lokalen Dichtungskraft. Dasein ist eine Passion des Ungeheuren. Die Armut der Ek-sistenz ist nicht die Weltarmut des Tieres, sondern die einfache Ausgesetztheit ins Ungeheure. Hier begegnet uns ein Heidegger, der näher bei Augustinus ist und bei Pascal als bei Hegel und Husserl. Im übrigen kann man diese Sachverhalte auch in einer eher nietzscheanischen Sprache ausdrücken, man würde dann sagen, daß der Mensch ein Kraftvektor ist oder eine Raffung oder eine Kompositionschance.Die antitechnologische Hysterie, die weite Teile der westlichen Welt im Griff hält, ist ein Verwesungsprodukt der Metaphysik, weil sie an falschen Einteilungen des Seienden festhält, um sich gegen Prozesse aufzulehnen, in denen diese Einteilungen überwunden sind. Sie ist im wesentlichen Sinn des Wortes reaktionär, weil sie das Ressentiment der überholten Zweiwertigkeit gegen die unverstandene Mehrwertigkeit ausdrückt. Das gilt vor allem für die Gewohnheiten der Machtkritik, die immer noch unbewußt metaphysisch motiviert sind. Im metaphysischen Schema spiegelt sich die Spaltung des Seienden in Subjekt und Objekt wider in dem Gefälle zwischen Herr und Knecht sowie dem zwischen Arbeiter und Material. So kann innerhalb dieser Disposition Machtkritik nur als Widerstand der unterdrückten Objekt-Knecht-Material-Seite gegen die Subjekt-Herr-Arbeiter-Seite artikuliert werden. Aber seit der Satz "es gibt Information", alias "es gibt Systeme", in Kraft ist, verliert diese Opposition ihren Sinn und entwickelt sich mehr und mehr zu einem Konfliktphantom. Die Hysterie ist in der Tat die Suche nach einem Herrn, um gegen ihn aufstehen zu können. Es ist nicht ausgeschlossen, daß der Effekt Herr längst im Begriff ist sich aufzulösen und vor allem als Postulat des rebellisch fixierten Knechts weiter lebt - als historisierte Linke und als musealer Humanismus. Demgegenüber müßte ein lebendiges Prinzip links sich durch schöpferische Dissidenz immer wieder neu erweisen, ebenso wie das Denken des homo humanus sich nur im poetischen Widerstand gegen die metaphysischen Reflexe der Humanolatrie behaupten kann.
Den homo humanus denken bedeutet, wie gezeigt, die Ebene offenlegen, auf der die Gleichung von Menschsein und Lichtung gilt. Die Lichtung aber ist, wie wir jetzt wissen, nicht ohne ihre technogene Herkunft zu denken. Der Mensch steht nicht in der Lichtung mit leeren Händen - nicht als ein mittelloser wacher Hüter neben der Herde, wie es Heideggers pastorale Metaphern suggerieren. Er hat Steine und Steine-Nachfolger in der Hand. Je mächtiger er wird, desto eher läßt er die Werkzeuge, die noch Griffe haben, fallen, und ersetzt sie durch Werkzeuge, die Tasten haben. Im Zeitalter der zweiten Maschinen tritt das "Handeln" zugunsten von Fingerspitzenoperationen zurück. [6] Der Menschen- und Menschheitsbrutkasten wird durch Techniken des harten Mittels erzeugt und durch Techniken des weichen Mittels klimatisiert. Nous sommes sur un plan où il y a principalement la technique. Wenn "es" den Menschen gibt, dann weil eine Technik ihn aus der Vormenschheit hat hervorkommen lassen. Sie ist das eigentlich Menschen-Gebende oder der Plan, auf dem es Menschen geben kann. Daher geschieht den Menschen nichts Fremdes, wenn sie sich weiterer Hervorbringung und Manipulation aussetzen, und sie tun nichts Perverses, wenn sie sich autotechnisch verändern, vorausgesetzt diese Eingriffe und Hilfen geschehen auf einer so hohen Ebene von Einsicht in die biologische und soziale Natur des Menschen, daß sie als authentische, kluge und gewinnende Koproduktionen mit dem evolutionären Potential wirksam werden können.
