Oder wir begegnen dem authentischen Menschen in der Form des jungen Versicherungsangestellten, der anläßlich der Wohnungseinweihung eines Arbeitskollegen sein Urteil über das Resultat monatelang wirkenden Gestaltungswillens nach kurzer Musterung ebenso bündig wie ehrlich in dem beiläufig geäußerten Satz zusammenfaßt: "Na, hier ist ja wohl noch einiges zu tun!"
Dann das gestreßte Nachwuchsphotomodell, das während der Zugfahrt von Berlin nach Hamburg die Mitreisenden an den Komplikationen seiner per Handy vorgenommenen Terminplanung für die nächsten "Shootings" teilhaben läßt. Ferner der Studiogast einer Fernseh-Talk-Show zum Thema "Dick - unansehnlich oder schick?", der seiner Sitznachbarin unumwunden zu verstehen gibt, daß er ihre Leibesfülle für das Resultat von Disziplinlosigkeit und Charakterschwäche halte, auch wenn seine Meinung vielleicht nicht politisch korrekt sei.
Die Tatsache, daß sich uns in solchen Situationen der Satz "So was tut man nicht" als einzige Kommentierung auf die Zunge legt, macht stutzig: wiederholt er doch wortgetreu die Ermahnungen der eigenen Eltern. Oder, noch schlimmer, der Großeltern. Also wird man ihn wahrscheinlich samt des entstandenen Ärgers schleunigst wieder herunterschlucken. Denn wer es wagte, derlei Rücksichtslosigkeiten mit diesem altmodischen Wort entgegenzutreten, hätte unzweifelhaft mit dem Vorwurf zu rechnen, Omas Benimm nachzueifern, und stände unversehens als Reaktionär oder Gouvernante da.
Höflichkeit einzufordern, der Höflichkeit das Wort zu reden, das bereitet also Schwierigkeiten. Was verursacht diese Schwierigkeiten?
Eine Ursache liegt in der Gleichsetzung von Höflichkeit mit Benimm, wobei ein entscheidender Unterschied verlorengeht. Unter Benimm wird gemeinhin ein Katalog von Verhaltensvorschriften verstanden, der heutzutage auf verbreitete Ablehnung stößt und bestenfalls Heiterkeit hervorruft, da er als anachronistisch, übertrieben und merkwürdig restriktiv empfunden wird. Störend daran wirkt vor allem das Normative, das sich in dem Satz "Das tut man nicht" zu erkennen gibt.
Was ist an der Höflichkeit anders? Zwar ist auch sie auf mehr oder weniger festgelegte, zuweilen durchaus subtile Verhaltenscodes angewiesen, jedoch ist ihr Motiv anders: nicht Herrschaft, sondern ethische Haltung. Vereinfacht gesprochen handelt es sich um Rücksichtnahme, also um die Bereitschaft, die anderen als andere mit eigenen Interessen überhaupt wahrzunehmen und sie nicht, einer Planierraupe gleich, zu überfahren.
Diese Weisheit mutet verhältnismäßig banal und selbstverständlich an. Um so bemerkenswerter ist deshalb die Tatsache, daß höfliches Verhalten keinesfalls selbstverständlich ist, mitunter geradezu Unbehagen zu verursachen scheint. So fragt sich Roland Barthes: "Warum betrachtet man die Höflichkeit im Westen mit Argwohn?" Verantwortlich für den offenbaren Mißkredit macht er eine spezifische Form des Selbstverständnisses, die er als "Mythologie der ,Person'" begreift: Danach gilt der westliche Mensch "als ein Doppeltes, das aus einem gesellschaftlichen, künstlichen, falschen ,Äußeren' und einem persönlichen, echten ,Inneren' ... zusammengesetzt ist". Einen authentischen Kern, der das Individuelle repräsentiert, umgibt demzufolge eine kulturelle Hülle, die das überaus wertgeschätzte "Persönliche" verbirgt.
