Es ist selbstverständlich, daß eine Nation nach dem Ende einer Diktatur die Gewährleistung der Grundrechte - in der Sprache der Vereinten Nationen (UN) "Menschenrechte" genannt - als eine ihrer vordringlichsten Aufgaben anpackt. Ebenso war auch nach dem gleichzeitigen Ende der Hitlerschen Diktatur in Europa und der japanischen Militärdiktatur in Ost- und Südostasien die Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen 1948 eine natürliche, notwendig gebotene und gute Willensentscheidung.
Mit der Etablierung der fundamentalen Rechte des einzelnen geht die Schaffung einer demokratischen Staatsorganisation Hand in Hand. So ist es, gottlob, nach Mussolini und Hitler geschehen, so in der östlichen Hälfte Europas nach dem Ende der kommunistischen Diktaturen. Dagegen zeigt die Erfahrung der letzten Jahrzehnte leider auch, daß Demokratie und Menschenrechte bloßes Papier bleiben können, wenn eine Regierung beim bloßen Bekenntnis verharrt und sowohl alltäglich als auch besonders in Notlagen versäumt, für Demokratie und Menschenrechte einzutreten und ihre Funktionstüchtigkeit tatsächlich zu sichern. Umgekehrt liegt für manch einen das Mißverständnis nahe, als ob seine persönliche Freiheit bedeute, seine Rechte - und seine Ansprüche - ohne eigene Verantwortlichkeit ausüben und verwirklichen zu dürfen. Wenn aber jedermann ausschließlich seine eigenen Rechte verfolgte und keinerlei Pflichten und Verantwortungen akzeptierte, dann kann ein Volk und sein Staat - oder die Menschheit als ganze - in Feindschaften, in Konflikte und schließlich in Chaos verfallen.
Ohne Verantwortungsbewußtsein der einzelnen kann Freiheit verkommen zur Vorherrschaft der Starken und der Mächtigen. Deshalb ist es eine stetige Aufgabe, der Politiker und der Staatsbürger, Rechte und Verantwortlichkeiten im Gleichgewicht zu halten.
Heute, beinahe ein halbes Jahrhundert nach der Universal Declaration of Human Rights, ist deren notwendiger sittlicher Imperativ gegenüber der Menschheit und ihren zweihundert souveränen Staaten in Gefahr. Denn zum einen wird das Stichwort "Human Rights" von einigen westlichen Politikern, zumal in den USA, als Kampfbegriff und als aggressives Instrument der außenpolitischen Pression benutzt. Dies geschieht zumeist durchaus selektiv: zwar gegenüber China, Iran oder Libyen, nicht aber gegenüber Saudi-Arabien, Israel oder Nigeria. Die Gründe für solche Einseitigkeit liegen in ökonomischen und strategischen Interessen.
Zum anderen werden die Human Rights von manchen Muslimen, Hindus und Konfuzianern als ein typisch westliches Konzept aufgefaßt und teilweise sogar als Instrument zur Verlängerung westlicher Vorherrschaft denunziert. Darüber hinaus hören wir besonders in Asien den ernstzunehmenden, ernsthaft begründeten Vorwurf, das Grundrechtskonzept vernachlässige oder verkenne gar die Notwendigkeit von Tugenden und von Pflichten und Verantwortlichkeiten des einzelnen gegenüber der Familie, der Gemeinde, der Gesellschaft oder dem Staat. Manche Asiaten meinen, einen prinzipiellen Gegensatz zu erkennen zwischen westlicher und asiatischer Auffassung von der Würde des Menschen.
Zwar ist es unbestreitbar: Menschenbild und Vorstellung von menschlicher Würde unterscheiden sich innerhalb jeder Gesellschaft oder Kultur - je nach religiösem oder philosophischem oder ideologischem Standort. Jedoch herrschen generell tatsächlich große Unterschiede zwischen den in Europa und Nordamerika vorherrschenden Vorstellungen einerseits und andererseits den in Asien vorherrschenden islamischen, hinduistischen, buddhistischen und konfuzianischen Vorstellungen - zu schweigen vom Kommunismus in seinen mehreren Spielarten.