Diese Erkenntnis hat Karl Rahner in einer christlichen Sprache artikuliert, als er betonte, daß "der Mensch der heutigen Autopraxis" von einer Freiheit der "kategorialen Selbstmanipulation" Gebrauch macht, die aus der christlichen Befreiung vom numinosen Naturzwang entsprungen sei. Nach der Aussage des Jesuiten Rahner gehört es zum Ethos des mündigen Menschen, sich selbstmanipulativ gestalten zu sollen und wollen:
"Er muß der operable Mensch sein wollen, auch wenn Ausmaß und gerechte Weise dieser Selbstmanipulation noch weithin dunkel sind ... Aber es ist wahr: die Zukunft der Selbstmanipulation des Menschen hat schon begonnen." [7]Man kann dieselbe Einsicht in der Sprache einer radikalisierten historischen Anthropologie ausdrücken, indem man die menschliche Situation durch ihren Hervorgang aus einer autoplastischen Luxusentwicklung interpretiert. In dieser bleibt Plastizität eine Grundwirklichkeit und eine unausweichliche Aufgabe. Aber man muß sich jetzt davor hüten, die neuerdings möglich gewordenen anthropoplastischen Operationen, von der Organtransplantation bis zur Gentherapie, weiterhin unter der Optik falscher metaphysischer Einteilungen aufzufassen - etwa so als wollte immer noch ein subjektivischer Herr eine objektivische Materie versklaven - oder, schlimmer noch, sich selbst zu einem Überherren weiterbilden, der über eine noch tiefer unterworfene Materie gebietet. Das Schema vom Herrensubjekt, das über eine dienende Materie Macht ausübt, besaß eine nicht zu leugnende Plausibilität im Zeitalter der klassischen Metaphysik und ihrer simplen zweiwertigen Politiken und Techniken. Es ist für dieses Zeitalter tendenziell wahr gewesen, daß der subjektivische Herr, wenn er Werkzeug einsetzte, die Objekte versklavte und ihre Eigennatur kaum achtete, zumal wenn diese selbst Menschen waren, die ihrerseits auf Subjektivität oder Herrenfreiheit einen Anspruch anmelden konnten. Hieraus entsteht ein Bild von Technik, das von den einfachen Werkzeugen und den klassischen Maschinen abgelesen ist: Sie sind der Sache nach allesamt allotechnische Mittel, sofern sie gewaltsame und kontranaturale Einschnitte in das Vorgefundene ausführen und Materien für Zwecke verwenden, die diesen gleichgültig oder fremd sind. Im alten Begriff der Materie ist immer schon mitgedacht, daß sie aufgrund von minimalen, letztlich widerstrebenden Eignungen in heteronome Verwendungen eingeht. Diese veraltete Technik versetzt die Dingwelt in einen Zustand von ontologischer Sklaverei, gegen den sich die Intelligenz seit jeher aufgelehnt hat, wenn sie imstande war, für die Andersheit der nur äußerlich benutzten und verdrehten Dinge Partei zu ergreifen. Daraus entspringt im Zeitalter des Zwangsidealismus die emanzipatorische "materialistische" Option. Allenfalls gibt es in den Sphären des alten Handwerks Hinweise darauf, daß die Weisheit von Meistern darin besteht, die Dinge nicht zu zwingen. Von den Meistern des Denkens ist es wohl Spinoza gewesen, der am luzidesten darauf hingewiesen hat, wie das Anknüpfen der Macht am Potential der Sachen sich ohne Wahn und Zwang vollziehen soll: "Wenn ich beispielsweise sage, daß ich mit diesem Tisch machen kann, was ich will, so meine ich doch wahrlich nicht, daß ich das Recht habe, den Tisch zu einem Ding zu machen, das Gras frißt." [8] Im allotechnischen Raum sind äußerste Situationen immer solche, in denen Kämpfe um den bevorzugten Zugang zu Vergewaltigungs- und Vernichtungsmitteln stattfinden. Das Bewußtsein vom Extremen entsteht hier durch Einsicht in die Kämpfe der Vergewaltiger und ihrer Opfer.Auf der Stufe des Satzes "es gibt Information" verliert das alte Bild von Technik