So gesehen verwundert es nicht, daß der uniformierenden gesellschaftlichen Zwangsjacke nicht gerade die respektvollste Behandlung zuteil wird: In das ungeliebte Kleidungsstück werden Löcher gerissen, es wird mit Spitzenwerk durchbrochen und mit Ausschnitten und allerlei andersartigen Transparenzen versehen. Wer solchermaßen hochgeschlitzt und tiefdekolletiert daherkommt, kann nun das "Eigene" oder "Eigentliche" zusehens entblößen oder, wie man sagt, "raushängen lassen". Das Ideal ist der vollendete Striptease. Für den höflichen Code, der jener Textilie eingewoben ist, bedeutet dies schrittweise Reduktion, an deren Ende die "Natürlichkeit" des sozialen Umgangs stehen soll: Unhöflich sein bedeutet wahrhaftig sein.
Wird infolgedessen jegliches offensichtlich codebestimmte Handeln als distanzierte Steifheit oder gar Heuchelei denunziert, so kann sich umgekehrt noch die gröbste Rücksichtslosigkeit mit dem Gütesiegel der Ehrlichkeit schmücken und mittels dieses merkwürdigen Einsatzes von Moral vor Kritik und drohender Sanktionierung schützen. Wer sich also trauen sollte, lärmenden Kinobesuchern ein "Psssst" zuzuzischen oder unserem geschmackssicheren Interieurkritiker zu versichern, daß die Welt ohne ein paar fromme Lügen ein ziemlich wüster Ort wäre, muß damit rechnen, in einem Akt der Projektion kurzerhand als Exekutor einer Norm bloßgestellt zu werden, die unterdrückerisch einschreitet, wo sich doch lediglich authentische Bedürfnisse ausleben wollen und die Aufrichtigkeit alles Codierte zersprengen darf.
Auf diesem Weg der Wahrheit stattet sich die Mißachtung der Konvention mit dem Selbstbewußtsein aus, revolutionär zu sein, und zwar ungeachtet der Frage, wogegen eigentlich revoltiert oder was mit diesem Aufbegehren bezweckt werden soll.
Die exhibitionistische Hervorkehrung des Inneren kommt einem narzißtischen Begehren nach, wie es sich im Falle unseres telephonierenden Photomodells nicht übersehen läßt. Gezeigt werden soll nämlich, daß dieses Innere voll ist und, vor allem, mit der inneren Fülle der anderen konkurrieren kann. Neben dem Versuch, einen Mangel des anderen oder seiner Wohnungseinrichtung aufzudecken, steigert sich deshalb nicht selten das Selbstdarstellungsbedürfnis regelrecht ins Obsessionelle. Genügt dem distanzlosen einzelnen noch sein entmündigtes Gegenüber als Einschreibfläche für die eigene Persönlichkeit, so stellt die inflationierende Anzahl der Fernseh-Talk-Shows im Nachmittagsprogramm ebenso viele Bühnen für einen massenhaften und vor großen Zuschauermassen praktizierten Exhibitionismus bereit. Hier nun darf nicht nur, es muß sogar, wie in der Beichte, alles mit größtmöglicher Schamlosigkeit gezeigt werden, zu dem Zweck, Gott und der Welt und nicht zuletzt sich selbst zu beweisen, daß da auch etwas ist, das gezeigt werden kann - eine sogenannte "gebrochene" Persönlichkeit ist immerhin auch eine.
Ruft das Modell von der falschen gesellschaftlichen Hülle und dem echten individuellen Kern ein latentes Mißtrauen gegenüber den kulturellen Codes hervor und initiiert es somit zugleich das Mißverstehen jedes Höflich-Formbestimmten als Produkt einer gewaltsamen Verbiegung, so beruht es doch auf einem grundlegenden Mißverständnis. Dieses Mißverständnis betrifft den Status der Kultur und vor allem der Sprache. Diese wird sozusagen in einem Außen gehalten, wo es doch, spätestens seit dem Auftreten der Psychoanalyse, angeraten ist, das Subjektive nicht als autonome Substanz, sondern vielmehr als von der Sprache Durchdrungenes oder sogar von ihr erst Hervorgebrachtes zu denken. So stellt sich beispielsweise die Frage, wie sich das kultisch verehrte Unmittelbare und Unvermittelte denn überhaupt mitteilen soll - entzieht es sich doch per definitionem dem Vermittelnden, also der Sprache? Oder anders: Wie kommt es, daß sich der angeblich in uns allen hinter einer Fassade der Zivilisiertheit hausende gute Wilde so überaus beredsam gibt und demnach offenbar über eine Kompetenz verfügt, die ihn gar nicht mehr so wild erscheinen läßt?
