“Wissen taugt, wenn es geprüft Ist!”

Professor Hartmut von Hentig im Gespräch mit dem BDKJ

 

Hartmut von Hentig ist der wohl profilierteste und fundamentalste Kritiker des Computereinsatzes in der Schule. Hentig befürchtet, der Computereinsatz führe gesamtgesellschaftlich ohnehin zu einer Zwei‑Klassen‑Gesellschaft. Julia Henrichmann hatte Gelegenheit, mit dem Professor über seine Thesen zu reden.

 

Herr Hartmut von Hentig, die Bedingungen des Aufwachsens junger Menschen haben sich gewandelt. Wie bedeutsam für diesen Wandel sind Veränderungen durch neue Medien?

 

Die Veränderung, die unsere Welt durch die neuen Medien erfährt, ist enorm. Die Folgen, die die Erfindung der Buchdruckerkunst, der Dampfmaschine, des Autos gehabt haben, dürften im Verhältnis zu denen der Telematik dereinst schwach erscheinen. Das gilt freilich mehr für uns Ältere als für die Jungen, die in die Medienwelt hineinwachsen. Für sie wird es ein Problem sein, die Medienwirklichkeit mit den Erwartungen in Einklang zu bringen, die unsere Zivilisation ihnen vererbt: Ihnen könnte beispielsweise die Demokratie als Verfahren und Mittel zur Regelung der res publica oder die gegenwärtige Gemeinschaft als Objekt der Ver­antwortung und der Loyalität oder die erfahrbare Wirklichkeit als Korrektiv der Vorstellungen fremd und unverständlich werden.

 

Die Anwendung des Computers als Hilfsmittel einerseits und das Surfen im Internet andererseits können sehr verschieden sein. Wie wird die Technik vorwiegend genutzt?

 

Das müßten Sie einen Empiriker fragen, also je­manden, der dieser Frage mit systematischer For­schung nachgegangen ist. Meine Vermutung ist, daß das ziellose Surfen ermüdet, langweilt, nicht lange durchgehalten wird, es sei denn, man drücke sich damit vor lästigen anderen Aufgaben. Wer sehr lange am Gerät sitzt, verfolgt freilich meist eine Erkenntnisspur. Der Gegenstand seines Suchens, Lernens, Probierens ist ihm nicht notwendig bewußt. Aber der Vorgang übt und fördert ihn in der Handhabung des Systems”. Im übrigen wird die Antwort auf Ihre Frage nach Alter, Geschlecht, Vertrautheit mit dem PC und Interesse an der jeweiligen Sache” ganz verschieden ausfallen.

 

Sie merken in Ihrem Werk “Die Schule neu denken” die Reduktion von Wissen auf Infor­mation und die Rationalisierung der Wirklichkeit durch neue Medien kritisch an. Wie sollen Pädagogen das Dilemma umgehen, nicht ganz vor der neuen Kulturtechnik zu flüchten und trotzdem keine unkritische Nutzung dieser Medien zu lehren?

 

Zunächst einmal eine kurze Erläuterung der von Ihnen zitierten “Reduktion von Wissen auf Information”. Gemeint ist, daß die einstige und in der Bildung tragende Bedeutung von Wissen” die Aufhebung von Unwissen war oder anders ausgedrückt die Antwort auf eine Frage.

Ein bloß gespeichertes Wissen, das niemand sucht, niemand im Augenblick braucht, in niemandes Kopf ein Problem löst, sollte mit einem anderen Wort bezeichnet werden. In der Informatik hat man das Wort “Information” dafür gewählt (und auch diesem dadurch seine ursprüngliche Bedeutung genommen). Wissen, so schreibe ich in “Die Schule neu denken”, habe fortan nichts mehr mit Qualität zu tun, könne etwas Überflüssiges zum Inhalt haben wie die Zahl der Haare, die Salambo mehr auf dem Kopf hatte als vielleicht Semiramis”. Wissen sei nichts mehr, was eine Person verändere. Wissen sei vor allem kein Ganzes.

 

 

 

Wie definieren Sie “Medienkompetenz”, die Pädagogen vermitteln sollen?

 

Medienkompetenz heißt die Medien beherrschen, nämlich (a) sie meinen Zwecken dienstbar machen und (b) von ihnen unabhängig bleiben. Zu (a) muß ich das Sachproblem genau verstehen; ich stelle die Fragen; ich wähle den Zeitpunkt und setze dem Vorgang das Maß; ich formuliere das Ergebnis; ich überprüfe es. Zu (b) muß ich Alternativen kennen und deren Wirkungen und Möglichkeiten erfahren haben. Die vor allem also muß man den Schülern geben, so daß sie sich ganz selbstverständlich fragen: Wäre hierzu ein Gespräch oder eine unmittelbare Erfahrung oder ein eigenes Pro bieren oder ein Buch (welches?) nicht vielleicht ge­eigneter oder ebenso geeignet wie der PC ‑ und jeweils aus welchen Gründen?

Sodann: Wissen taugt, wenn es geprüft ist. Das Internet ist voller ungeprüfter “Information”. Man lerne, bitte, in der Schule mit jedem Wissen möglichst auch immer, wie man es erwirbt, auswählt, kritisiert.

