Wie viele Gene braucht das Leben?

Der nächste Streich des Craig Venter: Blaupausen für Bakterien
 Von Heinz Horeis

Seit Wochen beherrscht der amerikanische Genforscher Craig Venter die Schlagzeilen. Seine Ankündigung, er habe bereits 99 Prozent des menschlichen Erbguts entschlüsselt und stehe nun kurz vor dem nächsten Schritt, der Analyse (und Patentierung) der gefundenen Daten, versetzt Forscher, Politiker und Börsenspekulanten in helle Aufregung. Wissenschaftler diskutieren die Verlässlichkeit von Venters Angaben, Staatsoberhäupter warnen vor einem Informationsmonopol, Broker reiben sich angesichts steigender Kurse die Hände.

Bei der ganzen Aufregung um das menschliche Genom ist ein anderes Projekt des manischen Forschers beinahe aus dem Blickfeld geraten: die Konstruktion des kleinsten Genoms der Welt.
Die Mycoplasmen sind die einfachsten bisher bekannten Lebewesen. Die Parasiten wurden in Pflanzen und Tieren, aber auch beim Menschen gefunden. "Mycoplasma pneumoniae" besitzt 677 Gene, "Mycoplasma genitalium" nur 517. Ist damit die Grenze des genetischen Minimalismus erreicht? Forscher in aller Welt suchen nach der Antwort
Wegen dieses umstrittenen Vorhabens rückten einige Kritiker Venter bereits in die Nähe von Frankenstein. Wie die besessene Romanfigur, so wolle auch Venter Leben im Labor erschaffen. "Ein Jahrhundert nach Mendel, Jahrzehnte nach der Entdeckung der DNA und drei Jahre nach Dolly ist das Hiroshima der genetischen Forschung überfällig, die ureigene ethische Krise", kommentiert das amerikanische Fachjournal The Sciences in seiner aktuellen Ausgabe und fragt: "Spielen die Biologen Gott?"

Dabei ist das Projekt ursprünglich rein akademischer Natur. Was Venter und seine Kollegen wie auch andere Forscher in aller Welt suchen, ist das minimale Erbgut, die kleinste Zahl an Genen, die ein Lebewesen benötigt, um sich vermehren und ernähren zu können. Im Erfolgsfall wäre damit der Kern des Lebens gefunden, die kleinste genetische Ausstattung, mit der Leben funktioniert.

Wie dieses kleinste Genom aussehen könnte, darüber spekulieren Wissenschaftler schon seit Jahren. Die ersten Experimente führte der japanische Biologe Mitsuhiro Itaya in den Labors von Mitsubishi durch. Anfang der neunziger Jahre nahm er sich das Bakterium Bacillus subtilis vor und schaltete nach dem Zufallsprinzip eine Reihe von Genen aus, bis sich das Bakterium nicht mehr vermehren konnte. Auf der Basis dieser Daten errechnete Itaya eine minimale Ausstattung von 256 Genen.

1995 gelang es einer Arbeitsgruppe an Venters Institute for Genomic Research (TIGR), das erste Erbgut eines Lebewesens vollständig zu entschlüsseln, die 1800 Gene des Bakteriums Hämophilus influenzae. Wenig später veröffentlichte TIGR das Genom eines weiteren Winzlings - Mycoplasma genitalium, eines harmlosen Parasiten, der in den menschlichen Genitaltrakten und Atemwegen lebt. Dieses Bakterium besitzt nur 517 Gene und ist damit von allen bekannten Lebewesen dasjenige mit dem kleinsten Erbgut. Der Mensch ist mit geschätzten 80 000 bis 120 000 Genen wesentlich reicher bestückt. Dennoch, der winzige Parasit lebt. Er vermehrt sich, er besitzt einen einfachen Stoffwechsel und ein primitives Zellreparatursystem.

Einige Genforscher machten sich nun daran, das Erbgut von Hämophilus mit dem von Mycoplasma zu vergleichen. Ihre These: Gene, die in beiden Organismen auftreten, erfüllen vermutlich wesentliche vitale Funktionen und gehören damit zur minimalen Ausstattung des Lebens. Aus diesem Vergleich ergab sich für das minimale Genom eine Zahl von etwa 250 Genen, eine erste, wenn auch theoretische Bestätigung für Itayas Experimente.

