Nr. 20/2000
Manfred Knöpke ist ein Macher. Ob es um die Zukunft seiner Frau geht, um seine Futtermittelexporte oder um die deutsche Schlagerbranche: Knöpke ist überall zur Stelle, wo eine ordnende Hand gebraucht wird. Im Büro neben dem heimischen Klinkerbungalow zückt er den Organizer, sucht ein paar Handynummern zusammen, greift zum Telefon, redet sehr viel und sehr schnell. Dann führt er durch das Gaby-Baginsky-Zimmer, einen fensterlosen Raum voller Plattencover, Goldmedaillen und Erinnerungsfotos aus dem Heidepark Soltau. Gaby Baginsky ist Schlagersängerin und Knöpkes Ehefrau, ein wenig älter schon, aber noch gut im Geschäft: Hier eine Gala, da ein Betriebsfest, ab und zu ein Möbelhaus. "Für uns macht das keinen Unterschied", sagt Knöpke, "die Möbelhäuser haben heute alle eine super Anlage. Und es kommen ohnehin dieselben Leute."
Wahrscheinlich muss man solche Sätze sagen, wenn man Präsidiumsmitglied der ADS ist, der Arbeitsgemeinschaft deutscher Schlager, die sich seit 1997 - von Bad Bentheim aus - um das Image des heimischen Liedgutes müht. Das ist derzeit wieder einmal bedroht. Und zwar durch Leute, die sich lustig machen über Wunder gibt es immer wieder und damit auch noch Geld verdienen. Deren Titel öfter im Radio gespielt werden als die von Gaby Baginsky. Leute, die Guildo Horn heißen, Dieter Thomas Kuhn und Stefan Raab. In solchen Zeiten ist das Engagement von Manfred Knöpke besonders gefragt. Es sei "diskriminierend" zu behaupten, schreibt er in der Zeitschrift ADS Intern, dass der deutsche Schlager "nur noch von Opas und Omas gehört" werde und "alles, was damit zu tun" habe, "dumm, dämlich und nicht zu gebrauchen" sei.
Dabei würde "das Stück heile Welt, das der Schlager beschreibt", heute mehr denn je benötigt: "Die Leute haben das Gefühl, dass nichts mehr Bestand hat, dass alles um sie herum kaputtgeht." Die Zeitungen seien voll mit Worten wie Globalisierung, Arbeitslosigkeit und Werteverfall. "Da ist man froh", sagt Knöpke, "wenn man mal was von ewiger Liebe hört."Und das schlechte Image des Schlagers? "Das kommt nicht vom Schlager selbst", stellt Funktionär Knöpke klar, "sondern von Veranstaltungen wie dem Grand Prix." Da tritt Deutschland mit dem Titel namens Wadde hadde dudde da von Stefan Raab an. Wer soll so was ernst nehmen?
"Hans-Peter, sag doch auch mal was!" Hans-Peter Semmelmeier-Mersmann ist Pressesprecher des ADS und als solcher sehr diplomatisch. "Wir akzeptieren alle Künstler, jedenfalls solange sie uns auch akzeptieren."
Faltenlose 33, paillettenbesetzter Anzug, lockerer Hüftschwung, dieser Mann könnte ein Schlagerstar sein. Jedenfalls vertritt Stefan Raab, Zoten-König von ProSieben, die Nation bei Europas wichtigstem Schlagerwettbewerb, Ende dieser Woche in Stockholm. Was der Mann wirklich ist und was seine Musik, weiß keiner so genau. Am wenigsten sein Volk.
Die Fachzeitschrift TV Movie hat eigens eine repäsentative Umfrage finanziert, um die Stimmung vor den Fernsehgeräten zu erfühlen. 51 Prozent der Befragten finden es "überhaupt nicht gut", dass Raab für Deutschland stammeln darf.
