Die Höflichkeitszelle

Ein Forscher verbeugt sich, und schon feuert im Affenhirn ein ganz bestimmtes Neuron
 Von Bas Kast

Wenn es um seine Identität geht und um den Ort, an dem wir uns befinden, besteht der junge Forscher auf Geheimhaltung. Christian K. ist Doktorand in einem Forschungslabor, in dem Hirnforschung betrieben wird. Und dazu braucht man Versuchstiere. "Ein Kollege von mir", sagt er, "ist vor nicht allzu langer Zeit mit einer Briefbombe umgebracht worden. Ich möchte nicht der nächste sein."

Ein paar Andeutungen sind gestattet: Die Geschichte spielt in einem westeuropäischen Land. Hier findet der Fortschritt innerhalb mediävaler Mauern statt. Der Ort ist ein Wunder der Ungleichzeitigkeit: draußen Ruinen aus dem vorigen Jahrtausend - drinnen Forschung auf der Schwelle zum nächsten.

Im obersten Stockwerk des Gebäudes befindet sich das Brain Lab. Rechts sitzt ein Makak (Macaca mulatta). In das Gehirn des Affen haben die Forscher hauchdünne Elektroden eingepflanzt. Kabel führen zu einer Batterie von Meßinstrumenten. Links steht der junge Mann und präsentiert dem Affen und mir ein angestrengtes Pantomimenspiel: Er hebt seinen Arm, sein Bein, den anderen Arm, er dreht den Kopf, legt sich hin, er kriecht, hüpft, springt, dann dreht er sich um und versteckt sich. Aus den Meßgeräten erklingt nicht mehr als ein kurzes Knattern.

Irgendwann kommt der Akteur aus seinem Versteck hervor und sieht auf den Makaken, frustriert: Das Tier ist eingeschlafen.

Was soll dieses Affentheater?

In unzähligen Labors sind die Forscher auf der Suche nach der Welt im Kopf. Auch hier im Brain Lab werden die Argumente für eine heftige Debatte gesammelt: Wird das Erleben eines Menschen, eines Tieres durch die Aktion einzelner Zellen repräsentiert, oder ist das wechselnde Muster der Aktivität vieler Neuronen das Korrelat des Geistes? "Wir fischen", sagt der Forscher. "Eine Zelle im Hirn zu finden ist leicht. Aber herauszufinden, was diese Zelle repräsentiert - das ist schwer."

Dann führt er seine Pantomime fort.

Plötzlich knattert es. Auf dem Oszilloskop leuchtet es hellgrün auf: Zu sehen sind die Aktionspotentiale einer einzelnen Gehirnzelle. Gerade hat sich der Forscher gebückt, jetzt richtet sich sein Rücken langsam wieder auf - aus dem kleinen Lautsprecher kracht es geradezu.

Der Wissenschaftler lächelt. "Die Zelle, von der wir ableiten", sagt er, "ist offenbar eine, die einen Verbeugungsvorgang repräsentiert."

Etwas später wiederholt er die Prozedur, doch diesmal hinter einem Brett, das seinen Körper vom Kopf bis zur Hüfte verdeckt.

Neugierig blickt der Affe auf das Objekt. Noch einmal macht der Forscher eine Verbeugung, er bückt sich, er richtet sich auf - jetzt jedoch hinter dem Brett, so, daß der Affe nur noch sieht, wie der Kopf am oberen Ende des Brettes verschwindet und die Nase am unteren Ende auftaucht. Wieder leuchtet es. Und es kracht.

Mich laust der Makak: Obwohl der Affe die Verbeugung nicht sieht, gewittert es in seinem Gehirn. Auch ich sehe nur das Verschwinden der Nase - doch irgendwie stelle ich mir vor, wie der junge Mann hinter dem Brett gerade dabei ist, sich wieder aufzurichten. Und plötzlich wird mir die Bedeutung dieses Knatterns klar: Irgendwo da oben in meinem Kopf feuert, wie im Kopf des Affen, gerade eine Zelle, die sich die Verbeugung vorstellt - der Affe und ich sehen die Verbeugung gewissermaßen vor dem geistigen Auge.

Christian K. beschäftigt sich damit, wie das Gehirn Objekte erkennt. Die Frage, die der ehrgeizige Doktorand verfolgt, geht sogar noch weiter: Wie funktionieren psychische Phänomene, etwa Vorstellung oder Erwartung, im Gehirn, genauer: auf dem Niveau des einzelnen Neurons?

Auf die umstrittenen Affenversuche glaubt er dabei nicht verzichten zu können.

"Wenn wir wissen wollen, wie die höheren Funktionen des menschlichen Gehirns funktionieren, dann bleibt uns nichts anderes übrig, als Tiere mit einem vergleichbaren Hirnaufbau zu untersuchen. Bildgebende Computerverfahren zeigen uns zwar, bei welchen Aufgaben welche Hirnareale aktiviert werden. Aber wie das Gehirn diese Aufgaben löst - darüber geben sie keinen Aufschluß. Das kann nur auf der Ebene der einzelnen Zelle geklärt werden."

Noch vor wenigen Jahren haben die Forscher bei der Untersuchung einzelner Zellen das Hirn vor allem mit sehr einfachen Reizen stimuliert: mit horizontalen oder vertikalen Linien, mit Ecken und Kanten, mit geometrischen Figuren. Mit Hilfe dieser simplen Stimuli haben sie - allen voran David Hubel und Torsten Wiesel, die Nobelpreisträger von 1981 - herausgefunden, daß im hintersten Teil des Hirns, im sogenannten Okzipitallappen (siehe Graphik), die visuelle Welt in ihre Bausteine zerlegt wird. Ein Neuron in dieser Hirnregion reagiert beispielsweise nur dann, wenn man in einem ganz bestimmten Bereich des visuellen Feldes einen horizontalen Balken zeigt. Ein anderes wird nur beim Blick auf Vertikalen aktiv. Wieder andere werden durch Kontraste, Farbe oder Bewegung angeregt.

