21/2000
"Alle Gestalten sind ähnlich, und keine gleichet der anderen; Und so deutet das Chor auf ein geheimes Gesetz, auf ein heiliges Räthsel"
Aus dem Lehrgedicht "Die Metamorphose der Pflanzen" von Johann Wolfgang von Goethe
(1798)
Die Ur-Formen des Lebens suchte der Naturforscher Johann Wolfgang von Goethe. Im Licht der modernen Genetik gewinnt seine Theorie unvermutet neuen Glanz
Es ist nahezu sicher, dass wir in fünf Jahren nicht nur das Erbgut verschiedener Menschen kennen werden, sondern auch die Genome unserer wichtigsten Haus- und Versuchstiere und einiger Getreidesorten wie Reis und vielleicht Mais. Dazu kommt vermutlich eine gruselige Galerie von Krankheitserregern sowie ein Potpourri allerlei seltsamer einfacher Organismen, zum Beispiel das Unkraut Arabidopsis, der Pufferfisch Fugu, Tintenfische und Manteltierchen (Tunicata). Nur Lebewesen mit besonders umfangreichem Erbgut werden bis auf weiteres unberührt bleiben ebenso wie solche, deren Genom reich an DNA-Abschnitten ist oder deren DNA-Sequenzen sich immer wiederholen und die damit die gegenwärtige Entschlüsselungsstrategie durcheinander bringen.
Aber was kommt danach? Was macht man mit einem vollständigen entschlüsselten Erbgut? Immer wieder betonen Wissenschaftler den Nutzen dieser Informationen für die medizinische Forschung, aber das ist nicht alles. Die Kenntnis der Genome könnte uns auch helfen, die großen Fragen des Lebens zu beantworten, die bisher von Biologen weitgehend unbeantwortet geblieben sind. Simple Fragen, wie sie Kinder ihren Eltern stellen: Wie bin ich entstanden? Wie kommt es, dass Menschen stets menschliche Babys bekommen, Affen aber immer kleine Äffchen? Wieso gibt es in der Fortpflanzung eine so erstaunliche Konstanz - und warum enthält die Welt dennoch eine so große Vielzahl verschiedener Arten?
Zur Beantwortung dieses Urrätsels könnte man bei Charles Darwin nachschlagen; doch man würde vergeblich suchen. Darwin studierte kleine Abweichungen im äußeren Erscheinungsbild der Spezies, betrachtete, welche dieser Variationen von der Umwelt begünstigt werden, und schlug die natürliche Auslese als denjenigen Mechanismus vor, der die gesamte Hierarchie der Lebewesen hervorbringt. Doch Darwins Konzept hatte eine entscheidende Schwachstelle: Es sagt genauso wenig über den Ursprung der Abweichungen aus wie über das Verhältnis von individueller Entwicklung und der Evolution ganzer Arten.
Wie entstehen aus individuellen Unterschieden neue Arten?
Der Erfolg des Darwinismus scheint so umfassend, dass es fast einem Schock gleichkommt, wenn man feststellt, wie dürftig die Darwinsche Sicht des Lebens wirklich ist. Im Lichte der modernen Genetik beginnt dagegen eine andere Theorie unvermutet in neuem Glanz zu strahlen: die Vorstellung des Juristen, Staatsmanns, Dramatikers, Schriftstellers und Wissenschaftlers Johann Wolfgang von Goethe von der grundlegenden Einheit allen Lebens.