Warum übrigens sollte irgendwer vor dieser neuen und potenten Kulturtechnik “flüchten”? Nein, man soll nur nicht die kostbare Entwicklungszeit des Kindes auf einen Vorgang verwenden, der selber leicht zu lernen ist und sich in immer kürzeren Abständen ändert. Der PC als “Kulturtechnik” ‑ ja; als Erfahrungsersatz ‑ nein!

 

Können Sie sich das Fach Medienkunde in der Schule vorstellen?

 

Leider! Es ist nichts einfacher, als für eine Lebens­schwierigkeit ein Unterrichtsfach zu erfinden. Das haben wir schon immer so gemacht. Arbeitslehre, Verkehrsunterricht, Sexualkunde, Gruppendynamik, Diätetik, selbst das Spiel, ja auch die Pädagogik ‑ sie alle wären im” oder “am” Leben zu lernen, mit Eltern, Geschwistern, Freunden. Aber die sind anderswo beschäftigt und lassen den Kindern diese Dinge durch beamtete Unterrichtsfunktionäre beibringen”. Warum dann nicht auch (wie in den USA) das Autofahren oder das Einrichten der eigenen Wohnung (home making) oder Kosmetik (beautification) und so fort? In einer Schule, die nicht nur “gelehrten Unterricht” erteilt, kann alles vorkommen und sogar förderlich sein, wenn man zu begründen vermag, erstens wozu es taugt und zweitens wieso es rechtfertigt, daß man dann X und Y und Z nicht lernen kann. Denn unsere Zeit ist begrenzt.

 

Sie stellen die These auf, daß der Computer die moderne Pädagogik zunichte mache. Warum?

 

Lassen Sie mich einfach zitieren: Die Schule muß die Grunderfahrungen bereitstellen, die man gemacht haben muß, um in der Gesellschaft, in der Kultur zu bestehen ... Sie muß für die Einseitigkeiten, die sie selbst verursacht, Ausgleich schaffen: fürs Stillsitzen und für die verordnete Kollektivität, fürs Drinnensein und für die vorherrschende Verbalität, für die fertigen unveränderten Ordnungen und die Passivität. Sie muß Kindern Eigenverantwortung geben den Anlaß für Gemeinsinn. Sie muß also gegen das eigene Belehren‑und‑Abfragen‑Gesetz Schranken errichten, Bewegung,

Gesellung und Alleinsein zulassen und alles tun, was das Kind ermutigt ... Der Computer dagegen hält es an seinem Stuhl fest, grenzt seine Lebensregungen auf das Feld zwischen Bildschirm und Taste ein, legt alle anderen Sinne lahm, schaltet andere Kontakte aus, bannt den Geist des Kindes auf das Frage‑und‑Antwort‑Schema des Programms und der Programmierung. Sein Einsatz macht ‑ im Prinzip ‑ alles zunichte, was sich die moderne Pädagogik seit Beginn unseres Jahrhunderts ausgedacht hat ‑ zum Wohl des Kindes wie der Gesellschaft. Er bestärkt die Schule in dem, was man an ihr zu kritisieren hat. Er macht sie unmodern im Zeichen der Modernisierung.”

 

Weg von der skeptischen Perspektive: Welche Vorteile liegen in der Nutzung der neuen Medien?

 

Die Vorteile, die dem Menschen aus der Nutzung der neuen Medien entstehen, kann jede moderne Bürokraft, jeder Bahnbeamte, jeder Bankangestellte und jeder Astronaut besser beschreiben als der Pädagoge. ‑ Die Vorteile oder der Vorsprung nämlich vor dem Zustand ohne ihn. Die elektronischen Medien verarbeiten größere Quantitäten von Daten in ungleich kürzerer Zeit; sie speichern beliebig vieles, ohne mehr Raum einzunehmen; sie sind reproduzierbar, versendbar, löschbar. Aber in der Pädagogik geht es nicht um diese Eigenschaften. Als Lerngehilfe möge der PC eingesetzt werden, wenn genug Geräte da sind, so daß jeder Schüler selbständig oder in geeigneten kleinen Gruppen daran arbeiten kann, und nachdem dieser das zu lösende Sachproblem verstanden hat. Ein Höhe­punkt seiner pädagogischen Leistung wäre erreicht, wenn Schülerinnen und Schüler den PC programmieren können: Das hieße nämlich, daß sie ihre Sache so gut durchschauen, daß sie dem “dummen” Gerät vorschreiben können, was er ihnen zu leisten hat.

 

Drei kurze (dumme) Fragen ‑ drei kurze (ehrliche) Antworten:

Haben Sie zu Hause einen Internet‑Zugang?

Nein, kann ihn aber bei befreundeten Instituten aufsuchen.

Haben Sie schon mal ein Computerspiel gespielt?

Ja, und habe Spaß daran gehabt.

Was ist auf Ihrem Mouse‑Pad zu sehen?

Ich besitze keinen PC und darum kein Mouse‑Pad.

 

Prof. Hartmut von Hentig, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.