Vom Okzipitallappen reichen Nervenbahnen in den hinter den Schläfen liegenden Temporallappen. Christian K. interessiert sich hauptsächlich für die obere Furche des Temporallappens. Zellen in diesem Areal reagieren nicht mehr auf einfache Stimuli, sondern auf komplexe Reizkonfigurationen, die sich aus einer Vielzahl der im Okzipitallappen analysierten Bausteine zusammensetzen.

So haben sich manche Zellen auf Gesichter spezialisiert. Einige antworten nur auf die seitliche oder nur auf die frontale Ansicht eines Gesichtes. Andere summieren die Antworten dieser Zellen und reagieren auf Gesichter unabhängig von der Perspektive.

"Diese Ergebnisse sind spannend", erzählt Christian K. begeistert, "weil sie uns zeigen, wie unser Gehirn Objekte erkennt. Es gibt Patienten, denen die Fähigkeit fehlt, bestimmte Objekte zu erkennen. Wenn wir verstehen, wie das Gehirn diese Aufgabe normalerweise löst, verstehen wir vielleicht, was diesen Patienten fehlt - und können ihnen eventuell helfen. Mit diesem Wissen können wir in Zukunft vielleicht auch Maschinen das Sehen beibringen."

Um den neuronalen Mechanismen der Objekterkennung auf die Schliche zu kommen, stimulieren viele Labors das Hirn mit verschiedenen Bildern.

"Das machen wir zwar auch", sagt Herr K. und zeigt auf den Projektor, der an der Decke hängt, "doch benutzen wir am liebsten Live-Stimuli." Will sagen: Man macht den Affen vor dem Affen - bis man irgendwann den richtigen Reiz gefunden hat, auf den die Zelle anspricht. "Wenn man immer nur vorbereitete Stimuli präsentiert, wird man nie etwas wirklich Neues finden: Man bereitet ja eben nur jene Reize vor, von denen man a priori vermutet, daß sie funktionieren könnten."

Mit Hilfe der Live-Stimuli hat das Labor auch Zellen entdeckt, die einen Angriff zu registrieren scheinen - sie feuern etwa nur dann, wenn der Affe einen Arm, ein Bein oder einen Stock rasch auf sich zukommen sieht. Sie feuern aber auch, sobald er ein bedrohliches Geräusch hört. Bei harmlosen Reizen, egal, welcher Modalität, regt die Zelle sich nicht.

Andere Zellen scheinen zu registrieren, worauf das Gegenüber, das der Affe sieht, seine Aufmerksamkeit lenkt. "Zellen dieser Art reagieren also nicht bloß auf ein Gesicht oder ein Geräusch, sondern auf soziale Signale, von denen für das Tier unter Umständen Leben und Tod abhängen."

Was aber hat es mit dieser "Verbeugungszelle" auf sich? "Diese Zelle", sagt Christian K.

, "gehört zu einer besonderen Kategorie, die wir in der oberen Furche des Temporallappens gefunden haben. Sie zeichnet sich dadurch aus, daß ihre Aktivität nicht direkt an die Präsentation eines Reizes gebunden ist." Die Verbeugungszelle feuerte auch dann, wenn der Affe die Verbeugung selbst nicht sah, sich aber, so ist zu vermuten, den Vorgang vorstellte. "Ein anderes Mal habe ich eine Zelle gefunden, die nur dann aktiv wurde, wenn ich mich rechts hinter einem Vorhang versteckte. Sie feuerte weiter, während ich mich versteckt hielt. Versteckte ich mich auf der anderen Seite, passierte nichts. Und sobald ich wieder zum Vorschein kam, wurde sie still. Es war eine Zelle, die zu sagen schien: Achtung, da rechts hinter dem Vorhang versteckt sich einer!"

Genau diese Zellen, deren Feuern nicht an einen aktuellen Input gebunden ist, fesseln den Forscher am meisten: Hier rückt der Geist, hinter dem er her ist, in greifbare Nähe. Und hier wird auch deutlich, warum die Live-Stimuli in diesem Labor so beliebt sind: "Bei der ersten Versteckzelle hatte ich bereits seit einer halben Stunde nach einem Stimulus gesucht. Nichts funktionierte. Irgendwann war ich so frustriert, daß ich zur Tür hinausspazierte, um kurz zur Toilette zu gehen - da, endlich, plötzlich feuerte die Zelle!" sagt der Doktorand.

"Mit einem Dia hätte man so etwas nie entdeckt."

Vor zehn Uhr kommt Herr K. meist nicht aus dem finsteren Labor. Auch an diesem Abend ist es spät geworden. Etwas später, im Pub, erklärt Christian K., während er an einem Whiskey nippt, was ihn an seiner physiologischen Forschung so fasziniert. "Bei der Erforschung der biologischen Grundlagen psychischer Prozesse geht es nicht nur darum, das Gehirn besser zu verstehen. Es geht auch darum, die Kluft aufzuheben, die es scheinbar zwischen Geist und Gehirn gibt. Es ist im Grunde nichts anderes als der Versuch, diesen flüchtigen Geist in mir zu fassen."

© beim Autor/DIE ZEIT 1998 Nr. 30
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