als Heteronomie und Versklavung von Materien und Personen seine Plausibilität. Wir werden Zeugen dessen, daß mit den intelligenten Technologien eine nicht-herrische Form von Operativität im Entstehen ist, für die wir den Namen Homöotechnik vorschlagen. Diese kann ihrem Wesen nach nichts ganz anderes wollen als das, was die "Sachen selbst" von sich her sind oder werden können. Die "Materien" werden nun von ihrem Eigensinn her konzipiert und von ihren maximalen Eignungen her in Operationen einbezogen - sie hören damit auf, das zu sein, was traditionell als "Rohstoff" bezeichnet zu werden pflegte. Rohstoffe gibt es nur dort, wo Rohsubjekte - sagen wir ruhig Humanisten und andere Egoisten - Rohtechniken auf sie anwenden. Die Homöotechnik kommt, weil sie es mit real existierender Information zu tun hat, nur noch auf dem Weg der Nicht-Vergewaltigung des Seienden voran; sie greift Intelligenz intelligent auf und erzeugt neue Zustände von Intelligenz; sie hat Erfolg als Nicht-Ignoranz gegen verkörperte Qualitäten. Sie muß, auch wo sie egoistisch und regional eingesetzt wird wie jede konventionelle Technik, auf ko-intelligente, ko-informative Strategien setzen. Sie hat eher den Charakter von Kooperation als den von Herrschaft, auch bei asymmetrischen Beziehungen. Einige herausragende Naturwissenschaftler der Gegenwart drücken verwandte Vorstellungen unter der Metapher vom "Dialog mit der Natur" aus. Von der Seite der Humanwissenschaften her hat Foucault statuiert, daß man dem Zwang und der Chance, mächtig zu sein, nie entgeht - er löst auf diese Weise den metaphysisch geknüpften Knoten der Machtkritik. Hier keimt eine Denkweise auf, die in den modernen Kunstphilosophien, insbesondere bei Adorno, vorweggenommen ist - allerdings noch immer unter irreführenden Titeln wie "Primat des Objekts" -, und die jetzt darauf wartet, auch von der Technikphilosophie und vor allem von der Gesellschaftstheorie und ihren Popularisatoren nachvollzogen zu werden. Techniken entwickeln heißt künftig: in den Partituren der verkörperten Intelligenzen lesen und deren eigenen Stücken zu weiteren Aufführungen verhelfen. Die äußersten Situationen der Homöotechnik sind Ernstfälle der Ko-Intelligenz. In ihnen wird enthüllt, daß das Subjekt des zweiwertigen Zeitalters, der vormalige Herr, zum Phantom geworden ist. Bevor dies nicht auf breiter Basis verstanden wurde, werden desinformierte Bevölkerungen unter der Wortführung von lasziven Feuilletonisten verzerrte Debatten über unverstandene Drohungen führen. [9]
Technik, hat Heidegger gelehrt, ist eine Weise der Entbergung. Sie holt Ergebnisse ans Licht, die von ihnen selbst her so nicht an den Tag gekommen wären. Man könnte sie darum auch als eine Weise der Erfolgsbeschleunigung bezeichnen. Wo Techniken den Konflikt zwischen Kulturen und Unternehmen prägen, entstehen die Wettbewerbe, die Geschichte machen. Die Geschichte gibt die Zeitform vor, in der Menschen zunehmend mit Antizipationen arbeiten und sich in Situationen bringen, in denen sie nicht warten können, daß die Dinge von selbst geschehen. Daher gibt es eine charakteristische Korrespondenz zwischen Herstellungstechnik und Wirtschaftsunternehmen einerseits, zwischen Ethnotechnik und Krieg andererseits. Für Unternehmer und Feldherren kommt es darauf an, Erfolgswettbewerbe mit Konkurrenten und Feinden zum eigenen Vorteil zu entscheiden. Sie sind dazu verurteilt, früher als andere intelligent werden zu wollen. Aber sie machen sich in der Regel nur bis zu dem Grad intelligenter, der dem aktuellen Stand des aufgeklärten Egoismus entspricht. Sie können nicht aus der Beziehung von Rohsubjekt und Rohstoff ausbrechen.
