Nr. 20/2000
Eine Gesamtschule in einem alten Arbeiterviertel, das gerade den Rückzug der örtlichen Großindustrie zu verkraften hat. Der Klassenlehrerin einer fünften Klasse fällt auf, dass einer ihrer Schützlinge häufig verprügelt wird. Und dass das Kind ein typisches "Opferverhalten" an den Tag legt: Also einerseits Stärkere provoziert, sich aber andererseits kaum zu wehren weiß. Ein Anruf bei der Mutter soll klären, ob man dem Jungen helfen kann. Ob er zu Hause Schwierigkeiten hat, die sein Verhalten in der Schule beeinflussen. Die hat er allerdings. Seine beiden älteren Brüder, sagt die Mutter, steckten ihm gelegentlich den Kopf ins Klo: "Aber da halt ich mich raus."
Da halt ich mich raus: Selten geht die Unempfindlichkeit von Eltern so weit wie in diesem Fall. Aber aus der Perspektive der Schule markiert der Satz einen Trend: Eltern ziehen
sich aus ihrer Erziehungsverantwortung zurück. Natürlich nicht alle Eltern, natürlich nicht an jeder Schule, nicht in jedem Milieu. Doch offenbar interpretieren etliche Mütter und Väter das allgemeine Gerede von der Dienstleistungsgesellschaft dahingehend, dass es Sache der Lehrer sei, die Kinder zu erziehen: Schließlich würden sie dafür bezahlt.
Repräsentativität ist bei Streifzügen durch die Schulen kaum herzustellen: Zu groß sind die Unterschiede zwischen Schularten und Bundesländern, Stadt und Land, Wohngebieten unterschiedlicher Qualität. Doch bestimmte Phänomene (unsere Beispiele stammen sämtlich aus Schleswig-Holstein) tauchen mit einer Regelmäßigkeit in den Berichten der Lehrer auf, die aussagekräftig sein dürfte.
"Das große, unauffällige Mittelfeld wird zugunsten der Extreme kleiner", sagt der Rektor einer Grund- und Hauptschule in einem kleinbürgerlichen Stadtteil: "Ein Teil unserer Kinder ist vollkommen überbehütet, ein anderer Teil ist verwahrlost." Die Verhätschelten werden zur Schule gefahren und aufmerksam auf je- des Anzeichen von Krankheit untersucht. Die Verwahrlosten kommen ohne Frühstück, ohne warme Kleidung, ohne Arbeitsmaterialien in die Schule. Beiden Gruppen werden zu Hause - vermeintliche Liberalität hier, Unfähigkeit dort - kaum Grenzen gesetzt. Solche Kinder, sagt der Rektor, zeigten häufig eine geringe Frustrationstoleranz, seien empört, wütend und enttäuscht bei allem, was ihnen in der Schule misslinge. Eine Gesamtschullehrerin drückt es drastischer aus: "Diese Kinder sind eine Belastung, aber nicht belastbar." Sie prügelten und beschimpften Mitschüler, brächen aber selbst beim geringsten Anlass in Tränen aus. "Und sie können nicht zuhören, weil zu Hause niemand ist, der ihnen zuhört", sagt eine von drei Sozialpädagoginnen, die an derselben Gesamtschule für problematische Einzelfälle zuständig ist: "Manchen von ihnen fehlt jede Fähigkeit, sich in andere Menschen hineinzuversetzen."
Die Einzelbetreuung von Kindern, die den Unterricht massiv stören, gehört bei immer mehr Grund-, Haupt- und Gesamtschulen zum Standard: Die Kinder empfinden Extrastunden in den "pädagogischen Inseln" durchaus nicht als Strafe: Sie sind vielmehr glücklich, dass sich endlich jemand um sie kümmert. Doch der Einsatz von Sozialpädagogen und Betreuungslehrern ist eine Kostenfrage.
Auch an Gymnasien gibt es Formen von Verwahrlosung
Für den normalen Unterricht bedeutet die Verdreifachung der Problemkinder, dass beispielsweise die Deutschstunde in einer fünften Hauptschulklasse zur Dressurnummer wird: Etliche Kinder sind nicht in der Lage, den 45-Minuten-Takt auch nur annähernd durchzuhalten: Sie stehen auf, gehen umher, summen vor sich hin, piesacken ihre Tischnachbarn. Vier Jungen haben Schwierigkeiten, ihre Gesichtszüge unter Kontrolle zu halten: Sie grimassieren, lassen ihre Zungen heraushängen. Zwei Kinder sind übernächtigt. Nahezu alle haben Probleme mit dem Vorlesen. Die eigentliche Aufgabe, nämlich Teile der Geschichte von der Arche Noah in die richtige Reihenfolge zu bringen, bewältigen die wenigsten. "Es gibt ein Intelligenzproblem und ein Verhaltensproblem", sagt die Klassenlehrerin. "Einige Kinder hier gehörten eigentlich auf die Sonderschule. Andere wachsen zu Hause quasi wild auf, ohne alle Umgangsformen." Seit in den Medien viel von Hyperaktivität die Rede sei, könne man beobachten, wie sich Problemeltern dieses Erklärungsmuster für die Schwierigkeiten ihrer Kinder zu eigen machten: Statt etwas an ih- rem eigenen Erziehungseinsatz zu ändern, zögen sie sich darauf zurück, ihr Kind sei krank. Es brauche Medikamente, nicht sorgsamere Behandlung.