Daß es so etwas wie Individualität gibt, soll und kann nicht in Abrede gestellt werden, nur darf bezweifelt werden, ob es sich dabei um jenen unteilbaren, ursprünglichen Kern handelt, der vor und diesseits des Symbolischen existieren soll und somit logischerweise undarstellbar bliebe.
Es ist nicht unbedingt nötig, sich in allzu schwindelnde Höhen des abstrakten Denkens hinaufzuwagen, um zu durchschauen, daß der Ausdruck des Ureigenen üblicherweise in jenseits von Individualität vorgeprägten Rede- und Verhaltensmustern gefunden wird. Es genügt beispielsweise schon ein Blick auf zahlreiche Hervorbringungen des sogenannten "jungen deutschen Kinos", dessen Heldinnen und Helden - "schwierig", "ungeschminkt" und "pur", so lauten einige ihrer stereotypen Charakterbeschreibungen - stets ihren inneren Impulsen folgen, in jeder Situation sie selbst sind und pausenlos vorexerzieren, wie man authentisch geht, steht, sitzt, spricht oder ißt.
Was sich hier zeigt, ist mithin gar nichts Authentisches, sondern ein sich verfestigender Code des "Authentischen".
Etabliert hat sich im Zuge der Verehrung des Reinen und Natürlichen ein regelrechter Spontaneitätskult, weil nämlich das aufgrund spontaner Gefühlsregung Geäußerte in dem Ruf steht, geradewegs von innen oder, wie es auch heißt, "aus dem Bauch" zu kommen, also von dort, wo merkwürdigerweise die Wahrheit nisten soll. "Das Spontane des Menschen ist seine Kultur", erkannte hingegen Roland Barthes und erklärt die angebliche Eruption des Unverfälschten in Form jener Bauchrednerei lakonisch zu etwas Grundverschiedenem, nämlich zu einer Einsetzung in die gängigen Denk- und Verhaltensschemata.
Die Realisierung des bauchgetriebenen Befreiungswunsches nimmt sich bei näherer Betrachtung ohnehin einigermaßen schwierig aus, weil doch alles Vorgegebene erst einmal erkannt, benannt, also in irgend einer Weise bewußt durchquert sein muß, bevor sich jemand davon absetzen kann. Ein Vorgehen, das somit notgedrungen mit der zeitaufwendigen Anstrengung intellektueller Reflexion verbunden ist. Ein Vorgehen aber auch, das von den selbsternannten Bauchmenschen nicht selten der "Kopflastigkeit" geziehen, dem also eine gewisse niederdrückende Schwere oder sogar Unmenschlichkeit attestiert wird.
Infolgedessen schlägt kritischem Nachfragen häufig Aggressivität entgegen, vor allem, wenn Zweifel an dem geäußert werden, was den Bauch mancher Leute spontan und geistig recht unverdaut verläßt und das, so skurril und abgefahren es auch zunächst anmuten mag, über den Gemeinplatz doch nicht hinauskommt oder sich dem Wortdunkel der momentan grassierenden esoterischen Rede hingibt, die sich unausgesetzt um die Suche nach der "eigenen Mitte" dreht. Indem die "eigene Meinung" als direkter Ausdruck des Ich begriffen wird, gerät sie zum kostbaren Eigentum, das mit Zähnen und Klauen verteidigt wird, so daß Auseinandersetzungen unvermeidlich auf der persönlichen Ebene ausgetragen werden. Ironischer-, aber nicht komischerweise bildet die der Abwehr alles Verunsichernden dienende und begriffsmodisch zur "Verletzlichkeit" veredelte Mimosenhaftigkeit oftmals nur die Rückseite der Rücksichtslosigkeit.
Damit kommen wir zu einer weiteren Überlegung: Die neue Unverschämtheit ist nach unserer Vermutung - und an dieser Stelle verlassen uns vielleicht einige der bisher Zustimmenden - mitnichten auf einen Kultur- oder Werteverfall zurückzuführen.