Solange dies zutrifft, ist auch die Homöotechnik - Intelligenzbeschleunigung par excellence - vom Problem des Bösen berührt, wenn dieses sich jetzt auch nicht mehr so sehr als der Wille zur Versklavung von Dingen und Menschen darstellt, sondern als der Wille zur Benachteiligung des anderen im kognitiven Wettbewerb. [10] Es ist keine zufällige Beobachtung, daß die klassische Allotechnik liiert war mit der Denkform des Verdachts und mit kryptologischer Rationalität; ihr psychisches Sediment ist folgerichtig die Paranoia. Die Emergenz einer nach-paranoiden Vernunftkultur steht zwar auf der evolutionären Agenda der technisch und kommunikativ sehr avancierten Zivilisationen, aber sie wird verzögert durch mächtige Trägheiten aus dem Zeitalter der Zweiwertigkeit und ihres Vergewaltigungshabitus im Umgang mit Seiendem überhaupt. Den stärksten Beitrag für die Annahme, daß die argwöhnische Gestimmtheit auch in Zukunft die realitätsgerechte ist, haben die US-amerikanischen Strategen im August 1945 geliefert, als sie es nicht unterließen, die äußerste allotechnische Waffe, die Atombombe, unmittelbar gegen Menschen einzusetzen. Sie haben damit dem Argwohn gegen die Allianz von Höchsttechnologie und Niedrigsubjektivität ein epochales Argument in die Hand gegeben. Wegen Hiroshima haben die Menschen Grund, an die Hemmungslosigkeit der avanciertesten Technologen zu glauben und den Oppenheimern und Trumans der Genetik zu mißtrauen. Diese Eigennamen resümieren die Tatsache, daß ein Weltalter lang Rohsubjekte und Allotechniken zueinander gepaßt haben. [11] Von der Furcht vor dieser Konstellation sind auch die Diskurse diktiert, die prophezeien, die Gene würden als Rohstoffe des biotech century dieselbe Rolle spielen wie die Kohle in der industriellen Revolution. [12] Solche Reden gehen von der Unterstellung aus, daß die zwischenmenschlichen wie die menschlich-sachlichen Beziehungen sich für alle Zeit nach dem historischen Muster der zweiwertigen Herrschaft oder der primitivsubjektiven Verfügung über entfremdete Materien gestalten müßten.
Die Triftigkeit und Zukunftsgemäßheit der gewachsenen Furchthaltungen gilt es zu prüfen. Aus der Komplexität der Sachen selbst drängt sich die Vermutung auf, daß die allotechnischen Gewohnheiten im homöotechnischen Bereich nicht mehr greifen werden. Die genetischen Partituren werden mit Vergewaltigern nicht zusammenarbeiten - ebensowenig wie die offenen Märkte sich bloßen Herrenlaunen fügen. Man darf sogar fragen, ob nicht das homöotechnische Denken - das bisher unter Titeln wie Ökologie und Komplexitätswissenschaft angekündigt wurde - das Potential besitzt, eine Ethik der feindlosen und herrschaftsfreien Beziehungen freizusetzen. Es trägt ohne Zweifel virtuell diese Tendenz in sich, da es von sich her weniger auf Verdinglichung des Anderen als auf Einsicht in die internen Bedingungen des Mitseienden angelegt ist. Während in der allotechnischen Welt herrische Subjekte noch über Rohstoffe gebieten konnten, wird es in der homöotechnischen Welt zunehmend unmöglich, daß Roh-Herren über Feinst-Materien Macht ausüben. Auch nehmen die stark verdichteten Kontexte der vernetzten Welt herrische Inputs nicht mehr günstig auf - hier kann sich nur erfolgreich ausbreiten, was zahllose andere zu Mitgewinnern von Innovationen macht. Würden sich diese zivilisierenden Potentiale geltend machen, so zeichnete sich das homöotechnische Zeitalter dadurch aus, daß in ihm die Spielräume der Irre enger werden, während die Spielräume der Befriedigung und des positiven Anknüpfens wachsen. Die Biotechniken und Nootechniken ziehen von sich her ein verfeinertes, kooperatives, mit sich selbst spielendes Subjekt heran, das sich am Umgang mit komplexen Texten und überkomplexen Kontexten formt. Das Herrische muß tendenziell ganz aufhören, weil es sich als Rohheit unmöglich macht. In der vernetzten, inter-intelligent verdichteten Welt haben Herren und Vergewaltiger kaum noch längerfristige Erfolgschancen, während Kooperateure, Förderer und Bereicherer zahlreichere und adäquatere Anschlüsse finden. Nach der Abschaffung der Sklaverei im 19. Jahrhundert zeichnet sich für das 21. oder 22. die Abschaffung der herrischen Relikte ab - doch niemand wird glauben, daß dies ohne intensive Konflikte geschehen kann; es ist nicht ausgeschlossen, daß sich das reaktionäre Herrische noch einmal mit den Massen-Ressentiments zu einem neuartigen Faschismus verbünden wird. Aber das Scheitern solcher revolutionärer Reaktionen ist ebenso vorhersehbar wir ihre Heraufkunft.