Schon in der Antike hatten sich die Philosophen Aristoteles und Plato gefragt, ob nicht alle Arten auf eine Idealform oder einen Archetypus zurückzuführen seien, aus dem die Tiere und Pflanzen der Gegenwart entstanden sind. Das Universalgenie Goethe trieb diesen Gedanken entscheidend voran und prägte den Begriff Morphologie für die neue Wissenschaft von der reinen Form. In seinem 1790 entstandenen Hauptwerk der Botanik, der Metamorphose der Pflanzen, schrieb Goethe: "Ich habe (...) zu zeigen mich bemühet, daß die verschiedenen Teile der Pflanze, aus einem völlig ähnlichen Organ entspringen welches ob es gleich im Grunde immer dasselbe bleibt durch eine Progression modifiziert, und verändert wird." Zugleich warnte er vehement davor, sich von oberflächlichen anatomischen Vergleichen irreführen zu lassen und die Grenzen zwischen den Naturreichen zu verwischen. Stattdessen plädierte Goethe dafür, das Spezifische der organischen Entwicklung herauszuarbeiten. Aus diesem Grund suchte er nach Ureigenschaften und Urformen des Lebens. Erst aus diesen erschließe sich die eigentliche Verwandtschaft verschiedener Spezies, die den herkömmlichen Klassifikationsverfahren Linnéscher Prägung verschlossen geblieben waren.
In Frankreich vertrat Etienne Geoffroy Saint Hilaire ähnliche Ideen. Auch er befasste sich mit den tiefer liegenden Ähnlichkeiten zwischen oberflächlich so unterschiedlichen Lebensformen wie Mollusken, Insekten und Wirbeltieren. Geoffroy schoss allerdings in seiner Argumentation häufig über das Ziel hinaus, indem er Zeichen der Einheit des Lebens auch in Zufällen oder sehr unwahrscheinlichen Zusammenhängen zu sehen meinte. In einer Serie öffentlicher Debatten 1830 in Paris wurde Geoffroys These scharf von Georges Cuvier, dem Vorreiter der Paläontologie, angegriffen: Ähnlichkeiten zwischen Organismen könnten mindestens genauso gut auf vergleichbare Anforderungen wie auf gemeinsame Vorfahren hindeuten. Damit war Geoffroy erledigt.
Im Jahre 1859 schließlich veröffentlichte Darwin sein Werk On the Origin of Species. Allgemein wird angenommen, dass die Theorie der natürlichen Auslese sofort akzeptiert wurde und dass die gesamte Biologie in ihrem Licht vollends verständlich wurde. Weniger bekannt ist, dass Darwins Ansichten nach anfänglicher Begeisterung immer unpopulärer wurden, bis sie am Ende des 19. Jahrhunderts auf einen historischen Tiefpunkt gesunken waren. Denn niemandem war es gelungen, die Verbindung zwischen Evolution und individueller Entwicklung herzustellen, und das trotz Darwins Interesse - ersichtlich aus seiner Korrespondenz und anderen Schriften - an Goethes Ideen von der "Einheit der Typen". Sogar noch nach Darwins Entdeckungen blieben die "Geheimnisse der normalen Entwicklung", wie Goethe es ausdrückte, verschlossen.
Trotz der Arbeiten an der Embryologie zahlreicher Organismen war es unmöglich, den Verlauf der Evolution nachzuvollziehen - ohne "Szenarien" der Evolution, die auf unserer Vorstellung davon beruhen, wie natürliche Auslese funktioniert haben mag. Die Frustration über diese unwissenschaftliche Herangehensweise wurde am bissigsten von dem englischen Biologen William Bateson ausgedrückt: ",Wenn', sagen wir mit großer Weitschweifigkeit, ,die Natur in ihrem Lauf den Bahnen folgte, die wir angenommen haben, dann hat sie dies, kurz gesagt, tatsächlich getan.' Das ist die Summe unserer Beweisführung", schrieb Bateson 1894.
Bateson wandte sich mit Empörung von der Evolutionsbiologie ab. Er hoffte, eine systematischere Herangehensweise an das Problem der Varianten sei fruchtbarer. Es war Bateson, der den Begriff Genetik erfand. In den Vereinigten Staaten drückte Batesons Kollege Thomas Hunt Morgan ähnliches Missfallen an der Evolutionsbiologie aus und widmete seine Aufmerksamkeit der Genetik in der Hoffnung, diese würde ihm die Geheimnisse der Entwicklung offenbaren. Die Resultate haben die Hoffnungen von Bateson und Morgan mehr als bestätigt - und die Ideen von Goethe und Geoffroy rehabilitiert.Morgan bahnte den Weg für die Arbeit an der Vererbungslehre der Fruchtfliege Drosophila. Nach fast einem Jahrhundert der Forschung wurde deutlich, dass die Genetik, die der Embryologie der Fruchtfliege zugrunde liegt, geradezu unheimliche Parallelen zu unserer eigenen und der Embryologie anderer Tiere aufweist. Die Ausformung des Körpers wird bei allen Tieren von einem Satz von Genen kontrolliert, den Hox-Genen, die große Übereinstimmungen sogar zwischen Arten aufweisen, die evolutionär weit auseinander liegen. Dies unterstützt sowohl Geoffroys Vermutungen als auch Goethes Ideen von der "Einheit des Typus".