Das TIGR-Team ging, ähnlich wie der Japaner, die Frage experimentell an. Die Forscher untersuchten das gerade entschlüsselte Mycoplasma genitalium. Dessen Genom ist etwa zehnmal kleiner als das von Bacillus subtilis und damit leichter zu handhaben. Mit einem speziellen Verfahren fügten sie DNA-Schnipsel in einzelne Gene ein und legten so die entsprechende Genfunktion lahm. Wenn die Zelle trotz des Eingriffs weiter wuchs und sich teilte, dann hatte die Attacke offenbar ein unbedeutendes Gen getroffen, das nicht zur Minimalmenge gehörte.

Wie die Forscher im Dezember vergangenen Jahres in der Zeitschrift Science berichteten, ergaben diese Versuche für die minimale Genausstattung, die eine Zelle zum Leben benötigt, einen Wert zwischen 265 und 350. Zur großen Überraschung der Genforscher enthält dieser Gensatz allerdings etwa hundert Gene, deren Funktion sie überhaupt nicht kennen. "Das stellt die gängige Annahme infrage, dass die molekularen Vorgänge, die dem Leben einer Zelle zugrunde liegen, im Großen und Ganzen bekannt sind", davon ist Claire Fraser, Leiterin des TIGR und Ehefrau von Craig Venter, überzeugt.

Doch das TIGR-Experiment hat eine entscheidende Schwäche. Wenn die Forscher ein Gen ausschalten, so folgt daraus nicht zwingend, dass sie damit auch die zugehörige Funktion treffen. Andere Gene können dessen Aufgabe übernehmen. So kamen die TIGR-Forscher vor etwa zwei Jahren zu dem Schluss, dass man den umgekehrten Weg einschlagen und das Genom im Labor von Grund auf zusammenbauen müsse.

Betreibt Genforscher Venter die Ethik nur zur Imagepflege?

Das hieße, erstmals Leben im Labor zu synthetisieren. Als Craig Venter sein Vorhaben auf einer Konferenz vorstellte, wurde er heftig attackiert. Venter beschloss, das Projekt erst einmal auf Eis zu legen und ethisch bewerten zu lassen, ein Schritt, den Genforscher Hans Lehrach, Direktor des Max-Planck-Instituts für molekulare Genetik in Berlin, für "maßlos übertrieben" hält. Schließlich, sagt der gebürtige Österreicher, sei das Projekt nur eine triviale Erweiterung dessen, was Genetiker bislang gemacht hätten.

Auch Venter ist vermutlich kaum an den ethischen Implikationen seiner Arbeit interessiert. Doch eine solche Diskussion kann dem Ansehen seines Unternehmens nur gut tun. Kritiker werfen dem Genforscher denn auch vor, er lasse die Ethik allein zur Imagepflege betreiben.

Der eigentliche Initiator der Debatte ist Arthur Caplan, Direktor des Zentrums für Bioethik der Universität von Pennsylvania. Caplan versteht es glänzend, die Nachfrage nach ethischer Unterfütterung von medizinischen und biologischen Problemen zu wecken - und zu erfüllen. Probleme behandelt er pragmatisch. "Ich suche keine ewigen Wahrheiten", sagt er. "Ich will Antworten auf heute drängende Fragen." Seit zwei Jahren ist der gelernte Mediziner und Philosoph im wissenschaftlichen Beirat von Celera Genomics, Venters neuem Forschungsinstitut. Er überzeugte Venter, dass man die ethische Diskussion über das Projekt führen solle, bevor das eigentliche Experiment beginnt.

Caplan brachte fünfzehn Wissenschaftler, Philosophen, Historiker und Vertreter der großen Religionen zusammen, die sich über nahezu zwei Jahre zu regelmäßigen Diskussionen trafen. Die Kosten übernahm TIGR, "ohne Auflagen", wie man im Unternehmen gern betont. Im vergangenen Dezember erschien der Abschlussbericht, ebenfalls in Science. "Die Möglichkeit, ein minimales und neues Genom zusammenzubauen, verletzt keine grundlegenden moralischen Regeln oder Grenzen", heißt es dort.