In einer Welt, in der die Kontextverdichtung weiter fortschreitet, ist es nicht ausgeschlossen, daß sich die von den kritischen Geistern oft verspotteten Grundworte der platonischen Ontologie: Alles Seiende ist gut, das Böse ist nur eine Abwesenheit des Guten, auf eine überraschend veränderte Weise und mit verschobener Bedeutung bewahrheiten - es sei denn, die Adorno-Doktrin, das Ganze oder der Kontext ist das Unwahre, behielte die Oberhand. Man müßte die platonischen Prinzipien lediglich in die intelligenz-ökologischen Grundsätze überführen: Das überwiegend Böse wirkt selbsteliminierend, das überwiegend Gute wirkt selbstausbreitend und selbstfortsetzend, das überwiegend Neutrale erzeugt genug Redundanz, um Kontinuität zu sichern.
Was gegen eine solche aufgehellte Sicht der Dinge spricht, ist der erwähnte Umstand, daß das Erbe der Zweiwertigkeit und der strategisch-polemologischen Paranoia seinen Schatten auch weit ins Kommende wirft. Die über ein Weltalter gewachsenen Gewohnheiten und Zwänge zur vergewaltigenden Einteilung komplexer Verhältnisse lösen sich nicht über Nacht auf; die Kulturen, in denen der Verdacht und das Ressentiment an der Macht sind, gedeihen regional weiter, auch wo ihre Erfolge nur noch schimärisch sind. Alt- und neu-egoistische Identitätskonstrukte tun das Ihre dazu, die generösen Potentiale zu blockieren, die vom Denken der Mehrwertigkeit, der Vielheiten und der Homöotechnik entbunden werden könnten. Solange dies gilt, bleibt die Vulgarität anschlußfähiger als es ihr zukommt. Sie bewirkt, daß immer noch Rohsubjekte nach der Verfügung über Rohstoffe streben - obwohl es beides nur noch in reaktionären Stellungen geben kann. Die Reaktion bleibt deswegen eine Weltmacht. Muß man betonen, daß es an der schöpferischen Intelligenz liegt, die Reaktion zu widerlegen?
Unter solchen Prämissen ist es kein Zufall, daß man den aktuellen Wettlauf um das Genom und seine wirtschaftliche Ausbeutung als einen kognitiven Krieg beschreibt. Er wäre im äußersten Fall wieder nichts anderes als die Machtausübung von Rohmenschen über Rohmaterialien - das heißt verschleppte Irre und festgehaltene falsche Einteilung des Seienden. Es ist zu erwarten, daß dieser Habitus sich schon mittelfristig durch Mißerfolge widerlegt. Wie in allen Kriegen verstärkt der strategische, egoistische und rohe Gebrauch der Intelligenz die Verheimlichung des Wissens. Sie gibt dem argwöhnischen Habitus neue Nahrung. Aber auf der Basis von Argwohn und Verheimlichung sind hochverdichtete Kontexte, wie avancierte Technikkulturen es sind, nicht anhaltend betriebsfähig. Für die metaphysische Ära ist der Satz Pascals tendenziell wahr, daß der Mensch den Menschen unendlich übersteigt - in dieser Epoche ist nichts so heftig wie die Empfindung, der Mensch sei noch nicht, was er werden kann und die Skala seiner Sublimierung sei nach oben offen. In der nach-metaphysischen Periode zeigt sich eher das Bild, daß der Mensch den Menschen anhaltend unterbietet - er tut dies mit einem Anschein von Berechtigung, solange andere Unterbieter ihn zwingen, mit ihnen in Unterbietungswettbewerbe einzutreten. Daß mit der nachklassischen Technik - wie mit den autentischen Künsten - der bessere Wettbewerb schon begonnen hat, ist erst einer Minderheit bewußt.