Es ist deshalb denkbar, daß es im 21. Jahrhundert zu einem clash of civilizations … la Samuel Huntington kommen kann. Die Explosion der Weltbevölkerung - Vervierfachung! -im 20. Jahrhundert und die Zunahme der Konzentration in Massen-Großstädten werden sich mindestens bis tief ins kommende Jahrhundert fortsetzen; deshalb wird es - ohngeachtet des Endes des bipolaren Konfliktes zwischen der Sowjetunion und dem Westen - auch im 21. Jahrhundert Machtkonflikte geben. Man darf hoffen, daß sie glimpflicher gelöst werden als im 20. Jahrhundert geschehen. Aber man muß fürchten, daß sie in einen Kampf zwischen einander prinzipiell und sogar tiefgegründet feindlich gegenüberstehenden Kulturen einmünden könnten. Dabei könnten Fundamentalisten auf beiden Seiten, die heute unter globalem Aspekt in den meisten Fällen nur minderheitliche Außenseiterrollen spielen, möglicherweise zu Auslösern und Anführern massenhafter Hysterien werden. Die heutige Ausweitung und Intensivierung der weltumspannenden Verbundwirtschaft Globalisierung genannt - würde dem keineswegs zwangsläufig entgegenstehen, zumal sie neuartige ökonomische Interessenkonflikte mit sich bringen wird.
Seit dem Ende des sowjetischen Blocks und vor allem seit der Öffnung Chinas hat sich die Zahl der am Wettbewerb in der offenen Weltwirtschaft beteiligten Menschen schon heute fast verdoppelt. Dazu kamen ein enormer technologischer Sprung - vor allem in den Feldern der Telekommunikation, des Luftverkehrs und des Container-Seetransports - und ein historisches Höchstmaß an Liberalisierung des Handels, vor allem aber des Geld- und Kapitalverkehrs. Im Beginn des neuen Jahrhunderts werden die Nationen und ihre Volkswirtschaften auf fast der ganzen Welt zwar stärker voneinander abhängen als jemals in allen früheren Generationen. Aber zugleich führt diese Globalisierung zu neuen, bisher unbekannt gewesenen Konkurrenzkämpfen. Die Versuchungen zu machtpolitischer Verfälschung des Wettbewerbs zwecks eigenen Vorteils werden wachsen.
Wenn angesichts dieser Gefahr die Nationen und ihre Staaten, wenn die Politiker und ebenso die Hüter und Bewahrer der Religionen nicht lernen sollten, ihr religiöses, kulturelles und zivilisatorisches Erbe gegenseitig zu respektieren, wenn die Menschen nicht lernen sollten, die beiden kategorischen Imperative der Freiheit und der Verantwortlichkeit miteinander im Gleichgewicht zu halten, dann kann in der Tat der Friede zwischen ihnen zerbrechen. Das weltpolitische Gefüge und das sozialökonomische Wohlbefinden der Völker können tiefgreifend gestört werden.
Ein interreligiöser, internationaler Entwurf
Deshalb wird es am Ende des alten Jahrhunderts - fünfzig Jahre nach der Universal Declaration of Human Rights - höchste Zeit, ebenso über Human Responsibilities zu sprechen. Ein Minimum weltweit gemeinsam anerkannter ethischer Standards wird für das interkontinentale Zusammenleben zur dringenden Notwendigkeit - nicht nur für individuelles Verhalten, sondern ebenso für die politischen Autoritäten, für die religiösen Gemeinschaften und Kirchen, für die Nationen. Nicht nur für die Regierungen, sondern ebenso für die international produzierenden, Handel treibenden oder finanzierenden Konzerne. Die letzteren sind heute in Gefahr, sich einem neuen, ungebändigten, weltweit spekulativen Raubtier-Kapitalismus hinzugeben. Die Notwendigkeit des Bewußtseins von der eigenen Verantwortung gilt ebenso für die international tätigen elektronischen Medien, welche Gefahr laufen, die Menschen weltweit mit einem Übermaß der Darstellung von Morden, Schießereien, Gewalttaten und Mißbrauch aller Arten zu vergiften.
Die Notwendigkeit der Vermeidung eines clash of civilizations hat eine große Zahl von älteren Staatsmännern (ehemalige Staatspräsidenten und Regierungschefs) aus allen fünf Kontinenten veranlaßt, den Entwurf zu einer Universal Declaration of Human Responsibilities vorzulegen. Er beruht auf jahrelanger Vorarbeit durch geistliche, philosophische und politische Führer aus der ganzen Welt und aus allen großen Religionen. Die Aufgabe ist zunächst, eine Diskussion anzustoßen; die Hoffnung ist, am Ende zu einer ähnlichen Erklärung der UN zu gelangen wie schon einmal 1948, als die UN unter der Initiative von Eleanor Roosevelt die allgemeine Erklärung der Menschenrechte beschloß.
Ähnlich wie damals die Menschenrechtserklärung, so würde auch die zusätzliche Verantwortlichkeitserklärung den Charakter eines ethischen Appells haben, nicht einer völkerrechtlichen Verbindlichkeit. Jedoch sind auf dem moralischen Boden der Menschenrechtserklärung inzwischen regionale Menschenrechtspakete mit völkerrechtlicher Verbindlichkeit erwachsen, zum Beispiel die Europäische Menschenrechtskonvention und die Einrichtung des europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte. An die großen Auswirkungen der Helsinki-Schlußerklärung und ihres "Korb III" auf die innere Entwicklung des europäischen Kommunismus sei hier gleichfalls erinnert. In vergleichbarer Weise sind spätere rechtliche oder politische Auswirkungen der Verantwortlichkeitserklärung zu erhoffen.