Vielmehr steht sie in engem Zusammenhang mit einer althergebrachten kulturellen Praxis, die den Begriff eines authentischen, kulturell unvermittelten Selbst als Mythos hervorbringt. Rückblickend läßt sich feststellen, daß dieses - seine Konstruiertheit verleugnende - Konstrukt in der Geschichte als anzustrebender Wert etabliert worden und mithin als gesellschaftsbildender Motor äußerst wirkungsvoll eingesetzt worden ist. Dieses wird ersichtlich, wenn man die widersprüchliche Konzeption des Individuums betrachtet, die mit der Konstituierung der bürgerlichen Gesellschaft zum Ende des 18. Jahrhunderts ausgebildet wurde.
"Einerseits nämlich", schreibt die Hamburger Literaturwissenschaftlerin Marianne Schuller, "fordert die Ausbildung der bürgerlichen Gesellschaft die sogenannte freie Entfaltung der Persönlichkeit - schon, um auf dem Markt als Konkurrent fungieren zu können -, andererseits aber nötigt sie zur Unterwerfung unter die Botmäßigkeit institutionalisierter Normen". Solcherart ist dem in Nachfolge der Philosophie der Aufklärung zum autonomen, sich selbst regelnden Subjekt ausgebildeten Individuum zwar das Versprechen seiner Verwirklichung gegeben, zugleich jedoch ein schier unlösbarer Konflikt aufgetragen. Umgangen wird dieser Konflikt nun, indem Individualität, schaut man genauer hin, nicht als Differenz auftritt, sondern, indem sie innerhalb eines festumrissenen Systems erfordert und förderlich ist, ihr also eine ganz bestimmte Funktion zukommt, als ausgesprochen Genormtes zum Vorschein kommt.
Dieser Befund ist so neu nicht, und doch gibt es etwas Neues, eben die neue Unverschämtheit. Wie kommt es zu ihren unbestreitbar gegenwärtigen Phänomenen, die unter Stichworten wie "gesellschaftliche Kälte", "Egoismus", "Brutalisierung" oder "Entsolidarisierung" diskutiert werden?
Die von Ulrich Beck schon 1986 in seinem Buch "Risikogesellschaft" beschriebene Individualisierung spielt innerhalb dieser Diskussion, zumindest als häufig herbeizitierter Begriff, keine geringe Rolle. Beck wies allerdings auch darauf hin, daß Individualisierung als ein "historisch widersprüchlicher Prozeß der Vergesellschaftung" verstanden werden muß: Neben einer weitgehenden Stabilität der traditionellen Ungleichheitsrelationen, über die eine fortschreitende Freisetzung der einzelnen aus hergebrachten Sozialformen und Klassenzusammenhängen lediglich hinwegtäuscht, treten innerhalb der "durchgesetzten Marktgesellschaft" auch neue Formen gesellschaftlicher Regulierung und Normierung auf. Diese sind, schrieb Beck, schwer zu durchschauen; es kommt zu Irrtümern und Fehleinschätzungen - namentlich zur Illusion der Unabhängigkeit gegenüber gesellschaftlicher Determination.
War im Zusammenhang der Höflichkeit bereits von einem ethischen Prinzip die Rede, so macht Beck innerhalb des Wertesystems der Individualisierung "Ansätze einer neuen Ethik" aus, einer Ethik, die "auf dem Prinzip der ,Pflichten gegenüber sich selbst' beruht" und die deshalb diesen Namen vielleicht nicht verdiene. Denn "dies stellt", so führt er weiter aus, "für die traditionelle Ethik einen Widerspruch dar, da Pflichten notwendig Sozialcharakter haben und das Tun des einzelnen mit dem Ganzen abstimmen und in es einbinden. Diese neuen Wertorientierungen werden daher auch leicht als Ausdruck von Egoismus und Narzißmus (miß)verstanden. Damit wird jedoch der Kern des Neuen, der hier hervorbricht, verkannt. Dieser richtet sich auf Selbstaufklärung und Selbstbefreiung als eigentätigen, lebenspraktischen Prozeß; dies schließt die Suche nach neuen Sozialbindungen in Familie, Arbeit und Politik mit ein."