Aber er darf, denn seine Fangemeinde hat es so gewollt. Sie hat bei der Vorentscheidung die Telefonzentralen blockiert. Sie hat dafür gesorgt, dass der süße Gospel der blinden Corinna May, Raabs schärfster Konkurrentin aus der seligen alten Schlagertradition, auf Platz zwei landete. Nur jene, die die Tragweite ihres Tuns nicht erfassen, halten das Ganze für einen Scherz, um "ein bisschen Action in diesen langweiligen Wettbewerb zu bringen", wie die Raab-Gemeinde in Münster zu Protokoll gibt.
Hinter der simplen Entscheidung für oder gegen Raab scheint ein Konflikt von religiöser Dimension auf. Die Raabisten glauben die Wiedergeburt des deutschen Schlagers zu erleben, die Anti-Raabisten seinen Untergang.
Erstere halten sich für eine Spaßguerilla, die den Muff von fünfzig Jahren in der Hitparade lüftet; die den schlechten Geschmack gesellschafts- und feuilletonfähig macht und Goethes Heimat zu Trash und Tiefkultur bekehrt.
Letztere sehen sich als Bastion der wahren Gefühle und ehrlichen Herzen, hinter der niemand für schlichte Strophen und noch schlichtere Melodien verhöhnt wird. Schon gar nicht durch ein Lied, das den sprachlichen Reichtum der Teletubbies bietet.
"Wadde hadde im Land von Goethe und Schiller, da krieg ich Magenkrämpfe", sagt Dieter Thomas Heck, einst der deutsche Schlager-Conferencier im Land von Cindy und Bert.
Und Ralf Siegel, der seit mehr als zwanzig Jahren die Deutschen das Träumen gelehrt und Rex Gildo, Roland Kaiser und Nicole Melodien in den Mund gelegt hat, sah sich und seinen Schützling Corinna May verraten: "Da treten Künstler mit einem Anspruch an, und es gewinnt der, der sich über alles lustig macht. Das find ich moralisch nicht fair." Siegel fühlt sich wie der Gast bei einer Silberhochzeit, die plötzlich von Halbstarken gesprengt wird. Früher, sagt er, seien alle eine große Familie gewesen. Jetzt sei "die Eintracht empfindlich gestört".Jahrzehntelang war in Deutschland klar, was ein Schlagersänger ist - ein nettes, gut frisiertes Geschöpf, das von kleinen Sehnsüchten und großen Gefühlen singt. Das die Fantasien braver Ehefrauen und ebensolcher Ehemänner anregt und ein bisschen Glamour in ihren Alltag bringt. Von all dem aber bitte nicht zu viel! Denn der Schlager sollte nur von einer besseren Welt erzählen, aber keine Anleitung zum Aufbruch dorthin sein.
Die Experimentierfreude hatten schon die Nazis der Branche ausgetrieben, denn, so wusste Joseph Goebbels, "die Mehrzahl aller Rundfunkteilnehmer wird vom Leben sehr hart und unerbittlich angefaßt". Hart und unerbittlich erschien vielen Deutschen auch das Radioprogramm nach dem Krieg: amerikanischer Swing und Jazz aus Militärsendern. Weshalb bald im Äther die Restauration einsetzte. Deutsche Komponisten besannen sich auf "die Heimat". Das war nichts Selbstverständliches, denn "Heimat" musste erst aus Ruinen neu erschaffen werden - und so führte die Suche der Schlagersänger nicht an einen realen Ort, sondern "nach innen, in das deutsche Gemüt", wie der Buchautor Andre Port le roi schreibt (Schlager lügen nicht).
Heimweh brachte Freddy Quinn seine erste Goldene Schallplatte. Mit dem Heideröslein erblühte Friedel Hensch. Ein eigenes Genre, der "Teeny-Schlager", domestizierte den amerikanischen Rock 'n' Roll für das Adenauer-Deutschland, und Peter Kraus (Wenn Teenager träumen) schmachtete sich zum ersten männlichen Bravo-Starschnitt.
