Es geht um Macht

Jugend und Politik. Ein Gespräch mit dem Bielefelder Soziologen Wilhelm Heitmeyer. Teil 3 der ZEIT-Serie "Renaissance der Gleichheit"

DIE ZEIT: Herr Heitmeyer, was stört Sie am Gerede über "die" Jugend in Deutschland?

WILHELM HEITMEYER: Wenn sie in der politischen Debatte überhaupt vorkommt, dann allenfalls als Problemfall, aber nie als produktiver Unruhefaktor. Es ist auch ein Irrtum zu glauben, man habe den Jugendlichen durch die Absenkung des Wahlalters bedeutsame demokratische Mitwirkungsmöglichkeiten geschenkt: Tatsächlich ist das doch nur ein kostengünstiges Eingliedern und Stillegen. Ein Teil der Jugendlichen, und das ist ebenfalls irritierend, lebt seine Existenzprobleme in Subkulturen aus - und man bietet den jungen Leuten dafür sogar noch das Deutungsmuster eines neuen Politikverständnisses an.

ZEIT: Der Soziologe Ulrich Beck gesteht seinen Kindern der Freiheit selbst dann noch politisches Handeln zu, wenn sie sich der Werbung zuwenden und damit angeblich der Politik ihre Legitimation entziehen.

HEITMEYER: Das Gegenteil trifft meines Erachtens zu. Aber im neuen flexiblen Kapitalismus gerät Wesentliches eben leicht aus dem Blick.

ZEIT: Und was ist das Wesentliche?

HEITMEYER: In der Politik geht es immer noch um Macht und Herrschaft, nur subtiler. Weder irgendwelche Ersatzpolitiken noch schöngeredete Enthaltsamkeit werden den jungen Leuten helfen: Diese Gesellschaft verwehrt einer wachsenden Zahl von ihnen den Einstieg ins Berufsleben. Sie bekommen keine Antwort auf die Frage: Wer braucht mich?

ZEIT: Wo sollen sie diese Antwort suchen? Nicht doch in den politischen Parteien?

HEITMEYER: Die Frage ist vor allem, ob eine mobilisierungsfähige Jugend noch in der Lage ist, Interessen zu bündeln und sie durchzusetzen. In meiner Generation hätte man da an die kalkulierte Regelverletzung gedacht. Das mag in Zeiten, wo sogar der BDI zum Bruch von Tarifverträgen, also von getroffenen Verabredungen, aufgerufen hat, nicht mehr der richtige Weg sein. Wichtig ist, daß die Jugendlichen sich der freundschaftlichen Umzingelung durch verständnisvoll herrschende Modernisierungsgewinner entziehen. Die Neue-Mitte-Rhetorik der Bundesregierung halte ich in diesem Zusammenhang für sehr problematisch: Sie soll möglichst viele integrieren, weicht die Konfliktfähigkeit auf und überläßt den nichtintegrierbaren gesellschaftlichen Rest sich selbst.

ZEIT: Aber der Sozialstaat in Deutschland scheint doch noch zu funktionieren.

HEITMEYER: Genauer hinter die Fassaden sehen! Die Polarisierung der Gesellschaft nimmt zu. Wir werden es mit einer größer werdenden Gruppe von jungen Menschen, darunter auch zahlreichen ausländischen Jugendlichen, zu tun bekommen, die mit den ständig steigenden Qualifikations- und Anpassungsforderungen des Arbeitsmarktes überhaupt nicht mehr zurechtkommen.

ZEIT: Was passiert, wenn diese Entwicklung sich unkontrolliert fortsetzt?

HEITMEYER: Es gibt zahlreiche Reaktionen. Die Gewaltbereitschaft der Jugendlichen gehört dazu. Und wenn die verstärkte Prämierung des Starken so weitergeht, dann wird die Gesellschaft wohl darauf reagieren, indem sie ihr Interesse von sozialer Sicherung auf öffentliche Sicherheit verlagert: Der Staat wird aufrüsten.

ZEIT: Also verlangen Sie einen neuen Ansatz gesellschaftlicher Integration?

HEITMEYER: Ja, denn der soziale Zusammenhalt der Gesellschaft steht nicht ernsthaft auf der Tagesordnung. Nach meinem Eindruck hat sich inzwischen ein ausgefeiltes System der Dethematisierung von Ungleichheit entwickelt.

ZEIT: Möchten Sie es für uns entfalten?