Damit haben die TIGR-Forscher zwar den ersehnten Segen für ihr Vorhaben, das Projekt aber liegt weiter auf Eis. Dafür gibt es, wie Scott Peterson vom TIGR-Team erläutert, zwei Gründe. Die Finanzierung sei noch nicht endgültig geklärt, vor allem aber wolle man einen weiteren Bericht der Ethik-Kommission abwarten. Caplan und seine Kollegen lassen gerade untersuchen, wie die Öffentlichkeit auf die TIGR-Pläne reagiert. "Uns liegt wenig daran, dass Leute mit Transparenten vor dem Institut aufmarschieren", sagt Scott Peterson und kann nur hoffen, dass in der Zwischenzeit keine andere Gruppe das Experiment beginnt.

Unterdessen ist eine wissenschaftliche Debatte um die Aussagekraft des Experiments entbrannt. Die Genetiker werden das neue Bakterium in zwei Schritten herstellen: Zunächst müssen sie das gewünschte Chromosom nachbauen. "Diese Synthese ist mittels bewährter Verfahren wie der Polymerasekettenreaktion durchaus machbar", meint Richard Herrmann vom Zentrum für Molekulare Biologie in Heidelberg. Herrmanns Arbeitsgruppe hat ein Bakterium sequenziert, das mit Mycoplasma genitalium eng verwandt ist und das die TIGR-Forscher ebenfalls für ihre Experimente benutzen.

Den zweiten und entscheidenden Schritt hält der Heidelberger Mikrobiologe für erheblich schwieriger, aber nicht für unmöglich: Das neue Erbgut kann nur in einer funktionsfähigen Zelle zum Leben erweckt werden. Die aber lässt sich (noch) nicht im Labor herstellen. Die Forscher müssen auf eine leere Bakterienhülle zurückgreifen. Leer bedeutet, dass sie zwar die zum Leben erforderlichen Enzyme und Proteine, aber keine DNA enthalten darf. "Das Problem ist nicht so sehr, wie man das neue DNA-Stück in die Zelle einbringt, sondern wie man die alte Zell-DNA restlos entfernt", sagt Herrmann.

Allerdings - auch wenn dieses zusammengepuzzelte Lebewesen schließlich wachsen und sich vermehren sollte, ließe sich nur bedingt vom "Leben aus der Retorte" sprechen. "Der wirklich schwierige Teil ist die Zelle", meint Hans Lehrach. "Die Frage aber, wie die Zelle zustande kommt, wird umgangen, indem man das Genom in ein existierendes Bakterium steckt." Deshalb sei es "reiner Blödsinn", von der Schaffung künstlichen Lebens zu sprechen. Auch Herrmann hält den "propagandistischen Effekt" des Vorhabens für größer als seinen wissenschaftlichen Nutzen.

Die amerikanischen Kollegen beurteilen das verständlicherweise etwas anders. Scott Peterson gesteht zwar zu, dass das Projekt kaum unmittelbaren medizinischen Nutzen bringen werde. Doch sei es für die Grundlagenforschung von großer Bedeutung. Auch Caplans Ethik-Kommission sieht in dem Vorhaben einen wichtigen Schritt für die Gentechnologie, da man Organismen aus der bloßen Kenntnis der Gensequenz erzeugen könnte. Craig Venter meint, dass das Experiment vor allem helfen werde zu verstehen, wie Zellen funktionieren. Aber auch kommerziell interessante Anwendungen könnten sich ergeben. "Vielleicht können wir Bakterien maßschneidern, die dazu beitragen, die Umwelt sauber zu halten, Schadstoffe zu beseitigen oder Medikamente herzustellen."

Die Idee solcher "Designer-Bakterien" ist in der Tat verlockend. Man hätte mit dem Minimalbakterium einen vermehrungsfähigen Träger, dem man mit maßgeschneiderten Genen jede gewünschte Eigenschaft verleihen könnte. Das aber müssen nicht unbedingt positive Eigenschaften sein. "Einer der Gründe, warum wir unser Experiment erst einmal gestoppt haben, war der, dass wir niemandem eine Formel für biologische Kampfmittel geben wollten", sagt Venter.

© beim Autor/DIE ZEIT 2000 Nr. 17
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