In den Sechzigern wurden die Texte aufmüpfiger: Katja Ebstein bekannte sich zur Ostpolitik der SPD (Ein kleines Lied vom Frieden); Peter Maffay besang die Affäre einer 31-Jährigen mit einem 16-Jährigen (Es war Sommer); Udo Jürgens kämpfte für die wilde Ehe (Das ehrenwerte Haus); Bernd Clüver riss sogar das Tabu der Homosexualität nieder (Mike und sein Freund). Doch egal wie die Zeitläufte sich gebärdeten, niemals vergaßen die Interpreten die Grundregeln der Zunft.
Erstens: Nimm deine Themen und deine Fans ernst.
Zweitens: Im Schlager gibt es für jedes Problem eine Lösung.
Daran hielten sie sich bis vor ein paar Jahren - mochten derweil noch so viele Junge den Schlager als spießige Schnulze schmähen. In wunderbarer Einigkeit trauerten die Traditionalisten über nachlassende Verkaufszahlen, über den Bedeutungsverlust und sahen einem friedlichen Tod des Genres entgegen.Bis, ganz langsam, die Umwertung aller Werte begann, aus Spießigkeit Kult wurde und Schlager in Wohngemeinschaft und Rockclub Aufnahme fanden. Zum Beispiel in Tübingen Mitte der Neunziger. Im "Weilheimer Kneiple". Dort trat ein Mann auf, den das Berufsleben nicht auslastete. Dieter Thomas Kuhn knetete unter der Woche verspannte Körper und träumte dabei vom Wochenende, der Zeit der Musik. Er sang in einer Soulband im Tübinger Bioladen-Milieu.
Dort war die Stimmung immer harmonisch, und alle hatten sich unheimlich gern. Als sich bei einem der Auftritte wieder Lagerfeuer-Atmosphäre auszubreiten drohte, probte die Band den Protest: Sie sang einen deutschen Schlager. Das Publikum meuterte. Darauf noch einen. "Das war für uns eine Form von Punk", sagt Kuhn - Schlager als Provokation der politisch korrekten Soulgemeinde.
Für ihr nächstes Konzert ließen sie sich mit Föhnwellen und Schlaghosen fotografieren. Kneipenwirte weigerten sich, die Plakate aufzuhängen. Sie sangen trotzdem. Und reisten nach Hamburg, zur Mitternachtsshow im Schmidts Tivoli, dem Varieté der Schwulen und Hippen. Im Publikum saß ein Reporter vom Spiegel. Wenig später unterschrieben Kuhn und seine Band einen Vertrag bei einer großen Plattenfirma. Was in Tübingen anfangs furchtbar erschien, war andernorts furchtbar gut.
Dann starteten sie zur ersten Deutschlandtournee. Auf der Bühne knöpfte Kuhn sich das Haifischkragen-Hemd auf, um sein Brusthaartoupet vorzuzeigen. Die Fans sollten Büstenhalter und Kuschelbärchen auf die Bühne werfen, sollten mitsingen, Teil der Show werden. Und sie taten es, in der Hamburger Markthalle und im Berliner Huxley's, in der Münchner Muffathalle und im Düsseldorfer Tor 3 - überall dort, sagt Kuhn, "wo sich die Rockszene aufhielt". Bierzelte, Schlagerdiscos und Fernseh-Hitparaden - auch der Grand Prix - waren tabu. "Wir hatten schließlich mit der Schlagerszenerie nichts zu tun."
Dabei bedienten sie sich fleißig in deren Archiv. Mit vibrierender Stimme, schluchzenden Gitarren und Hammondorgel gaben sie Michael Holms Mendocino, Costa Cordalis' Anita, Peter Maffays Es war Sommer und all die anderen Lieder zum Besten, die sie in den siebziger Jahren aus dem elterlichen Wohnzimmer vertrieben hatten. "Schlager, das war für uns Spießermusik", sagt Kuhn, heute 35 - die Musik der Angepassten, die sich für den Hypothekenkredit krumm legten und nach Feierabend vor der Fonotruhe von Liebe und Italien träumten.