Wer dagegen die Verfasser und Unterzeichner des Entwurfes zu einer Allgemeinen Erklärung der Verantwortung der Menschenpflichten für bloße Idealisten ohne Bodenhaftung halten möchte, der hat weder einen ausreichenden geschichtlichen Überblick über die tatsächlichen geschichtsmächtigen Auswirkungen der rechtlich zunächst bloß unverbindlichen Menschenrechtserklärung noch eine ausreichende Vorstellung von den Gefährdungen der Menschheit in der Zukunft; er könnte selbst bloß ein konservativer Anhänger von moralisch prinzipienloser, fälschlich so genannter Realpolitik sein.
Unser Entwurf wiederholt im Artikel 4 die "Goldene Regel", die in allen Weltreligionen eine wichtige Rolle spielt (und die Immanuel Kant in einer verfeinerten Formulierung zum "kategorischen Imperativ" erhoben hat): "Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu." Im Artikel 9 heißt es: Alle Menschen "haben die Pflicht, ... Armut, Unterernährung, Unwissenheit und Ungleichheit zu überwinden. Sie sollen überall auf der Welt eine nachhaltige Entwicklung fördern, um für alle Menschen Würde, Freiheit, Sicherheit und Gerechtigkeit zu gewährleisten." Der Artikel 15 sagt, die Repräsentanten der Religionen haben die Pflicht, Vorurteile und Diskriminierung Andersgläubiger zu vermeiden, vielmehr sollen sie Toleranz und gegenseitige Achtung unter allen Menschen fördern. Am Schluß heißt es in Artikel 19: Keine Bestimmung dieser Erklärung darf so ausgelegt werden, daß sich daraus irgendein Recht ergibt, welches auf Vernichtung der in der Menschenrechtserklärung von 1948 aufgeführten Rechte und Freiheiten zielt.
Deutscher Nachholbedarf
Auch bei uns in Deutschland stehen heute Rechte in höherem Kurs als Pflichten. Ansprüche werden vielfältig mit überlauter Stimme erhoben, Verantwortung jedes einzelnen dagegen wird in vielen Bereichen unserer Gesellschaft kaum gelehrt und daher auch kaum wahrgenommen. Viele Politiker, viele Wirtschaftsmanager werden ihrer Verantwortung nicht gerecht, ebenso viele Universitäten oder Fernsehkanäle. Eine weitgehende permissive Erziehung orientiert sich allzu einseitig an den Grundrechten, von Grundpflichten ist kaum die Rede. Rücksichtslos egoistische "Selbstverwirklichung" erscheint als Ideal, Gemeinwohl dagegen eher als bloße Phrase.
Die Weimarer Verfassung trug über ihrem zweiten Hauptteil die programmatische Überschrift "Grundrechte und Grundpflichten der Deutschen", sie setzte Rechte und Pflichten des Bürgers in unmittelbare Beziehung zueinander. Davon ist in einigen der heute geltenden Landesverfassungen noch ein Abglanz geblieben, nicht dagegen im Grundgesetz. Die Weimarer Verfassung hat in ihrem Artikel 163 sogar von einer "sittlichen Pflicht" zur Arbeit gesprochen. Heute können manche Wirtschaftsmanager keine sittliche Pflicht zur Schaffung von Arbeitsund Ausbildungsplätzen erkennen. Zunehmend hängen sie der Ideologie des Shareholder value an und setzen Aktienkurse und Dividenden an die Stelle von sittlichen Pflichten. Und umgekehrt finden manche Menschen, die keinen Arbeitsplatz haben, ihre staatliche Alimentation plus ein wenig Schwarzarbeit auskömmlich und jedenfalls bequemer und deshalb vorzuziehen gegenüber der Last einer regulären Arbeitswoche.