Wenn Kapitale und Imperien nach der Information greifen, gerät der Weltlauf zunehmend zu einer Art Gottesurteil der antagonistischen Intelligenzen über sich selbst. Nicht zum ersten Mal wird den Menschen der Entscheidungscharakter ihres Intelligenzgebrauchs vor Augen gestellt. In einem Schlüsselwort des zweiwertigen Zeitalters hieß es:
Wie kann man die Wahl des Lebens wiederholen in einer Epoche, in der die Antithese von Leben und Tod dekonstruiert wurde? Wie wäre ein Segen zu denken, der über die vereinfachte Entgegensetzung von Fluch und Segen hinauskäme? Wie wäre ein Neuer Bund in der Komplexität zu formulieren? In Fragen wie diesen spricht die Einsicht mit, daß dem modernen Denken keine Ethik gelingt, solange ihm seine Logik und seine Ontologie weiterhin unklar bleiben."Den Himmel und die Erde rufe ich heute als Zeugen gegen euch an. Leben und Tod lege ich dir vor, Segen und Fluch. Wähle also das Leben, du und deine Nachkommen." [13]Fußnoten
- Über den Humanismus, a.a.O. S.30,31.
- Immerhin wartet diese Lösung auf halber Höhe darauf, auf voller Höhe - ist sie möglich? - noch einmal verteidigt zu werden. Vgl. Alain Badiou, Le recours philosophique au poème, in: ders. Conditions, Paris 1992, S. 93-107.
- Nach der kritischen Seite hin entsprechen dem Derridas und Nietzsches ontologische Thesen: "Dekonstruktion geschieht"; "die Wüste wächst".
- Der erste Fall liegt vor, wenn z.B. Jürgen Habermas meint, sich gegen das auflehnen zu müssen, was er die "Sklaverei der Gene" nennt; der zweite Fall, wenn Ernst Tugendhat es für nötig hält, zu sagen, es gebe "keine Gene für die Moral"; beide zugleich, wenn Robert Spaemann aus der Sicht des katholischen Personalismus die Menschenwürde gegen die als Gentechnik verstandene "Anthropotechnik" verteidigen will.
- A.a.O. S. 42, 43.
- Dieses Motiv hat vor allem Vilém Flusser in die Diskussion gebracht.
- Karl Rahner, Experiment Mensch. Theologisches über die Selbstmanipulation des Menschen, in: Die Frage nach dem Menschen. Aufriß einer philosophischen Anthropologie, Festschrift für Max Müller zum 60. Geburtstag, Freiburg/München 1966, S.53. Ich danke Rafael Capurro für den Hinweis auf diesen außerordentlichen Text.
- Spinoza, Tractatus politicus IV,4.
- Schon 1993 hat Dominique Lecourt vor Pseudodebatten über die Gentechnik gewarnt mit der Bemerkung: "Man stellt sich nicht eindringlich genug die Frage, ob man diese Verfahren nicht letztendlich im Sinne einer Zunahme der Freiheit nutzen könnte." D.L. im Gespräch mit Roger-Pol Droit, Le monde, 1.Juni 1993.
- Der US-Stratege Edward N. Luttwark stellt das "geo-ökomonischen Wettrüsten" zwischen den Wirtschaftsmachtblöcken (USA, Japan, Europa) als die gefährlichste und wahrscheinlichste Entwicklung des 21. Jhd.s dar .
- Zu ihnen gesellen sich Namen wie Jurij Ovtschinnikow, Vizepräsident der sowjetischen Akademie der Wissenschaften, der Breschnjew vom Nutzen einer umfangreichen Bio-Waffenproduktion überzeugte. Im Unterschied zur Nuklearwaffe sind Biowaffen nie im Krieg gegen Menschen zum Einsatz gekommen. Man darf erwägen, ob dies nicht den sinkenden Grenznutzen allotechnischer Perversion anzeigt.
- So Jeremy Rifkin in seinem gleichnamigen Buch, in dem er für die Chance einer biotechnisch ermöglichten neuen Renaissance-Kultur plädiert.
- 5.Buch Moses, 30, 19, Neue Jerusalemer Bibel.