Damals hatte er nichts Eiligeres zu tun, als aus der ländlichen, geordneten Welt seiner Kindheit auszubrechen. Er zog nach Tübingen, das ihm wie eine Großstadt vorkam, und übte seine Stimme. Als in einem Proberaum irgendjemand aus Jux einen Schlager intonierte, fielen ihm jene verhassten Lieder ein, die er als Jugendlicher unfreiwillig mit anhören musste. "Die Musik deiner Kindheit - die wirst du nicht mehr los", sagt Kuhn. "Damit musst du irgendwie umgehen."
Kuhns Haartollen-Persiflage traf den Nerv einer ganzen Altersgruppe. Weltdeuter werden diese Menschen später einmal die "Generation Tübingen" nennen. Sie plünderten den Kleiderschrank der Eltern und grölten Ti amo, statt wie Mama und Papa leise mitzusummen; sie sprangen wild herum, statt selig zu schunkeln. Das war keine Kampfansage an das Schlagerdeutschland der Tiefkühltorten und Tupperpartys. Die "Hossa"-Rufe klangen milde, ein bisschen belustigt. So, wie die Kinder des Pillenknicks heute über ihre Eltern reden: mit Nachsicht und leiser Wehmut. Diese Ado-Gardinen, diese Eau-de-Cologne-Tanten beim Sonntagskaffee! Aber eigentlich war das Wochenende zu Hause bei Muttern immer ganz gemütlich.
Es ist die Familienatmosphäre, und es sind die billigen Konsumprodukte aus der Kindheit, der Braune Bär von Langnese, die Yps-Hefte und die Brausetütchen, die nun im Kuhnschen Liede wieder aufleben. "Seine Konzerte sind wie ein Abend mit B-Movies, vom Kulturamt gesponsert", schwärmt ein Fan, Typ Germanistikstudent. "Du kannst in aller Öffentlichkeit Trash genießen und hast nicht das Gefühl, ein Banause zu sein."
Das hat man nun davon: Jahrelang hat die SPD an der idealen Bildungsreform gebastelt, die den Menschen vom Sachbearbeiter über den zweiten Bildungsweg geradewegs in die Toskana beförderte. Nun staute sich die junge Generation in den Hörsälen und sehnt sich nach Sixpacks und El Arenal. Und will sich nicht mal schämen. Der Trick heißt Trash: Was gestern noch schlechter Geschmack war, kann morgen schon Kult sein. Der Aldi-Einkauf heißt plötzlich Smart Shopping, billig wird cool. Der Ford Granada mutiert zur Szene-Schleuder, spießig wird in. Macho-Proll Zlatko, der Mann aus dem Big Brother-Container, philosophiert sich zum Star, einfältig wird hip.
Was da passiert, ist wissenschaftlich schwer zu fassen. Ein kleines Rätsel des Alltags. Was geadelt wird und wann, ist nicht vorhersehbar. Ebenso wenig, wann es wieder absinkt in sein altes Umfeld. Sicher ist nur: Es dauert nicht lange.
Getrieben wird das Ganze von einem zutiefst menschlichen Bedürfnis: sich abzuheben von der Masse. Nach oben wird das immer schwerer, seit Tipps über Medoc-Weine und Rezensionen über die drei Tenöre auch in der Bild-Zeitung zu lesen sind. Nach unten ist die Skala noch offen. Und überhaupt: Wer entscheidet denn heute noch, was oben und was unten ist?
Die Bühnen wurden größer und Kuhn ein Star. Wenige Monate ist es erst her, da beendete Dieter Thomas Kuhn sehr plötzlich seine Karriere - mit einem symbolischen Akt: Er ließ sich in der Stuttgarter Schleyer-Halle die Föhnwelle abrasieren. Die Figur Dieter sei ausgereizt, erklärte er dem versammelten deutschen Feuilleton. Nichts Neues sei mehr von ihr zu erwarten. Kuhn hatte verstanden: Er war inzwischen von Trash-Figuren umzingelt.