Hans Jonas und sein "Prinzip Verantwortung", Marion Gräfin Dönhoff mit ihrem Appell "Zivilisiert den Kapitalismus" und Amitai Etzioni mit seinem kommunitaristischen Aufruf zur "Verantwortungsgesellschaft" sind hierzulande einstweilen sehr einsame Rufer geblieben. Ohne Pflege der bürgerlichen Tugenden wird aber unsere Gesellschaft zu einem politisierenden Gerangel der Interessenhaufen verkommen. Zwar haben die deutschen Staatsrechtslehrer sich vor Jahr und Tag mit der Frage nach der verfassungsrechtlichen Dimension von Grundpflichten im Rahmen unseres Grundgesetzes befaßt; jedoch sind ihre damaligen Verhandlungen ohne erkennbare Wirkung geblieben. Dagegen hatte die Menschenrechtserklärung der UN schon 1948 in ihrem Artikel 29 wenigstens ganz allgemein die Feststellung getroffen, daß "jeder Mensch Pflichten gegenüber der Gemeinschaft (hat), in der allein die freie und volle Entwicklung seiner Persönlichkeit möglich ist".
Erziehung zum Bewußtsein ethischer Pflichten und zu persönlicher Verantwortung tut unserer Gesellschaft not. Wir müssen zu diesem Zweck keineswegs unsere Gesetze oder gar unser Grundgesetz ergänzen. Wohl aber müssen unsere Schulen und Hochschulen, unsere Kirchen, unsere politischen Parteien, unsere Unternehmen und Gewerkschaften erkennen: Die Verfolgung von Rechten ohne eigenes Pflichtbewußtsein kann ins Chaos führen. Verantwortungsbewußtsein gegenüber Pflichten setzt aber voraus, daß ich meine Pflichten erkenne; deshalb muß die allgemeine Erziehung zur Kritikbereitschaft die kritische Fähigkeit zur Erkenntnis meiner eigenen Pflichten einschließen. Der alte römische Grundsatz "Res publica suprema lex" bleibt dafür eine gute Orientierung.
Die Diskussion des Entwurfes für eine allgemeine Erklärung der Menschenverantwortung wird im Westen mindestens zwei Haupteinwände zutage fördern. Zum einen werden sogenannte Realpolitiker sagen, es handele sich um Idealismus, der weder Aussicht auf allseitige Akzeptanz noch auf tatsächliche Befolgung habe. Zum anderen werden engagierte Verfechter der Menschenrechte sagen, wenn der Entwurf zur Erklärung der menschlichen Verantwortlichkeit als Zwilling oder Pendant zur Menschenrechtserklärung angesehen werde, dann bestehe die Gefahr, daß die Menschenrechte auf die Ebene bloßer Moral transponiert würden. In Asien dagegen werden manche sagen, zwar komme der Entwurf wesentlichen Prinzipien asiatischer kultureller Traditionen entgegen und sei deshalb zu begrüßen; aber seine ausdrückliche Anlehnung an die Menschenrechtserklärung sei überflüssig, abträglich und deshalb abzulehnen.
Mahatma Gandhi hat sieben "Soziale Sünden" aufgezählt, an der Spitze standen "politics without principles" und "commerce without morality". Wer will dem widersprechen? Jüngst hat die Financial Times in einer Besprechung des Entwurfes zur Erklärung der menschlichen Verantwortlichkeit geschrieben: "Richtig: Wir brauchen allgemeine Regeln guten Geschäftsbenehmens ... Eine Universal Declaration of Business Responsibilities könnte zum allgemeinen Nutzen in die Gehirne der Unternehmensvorstände durchsickern." Auch dieser Ansatz könnte fruchtbar werden, wenn tatsächlich der Entwurf zur Erklärung menschlicher Verantwortlichkeit eine weltweite Diskussion auslöst. Er wird jedenfalls in der UN und deshalb in den Regierungen zur Diskussion stehen.
Darüber hinaus würde eine öffentliche Diskussion dazu beitragen, daß wir uns wieder an die Grundeinsicht erinnern, nach der wir Bürger nicht nur Rechte zur Abwehr fremder Willkür haben, sondern ebenso Pflichten und Verantwortlichkeit gegenüber unseren Mitmenschen. Keine Demokratie und keine offene Gesellschaft kann auf die Dauer Bestand haben ohne das doppelte Prinzip von Rechten und Pflichten.
Die an der wirtschaftlichen Globalisierung beteiligten Nationen, Staaten und ihre Regierungen müssen sich gemeinsam zu einem minimalen ethischen Kodex durchringen, andernfalls könnte das neue Jahrhundert genau so konfliktreich verlaufen wie das jetzt zu Ende kommende. Aber dieses Mal blieben die Konflikte nicht auf Teile von Kontinenten beschränkt, sondern es könnte tatsächlich ein weltweiter Konflikt zwischen verschiedenen Grundüberzeugungen entstehen, wobei sich die Konfliktparteien auf überkommene religiöse und kulturelle Interpretationen stützen würden. Wer den drohenden Zusammenstoß zwischen den Kulturen vermeiden will, der braucht dazu keineswegs allein wirtschaftliches und militärisches Potential, sondern er braucht eine Moral, die auch von allen anderen anerkannt werden kann.