Und die Beobachtung trifft auch auf Pflanzen zu. In seinem Essay von 1790 vermutet Goethe, dass die komplexen Organe der Blumen wie Blütenblätter und Staubgefäße alle modifizierte Blätter sein könnten - wobei er das Blatt als Inbegriff der organischen Wandlungsfähigkeit verstand. Moderne genetische Forschungen unterstützen diese Ansicht: Mutationen in den so genannten MADS-Genen - pflanzlichen Äquivalenten zu den Hox-Genen bei Tieren - können mutierte Blumen hervorbringen, bei denen die Blütenblätter, Kelchblätter und Staubgefäße und alles Weitere wie Blätter aussehen.
So haben Goethe und Geoffroy also Recht gehabt, zumindest auf einer allgemeinen Ebene, als sie eine fundamentale Einheit allen Lebens vermuteten. Arten, die so verschieden sind wie Mensch und Fliege, teilen wichtige Übereinstimmungen in den Genen, die die Entwicklung von einer einzelnen Zelle zum erwachsenen Organismus diktieren. Wie lässt es sich angesichts dieser Einheitlichkeit erklären, dass die verschiedenen Tierarten so unterschiedlich aussehen können? Wie kann es sein, dass 30 Millionen verschiedene Arten auf diesem Planeten leben, die alle Nachwuchs ihrer eigenen und nicht einer anderen Art hervorbringen?
Die Antwort auf diese Frage könnte die Wissenschaft von den Genomen liefern. Wenn der Schlüssel zu der fundamentalen Einheit des Lebens in gleichen Genen liegt, dann könnten sich die Unterschiede zwischen Organismen daraus ableiten lassen, wie diese Gene arbeiten.
Nach landläufiger Ansicht bestimmen die Gene individuelle Züge. Einzelne Gene sorgen für blaue Augen oder Intelligenz, und es gibt Gene, die, wenn ein Defekt auftritt, für bestimmte Krankheiten verantwortlich sind. Bis zu einem gewissen Grad trifft diese Ansicht auch zu. Aber die neue Sichtweise, gewonnen aus der Untersuchung des gesamten Erbguts, zeigt, dass die Verbindung aus Gen und Eigenschaft häufig nicht so simpel ist. Normalerweise werden Wesenszüge nicht von einzelnen Genen diktiert, sondern von ganzen Genanhäufungen, die zusammenwirken. Solche Genhaufen finden sich oft in großer räumlicher Nähe, im gleichen Abschnitt des Erbguts. Viele Gene (Hox- und MADS-Gene fallen in diese Kategorie) regulieren die Funktion von wieder anderen. Sie schaffen komplizierte, interaktive Netze, deren Resultate nicht vorhersagbar sein dürften, wenn man das Netzwerk außerhalb seines biologischen Kontextes betrachtet. In gewissem Sinne kann die Form eines Organismus als eine einzige, einheitliche Eigenschaft gesehen werden, die von den Interaktionen all ihrer Gene bestimmt wird.
Diese Idee hätte bei Goethe oder Geoffroy sicher Anklang gefunden. Goethe hätte vermutlich hinzugefügt: Die menschliche Natur bestimmt sich immer in einem Wechselspiel mit Kultur und Gesellschaft. Mit dem Aufkommen der Wissenschaft von den Genomen mag auch dieses Wechselspiel klarer werden.
Henry Gee ist Redakteur des britischen Wissenschaftsmagazins "Nature". Aus dem Englischen von Karen Schmidt
© beim Autor/DIE ZEIT 2000 Nr. 21
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