Zeit für eine schnelle Retrospektive des Retro-Mannes. Soeben hat das Tübinger Kulturamt eine Ausstellung im Stadtmuseum über die Lebensgeschichte dieses großen Sohnes gesponsert: "Basierend auf den Strategien der Ambivalenz und Affirmation ließ DTK (Dieter Thomas Kuhn) den Rezipienten über Wert und Bewertung seines umstrittenen musikalischen Materials und deren pointierter Aufführungspraxis völlig im Unklaren." Das hat kein Musiksoziologe geschrieben, sondern Kuhn. Für sich. Zum Abschied. Titel der Ausstellung: Zum Dankeföhn.
Es ist April 2000, die Halle im saarländischen Losheim ist nicht geheizt, und der Kaffee ist auch alle. Im Hinterzimmer hängen Lokführer-Uniformen, Kellen und Wimpel. Hier treffen sich sonst die Freunde der Bahn. Jetzt steht neben den Vitrinen ein Schrankkoffer, gefüllt mit Paillettenhemden, Anzügen in Bonbonfarben und Silberstiefeletten. "Nu zieh dich mal um, Jung', wir woll'n anfangen", mahnt der Bassist der Orthopädischen Strümpfe. Guildo Horn schält sich aus dem Norweger und greift in den Schrank: ein Girlie-Hemdchen im Vierfarbdruck, Anzughose mit Schlag, darüber ein Tigerfell-Tanga. "Peinlich? Gut."
Er springt auf die Bühne, wie ihn das Land seit dem Grand Prix 1998 kennt: zotteliges Resthaar, Schmerbauch, Pädagogenlächeln. Einer, den ein Fitness-Studio dringend adoptieren müsste. Zur Begrüßung sind die Fans "sympathische Menschen" und Losheim ein "Ort, der es wert wäre, dass die Welt mehr von ihm wüsste". Alle jubeln, keiner lacht. Der Mann ist nett, dem nimmt man das ab.
Horn streift den Tiger-Tanga ab, nicht sexy, sondern einfach so. "Tun so, als ob", singt er dabei. Kein Remake eines alten Schlagers, ein neues Lied mit schluchzenden Gitarren. Dann ein Kinderlied:
"Ich mach Bubu,
du machst Bubu,
vor unsrem Bettchen stehn die Schuh,
ich mach Bubu,
du machst Bubu,
wir machen unsre Äuglein zu."
Der Saal fällt in Rührung, die Feuerzeuge glühen.
Ist das Ironie? Meint der Mann das so?
"Kann jeder für sich entscheiden", sagt Horn, "für mich ist es beides zugleich." Auch der wildeste Punker habe Sehnsucht nach Mama und Nussecken - Sentimentalitäten, die er, wie der Akademiker Guildo im feinsten Seminardeutsch formuliert, "in meinen Konzerten rituell ausleben kann, ohne sich dazu bekennen zu müssen".
Ironie oder Ernst: Im kollektiven Gefühlstaumel zu Losheim sind Schlagerfan und Parodist nicht mehr zu unterscheiden. Mädchen in Blumenblusen und Schlaghosen tanzen Pogo, ein Vater hebt den Nachwuchs auf die Schulter, Männer mit Glatzen und schwarzen Lederanzügen schwenken Wunderkerzen und Bierflaschen. Quer durch den Saal huscht der nass geschwitzte "Meister" und intoniert sein Glaubensbekenntnis: Piep, piep, piep, Guildo hat euch lieb.