Eine problematische Äußerung. In Anbetracht der Tatsache, daß es sich beim wahren Selbst um ein Trugbild handelt, das sich schlechterdings nicht verwirklichen läßt, sind heute wohl doch alle Anzeichen für eine narzißtische Struktur gegeben. Narzißmus darf nicht verharmlosend mit Eitelkeit gleichgesetzt werden, da er die einzelnen dauerhaftem Streß und erheblichen Frustrationen aussetzt. Bedenkliche Folgen, die Beck übrigens selbst anhand zahlreicher Beispiele treffend beschreibt: "In dem Sinne, daß gesellschaftliche Krisen als individuelle erscheinen und nicht mehr oder nur noch sehr vermittelt in ihrer Gesellschaftlichkeit wahrgenommen werden", gelange nämlich das Ich, das sich schier uneinlösbaren Anforderungen gegenübersieht, auf einen unbarmherzigen Prüfstand. Wo die Interpretation der eigenen Situation anhand gesellschaftlicher Einflußfaktoren kaum mehr möglich ist, da kommen "neue Formen der ,Schuldzuweisung' auf": Jeglicher Mißerfolg gibt sich als Resultat eines persönlichen Versagens zu lesen. Hiermit ist auch die gegenwärtig sich überschlagende Psychowelle angestoßen, denn im Zuge der Verlagerung gesellschaftlicher Probleme ins Persönliche avanciert die Psychologie geradezu zum hegemonialen Deutungsmodell für alles Krisenhafte.
Die übersteigerte Sorge um das Selbst zeitigt Effekte, die ins Theatralische hineinspielen. Kaum noch ein Ort, gleichgültig ob öffentlich oder privat, der nicht als Bühne für exzessive personality shows herhalten könnte. Stilbestimmend für diese Darbietungen wirkt sich ein Hang zum Naturalismus aus. Damit ist gemeint, daß sich die Rollenhaftigkeit des Dargestellten hinter seiner angeblichen Natürlichkeit verschleiert. Darüber gerät auch die Rollenhaftigkeit jeglichen Verhaltens aus dem Blick. Die Rolle verfestigt sich paradoxerweise gerade in der krampfhaften Zurückweisung alles "Künstlichen" und "Falschen" zur - Pose.
Im Verteilungskampf um Arbeitsplätze nimmt die Schaumschlägerei besonders dramatische Ausmaße an. Denn angesichts des Zustands, daß Ausbildungs- und Studienabschlüsse zwar vorausgesetzt werden, zugleich aber nichts mehr garantieren, stellt oft genug die plakativ zur Schau gestellte Persönlichkeit der Bewerber das verbleibende Erfolgskriterium dar. So nimmt es nicht wunder, daß manche von ihnen sich bereits in ihren Bewerbungsschreiben als "Siegertypen" annoncieren.
Die konservativ gefärbte Rede vom Werteverlust verfehlt also das Problem. Die Unbehaglichkeit der gegenwärtigen Situation ist ganz im Gegenteil der Virulenz einer höchst traditionellen Wertvorstellung geschuldet. Denn das authentische, kulturell unvermittelte ("unverfälschte, unverbogene") Selbst gibt zwar vor, etwas Natürliches zu sein, stellt aber - wie wir zeigen wollten - lediglich den Effekt eines gesellschaftlichen Normierungsprozesses dar und somit einen Wert. Die Kollision dieses Wertes mit traditionellen ethischen Prinzipien ist nicht neu, sie fällt nur in Zeiten des Aufschwungs der Wirtschaftskonkurrenz zur Ersatzreligion bedeutend gewaltsamer aus.
Das konservative Dogma der ursprünglichen Autonomie des Subjektes, die Verleugnung seines gesellschaftlich-kulturellen Wesens, führt sodann - und folgerichtig - zu dem mittlerweile ermüdenden Befund, daß es durch immer mehr Normen, Werte und Pflichten eingeschränkt und gebändigt werden muß.
Eine politisch höchst bequeme Haltung: Probleme des Gesellschaftlichen werden postwendend an den einzelnen zurückadressiert. Die nächste Talk-Show wartet schon auf ihn.