Einzelne Sonderschulen werden in diesem Bundesland im Namen der "Integration" zurückgebaut, selbst schwierigste Kinder besuchen die normale Hauptschule. Ganz schwere Fälle von Verhaltensstörungen können diese Schulen dann nur noch an die Kinderpsychiatrie abgeben. Vorher lassen sich die Pädagogen durchaus einiges einfallen. Im Fall eines gewalttätigen Sechstklässlers erreichte eine Hauptschule in Zusammenarbeit mit dem Jugendamt, dass die Eltern des Jungen in jeder Pause antreten und ihr Kind auf dem Schulhof beaufsichtigen mussten. Solche unkonventionellen Lösungen erfordern eine enge Kooperation mit der örtlichen Jugendhilfe. Häufig scheitert sie an Zeitmangel - und an Kommunikationsschwierigkeiten zwischen den unterschiedlichen pädagogischen Professionen. Ein Großteil der Lehrer versteht sich nach wie vor als Fachlehrer, die in erster Linie Wissen zu vermitteln hätten. Und in der Tat können Kinder, gerade die benachteiligten, auf dieses Wissen nicht verzichten. "Ich wende aber in meinen Unterstufenklassen mehr Zeit für Erziehungsaufgaben als für den eigentlichen Unterricht auf", sagt eine Gesamtschullehrerin. Besonders zeitraubend sei der Kampf um Konzentration. Deren größte Feinde heißen "Übermüdung" und "Fernsehen".
Auch die Einübung der berüchtigten Sekundärtugenden Pünktlichkeit und Höflichkeit fällt zunehmend in die Zuständigkeit der Schule. "Man sollte diese Dinge nicht unterschätzen", sagt ein Realschulrektor: "Die Arbeitgeber, mit denen wir in Kontakt stehen, signalisieren uns, wie viel Wert sie darauf legen. Der äußere Eindruck ist oft wichtiger als die Noten."
Massive Disziplin- und Verhaltensprobleme mögen in erster Linie in schwierigen sozialen Verhältnissen auftreten. Doch die Auswirkungen eines vermeintlich liberalen, in Wirklichkeit aber gleichgültigen Erziehungsstils lassen sich auch an Gymnasien beobachten: zum Beispiel in der Form von Markenterror und Alkoholexzessen. Manche Eltern, die das Wochenende, natürlich ohne Kinder, in ihrem Ferienhaus auf Sylt verbringen, füllen den häuslichen Kühlschrank mit Aldi-Champagner, damit die teureren Flaschen im Keller unangetastet bleiben.
Je weniger auch die privilegierten Eltern bereit sind, ihren Kindern Zeit zu widmen und sich mit ihnen auseinander zu setzen, desto schlechter sind deren Chancen, urteilsfähige Erwachsene zu werden. Eine Deutsch- und Geschichtslehrerin an einem Gymnasium in einem teuren Villenvorort beschreibt die mangelnde Kritikfähigkeit ihrer Schüler: "Ich kann ihnen jede noch so irrsinnige Quelle vorlegen - sie sagen dann: Ja, seltsam, aber wenn das die Meinung des Autors ist ..." Von zu Hause brächten die Schüler immer seltener die Fähigkeit mit, zwischen einer Meinung und einem Argument zu unterscheiden.
Der Befund der schwindenden Erziehungsbereitschaft aus Gesprächen mit Lehrern in einer Region ist notwendig lückenhaft; es wird viele Gegenbeispiele geben. Dennoch täte die (bildungs)politisch interessierte Öffentlichkeit gut daran, die sich abzeichnende Krise der Erziehung ernst zu nehmen - vielleicht so ernst wie jene Zustände, die unter dem Stichwort "Bildungskatastrophe" in den sechziger Jahren Anlass zu einem der größten Reformprojekte der Bundesrepublik gaben. Wie die staatlichen Institutionen für diesen Fall aufzurüsten wären, lässt sich immerhin grob umreißen: Die Ganztagsschulangebote müssten ausgebaut werden - wenn es aus Kostengründen nicht anders geht, zunächst an sozial benachteiligten Standorten. Betreuungslehrerstunden sind dringend notwendig, aber sie dürfen nicht zu Lasten des Fachunterrichts verrechnet werden. Der Rückbau der Sonderschulen sollte einer Revision unterzogen werden: Dient er wirklich den schwächsten Schülern, oder etikettiert er als "Integration", was in Wahrheit eine Sparmaßnahme ist?Wenn es nicht mehr durchsetzbar ist, dass Eltern ihre Kinder vernünftig ernähren, brauchen die Schulen Kantinen - und Unterricht in Ernährungslehre. Wenn Eltern ihren Kindern nicht mehr beibringen können, dass man andere Kinder nicht zusammenschlägt, brauchen die Lehrer andere Strafen als schriftliche Verweise - zum Beispiel Bewegung an frischer Luft unter sportpädagogischer Anleitung.
Wenn dem Markenterror in den Elternhäusern kein Riegel vorgeschoben wird, kann man über Schuluniformen nachdenken - wie über alles, was einem formlosen, unstrukturierten Dasein ein Gerüst einzieht. Wenn schließlich in manchen Familien eine geradezu gewalttätige Vernachlässigung herrscht, braucht der Staat bessere Interventionsmöglichkeiten, um die Eltern zur Erfüllung ihrer Erziehungspflicht zu zwingen.
All dies kostet Geld. Und wird, mit wie viel Engagement die Schulen sich auch zu Erziehungsanstalten wandeln, immer nur eine Hilfslösung bleiben. Es führt kein Weg daran vorbei: Eltern müssen ihre Kinder selbst erziehen. Keine Ehekrise, keine Arbeitsüberlastung, keine Pseudoliberalität, keine Unwissenheit sind eine Entschuldigung dafür, es nicht zu tun.
© beim Autor/DIE ZEIT 2000 Nr. 20
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