Das weiß inzwischen jeder. Zwei Jahre ist es her, dass ein ganzes Land im Horn-Fieber lag. Das war vor dem Grand Prix. Kameraleute filmten Guildo Nussecken mampfend am mütterlichen Küchentisch, Journalisten baten täglich um sein Statement zum Werteverlust in der Gesellschaft, zur Jugend und zur Globalisierung. Man nannte ihn einen "Bruder im Geiste Gerhard Schröders", und das Wort zum Sonntag lobte seinen "Kreuzzug der Zärtlichkeit". Dabei tat Horn, wie er sagte, die ganze Zeit nichts anderes als "ausschlafen, frühstücken und singen", in 180 Mehrzweckhallen, Clubs und open air. 12,6 Millionen Zuschauer - dreimal so viel wie im Jahr zuvor - verfolgten die Endausscheidung in Birmingham. Guildo wurde zwar nur Siebter. Aber das Bild vom verzottelt infantilen Deutschen hat sich den Europäern eingeprägt.
Im Rückblick wirken die Konflikte um Horns Auftritt wie die Generalprobe zu Raabs Sängerkrieg. Dieselben Fronten, dieselben Protagonisten. Gunter Gabriel und Juliane Werding warnten vor Horn und malten Schreckensszenarien. Altmeister Ralph Siegel, der selbst drei Hoffnungsträger zur Vorentscheidung aufbot, sprach von "Wettbewerbsverzerrung", weil die Bild-Zeitung sich zu Horns Werbeträger machte. Auch eine große Hamburger Wochenzeitung, in ihrem Feuilleton sonst ein Refugium der Hochkultur, stimmte in den Jammer-Chor ein: "Nicht immer, aber immer öfter vereinigen sich Kapitalakkumulation und Eventkultur zum doppelten Körper der politischen Macht."
Irgendwie haben die Kulturkritiker ihre liebe Müh mit diesem postmodernen Gesamtkunstwerk. Ist er naiv? Oder nur geschickt, der Mann, bei dem alles geht und alles gilt? Jedenfalls ist er keiner, der sich einfach lustig macht wie vor ihm Dieter Thomas Kuhn. Keiner, der bloß Retro ist, sondern neue Schlager singt und reklamiert, dass er es aus inniger Liebe tut. Er spielt nicht nur den schlechten Geschmack, man muss fürchten, dass er ihn tatsächlich hat.
"Wir mögen ihn, weil er so ist wie wir", sagt Jeffrey Förtsch aus Bad Laer, Vorsitzender des "Freundeskreises Guildo Horn", des offiziellen Fanclubs. "Ganz normal halt." Das ist Guildos Aura, kalkuliert oder nicht: Von der Bühne aus vermittelt er allen da unten das Gefühl, dass es keine Rolle spielt, ob jemand gebildet ist, schön und stilvoll. Jeder Serien-Glotzer kann etwas Besonderes, jeder Schulabbrecher Star sein. Spätestens damit mutierte Trash vom Szene- zum Massenphänomen.
Doch Trash ist ein flüchtiges Phänomen. Die Masse ist schnell da und schnell woanders. Guildos neue CD verkauft sich schlechter als die vorige. Seine Tournee führt ihn in diesem Jahr durch Orte, die auf manchen Deutschlandkarten gar nicht verzeichnet sind: Weinsheim und Hagen im Teutoburger Wald. Horn sei, so glaubt der Pop-Philosoph Diedrich Diedrichsen, "eine traurige Gestalt, die an Bedeutung verliert", weil man ihr "die ironische Interpretation des Schlagers" nicht mehr abnehme.
Man kann die Sache anders sehen - wie Horn, der den nachlassenden Rummel für ein gutes Zeichen hält: "Man sieht in mir nichts Außergewöhnliches mehr. Ich und meine Musik sind Teil des Alltags dieser Republik geworden."
Der Ausnahmezustand heißt Grand Prix. Es ist wieder Endausscheidung, Stefan Raab singt für Deutschland. Wieder steht zu befürchten, dass es eine große unverstandene Nation mitten in Europa geben wird. Wadde hadde dudde da: Wer kann das übersetzen? Wer verstehen? Die Sequenz stammt aus dem Jargon der Subkultur.
Hier wird keine Wunschwelt mehr kreiert, sondern ein Zitat aus der Großstadtgesellschaft verarbeitet. Es fiel im Park, im Hundehalter-Milieu. Der Barde Stefan Raab belauschte eine Dame, deren Hund ein unbekanntes Objekt im Maul führte: "Wadde hadde dudde da?"