HEITMEYER: Ich sehe fünf Strategien. Da sind erstens die Fairneß-Rhetoriker. Für sie ist das Streben nach Gleichheit durch das Scheitern des Sozialismus diskreditiert: Alles, was sie noch zulassen wollen, ist sportlicher Umgang miteinander. Dann gibt es zweitens einige Vertreter der multikulturellen Gesellschaft, die auf ihre Weise zur Verschleierung von Ungleichheit beitragen: Indem sie ideologisch auf kulturelle Differenz pochen und Integration zur Zumutung erklären, übersehen sie, daß eben diese kulturellen Differenzen soziale Ungleichheit zementieren. Drittens gibt es die sogenannten Modernisierer in allen Parteien, die Ungleichheit als dynamisches Prinzip des modernen Kapitalismus begrüßen: Angst vor dem gesellschaftlichen Abstieg hält die Leute auf Trab. Viertens kann man die Ungleichheit einfach wissenschaftlich dethematisieren, sozusagen soziologisch wegreden, wie es letzten Endes die Systemtheorie tut. Und schließlich bleibt die Möglichkeit, Ungleichheit als Ungleichwertigkeit zu begreifen: Das machen die Rechtsextremisten, und es ist wohl die unerfreulichste Art, mit dem Thema umzugehen.

ZEIT: Was tun?

HEITMEYER: Die Jugendlichen haben es heute schwer, sich politisch Gehör zu verschaffen. Ihre Lebensstile sind pluralisiert; unter ihnen dominiert die Vorstellung, daß alles immer auch ganz anders sein könnte. Einfache und klare Konfliktlinien sind weitgehend verschwunden. Das Geschichtsbewußtsein der jungen Leute ist wahrscheinlich massiv durch die Zerstückelung biographischer Zeit beeinträchtigt: Die Bubis-Walser-Debatte oder auch die Mahnmal-Auseinandersetzung dürfte die weitaus meisten Jugendlichen gar nicht erreichen. Zur Selbstberuhigung der Älteren wird dann gesagt, die Jugend zeige sich doch in Umfragen politisch interessiert. Ja, aber ein derartiges Bekenntnis gehört heute zum jugendlichen Habitus - bedeutet also nicht viel.

ZEIT: Sie haben vorgeschlagen, den Jugendlichen "Wutplätze" einzurichten. Sind nicht die Marktplätze in Ostdeutschland, die die Skinheads besetzt halten, genau dies: Wutplätze, die Erwachsene das Fürchten lehren?

HEITMEYER: An Ihrem Beispiel kann man erkennen, was passiert, wenn Jugendliche nicht mehr vorkommen. Dann wird Gewalt gegen Schwache ausgeübt und sogar die Macht über Sozialräume erobert. Solche Abläufe mit kurzen Handlungsketten sind fatalerweise hoch effektiv - die Jugendlichen erleben sie als wirksam, während wir ihnen den demokratischen Prozeß als komplex und unübersichtlich darstellen. Deshalb habe ich eine Beteiligung von Jugendlichen vorgeschlagen, zum Beispiel in Form eines kommunalen Vetorechts.

ZEIT: Glauben Sie ernsthaft, daß die Ermächtigung zu einem folgenlosen "Nein" für die politische Bewußtseinsbildung der Jugendlichen besonders geeignet wäre?

HEITMEYER: Wenigstens wären sie Sand im Getriebe, die politische Klasse könnte nicht unentwegt Zukunftsfragen an den Interessen der betroffenen Generation vorbeientscheiden. Wenn wir gezwungen werden, uns vom Gedanken der Vollbeschäftigung zu verabschieden, brauchen wir vor allem eine neue Kultur der Anerkennung: Es ist unglaublich wichtig, jungen Leuten zu zeigen, daß sie dem Gemeinwesen etwas wert sind.

ZEIT: Eine rhetorische Sinngebung für den Umstand, auf dem Arbeitsmarkt nicht gebraucht zu werden, dürfte ebensowenig erfolgreich wie den Jugendlichen gegenüber fair sein.

HEITMEYER: Im Moment weiß ich keinen anderen Weg, als immer wieder auf die Folgen von Desintegration hinzuweisen; zumal es ja gar keine breit angelegte Integrationsdebatte gibt: weder für die gefährdeten Teile der Mehrheit noch für die Ausländer. Daran ändert auch die schlimme Diskussion um das Staatsbürgerrecht nicht viel. Dabei wird man einfach zur Kenntnis nehmen müssen, daß nach Prognosen im Jahr 2010 in Städten wie Wuppertal oder Solingen ausländische Mitbürger zwischen 20 und 40 Jahren einen Anteil von 45 bis 50 Prozent der Bevölkerung stellen werden. Ihre Integration in die Funktionssysteme dieser Gesellschaft ist schon heute schwach. Es wird der demokratischen Kultur nicht bekommen, wenn sie in ethnische Organisationen gedrängt werden.

ZEIT: Wie steht also diese Republik für die junge Generation da?

HEITMEYER: Jemand hat kürzlich gesagt, daß man bei uns vorrangig frage, wieviel Menschlichkeit man sich leisten könne. Das ist für das moralische Engagement vieler junger Menschen katastrophal. Sie würden wohl noch der alten Idee von Republik folgen, die danach fragt, wie man Menschlichkeit ermöglichen könne. Dazu gehört heute aber mehr denn je Aufmerksamkeit für die neuen Herrschafts- und Machtprozesse.

Die Fragen stellten Susanne Gaschke und Jan Ross