"Zum Lachen oder lächerlich?", rätselte Bild, wie zwei Jahre zuvor, als das Blatt die Zeile "piep, piep, piep" zu deuten hatte. Alles wie damals? Am Ende ein neuer Guildo, nur ordentlich frisiert?
Wer Stefan Raab sucht, wird ihn in deutschen Mehrzweckhallen nicht finden. Auch nicht in Rockclubs. Nirgends, wo öffentlich Musik gemacht wird. Stefan Raab ist der erste virtuelle Schlagerstar: Er ist kein Sänger, der Konzerte gibt und deswegen ins Fernsehen kommt; er singt, weil er im Fernsehen ist. Eine Kunstfigur des Multimedia-Zeitalters, die es ohne Bildschirm gar nicht gäbe. Er ist alles, aber nichts ganz: Entertainer, Moderator, Comedy-Star, Schlagersänger. Seine Wirklichkeit ist ein Studio, und seine Sendung heißt TV total.
Immerhin werden ein paar echte Menschen hereingelassen in die Witzfabrik am Kölner Adenauerplatz. Keine Müslis wie bei Kuhn oder Familien wie bei Horn, sondern fröhliche Jugend aus der Mountainbike-Generation. Darauf achten schon die beiden Bodybuilder, die vor dem Aufnahmestudio Türsteher spielen.
Das Konzept von TV total ist einfach: Die blödesten Szenen aus einer Woche Fernsehen werden recycelt und deren Protagonisten Raab live zur neuerlichen Demontage ins Studio geworfen. Heute sitzt Ali auf dem himmelblauen Studiosofa, ein magerer Teenager mit Buffalos, weißen Plateausohlen-Turnschuhen. Ali ist bei Vera am Mittag aufgefallen, weil er schief und unbefangen ein Liebeslied vorgetragen hat.
Genauso unbefangen schwärmt er jetzt von Vera, der Talkshow-Herrin mit der starken Oberweite: "Sie hat eine wunderschöne Ausstrahlung." - "Bist du spitz?", will Stefan Raab wissen. Ali hat die Frage nicht verstanden. "Du hast Schwierigkeiten in der Schule, stimmt's?" Ali ist mit den Gedanken woanders. Gleich steht sein großer Auftritt an: Er soll noch einmal so singen wie bei Vera. "Dem müsste mal einer die Wahrheit über sich sagen", raunt eine Frau, während sie ihm eine Kusshand zuwirft. "Ali! Ali!", grölen die anderen. Ali lächelt geschmeichelt und hebt die Hand zum Siegeszeichen. "Immer fleißig lernen", gibt ihm Raab auf den Weg. "Sonst landest du noch bei Big Brother."
Spott galt bei Dieter Thomas Kuhn nur abwesenden Älteren; Guildo Horn hat allein sich selbst auf die Schippe genommen; Stefan Raab dagegen führt jeden vor. Besonders wenn er wehrlos und dumm ist. Aber das schadet keinem, seit Dummheit cool ist. Und Shakespeare ein Filmemacher von Zlatkos Gnaden. Der Sieg des niedrigsten gemeinsamen Nenners im antielitären Kampf um die Quote. "Ich hoffe", sagt Stefan Raab auf ProSieben, "die RTL-Zuschauer unter ihnen können mir noch folgen."
Raabs letzter Hit vor Wadde hadde ... hieß Maschendrahtzaun, die Vertonung eines Nachbarschaftsstreits in einer sächsischen Kleinstadt, der in der Sat.1-Gerichtsshow Ein Fall für Barbara Salesch, verhandelt worden war.
"I'm a sexmachine, baby,
I had more girls than James Brown,
and I fucked them all
on the Maschendrahtzaun."
Da bleibt kein Raum für Interpretationen. Mit Stefan Raab hat die Andeutung den Schlager verlassen. Wie harmlos war da doch der Tigerfell-Tanga, wie rührend-naiv das Bubu von Horn! Wie nett hat er gespielt mit dem Kitsch, dem Banalen, wie freundlich hat er Dummheit inszeniert! Aber jetzt - jetzt wird es ernst. Maschendrahtzaun schaffte locker den Sprung in die Top-Ten-Charts. Ballermann goes mainstream, Raab ist Kult und Harald Schmidt aufgestiegen in die E-Kultur.
Eigentlich wäre dies ein guter Zeitpunkt für ein bisschen Frieden. Eigentlich könnte der Grand Prix zum Versöhnungsfest für Schlager-Deutschland werden. Es gibt sogar schon einen, der sich angeboten hat, die Lager zu versöhnen; einen, der "Menschen liebt" und weiß, dass "das Schubladendenken keinen Sinn mehr macht".
Uwe Hübner, 39, ist Moderator der ZDF-Hitparade. Seit neun Jahren präsentiert er freundlich die Interpreten des klassischen Liedgutes, Gaby Baginsky, Andrea Jürgens, Roland Kaiser, und wünscht der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Schlager "viel Kraft" für deren unermüdlichen Einsatz zum Wohle des deutschen Schlagers. Manchmal wird er traurig, wenn er sieht, dass "wir die Herzen der Menschen nicht mehr erreichen".
Gleichzeitig kritisiert er "den Puder, die Männerfreundschaften und Charaktermasken" und ist voll des Lobes für "das Gesamtkunstwerk" Stefan Raab: "Genial, wie der die Sprachlosigkeit auf den Punkt gebracht hat." Keine Untergangsstimmung? Nein, das, was gerade passiere, sei eher "ein reinigendes Gewitter".
Ein Mann, der zwischen den Fronten steht. So einer hat Visionen. Künstlerische. Gewagte. Sogar eine Sendung könne er sich vorstellen, gesteht Hübner, in der "Udo Jürgens, die Wildecker Herzbuben und Raab auftreten".
Sein revolutionäres Gedankengut hat er auch schon der Öffentlichkeit unterbreitet. Doch dort wurde er nicht verstanden. Die Neue Revue, Fachorgan der Volksseele, schimpfte ihn einen "selbstgefälligen Nachfolger der Hitparaden-Legende Dieter Thomas Heck", die Einschaltquoten der Hitparade sanken, und am Ende fand sich Hübner auf einem bescheidenen Vorabend-Sendeplatz wieder.
Und es wurde noch schlimmer: Als der Moderator, leicht angeschlagen, es auch noch wagte, die "knallharte Branche" anzuprangern, in der "Stars in Möbelhäusern auftreten müssen", ging bei ihm per Telefon eine Morddrohung ein. Wenig später versuchte ein Wagen, ihn von der Straße abzudrängen.
Der deutsche Schlager meint es eben ernst.
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Links zu diesem Thema:
Absolut inoffizielle Dieter-Thomas-Kuhn-Homepage
http://www.mogmog.de/dtk/
Raab-Fans
http://www.raab-fans.de/
Guildo-Horn-Freundeskreis
http://www.guildos-welt.de/
ADS - Arbeitsgemeinschaft Deutscher Schlager e.V.
http://www.ads-schlager.de/
Das Schlagertext-Archiv
http://alf.zfn.uni-bremen.de/~vegas/archiv.html
Prevezanos Online
http://online.prevezanos.com/
EBU TV activities / Eurovision Song Contest 2000
http://www.ebu.ch/tv/cec_frm.html
OGAE Germany - Der Fanclub zum Eurovision Song Contest
http://www.ogae.de/
Grand Prix D'Eurovision 2000
http://www.grandprix2000.de/
Eurovision Song Contest - Stockholm
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TV Total Online - Grand Prix
http://www.tvtotal.de/div/grandprix/index.html
Das Erste-Grand Prix 2000
http://www.ndrtv.de/grandprix/
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