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Nr. 22/2000

Der perfekte Keim des Lebens

Genetisch geprüfte Babys und gezüchtete Organe - alles machbar, sagen Forscher. Aber auch wünschenswert? Diese Woche versammelt die Gesundheitsministerin Wissenschaftler zum Streit
 Von Jörg Albrecht

Der 8. Mai 2000 war ein guter Tag für die Wissenschaft. Und ein schwieriger für Kommentatoren. Deutsche und japanische Genforscher gaben bekannt, sie hätten das menschliche Chromosom Nummer 21 entschlüsselt. Auf den Bildschirmen erschienen winzige Knubbel, die bei starker Vergrößerung wie ausgefallene Backenzähne aussahen. Und was könne man damit nun anfangen, wollte Ulrich Wickert in den Tagesthemen wissen? Krankheiten heilen, antworteten Wissenschaftler einhellig.

Gene, weiß inzwischen auch der Laie, sind Rohstoffe der Zukunft. In der Tomate hat sie der Verbraucher nicht so gern. Aber eine Gentherapie würden nur wenige ablehnen. Eine Heilmethode gegen Krebs, Aids, Herzinfarkt - dagegen geht niemand auf die Barrikaden. Verzwickt wird die Sache erst, wenn sich die Kernfrage stellt. Darf man auch an den Keim des Lebens rühren? Darf man an Föten, Embryos, befruchteten Eizellen forschen? Darf man potenzielles Leben antasten, und zwar dort, wo es materiell und dem Wesen nach begründet ist, nämlich in seinem Erbgut? Man kann es, so weit ist die Genforschung. Man muss es dürfen, fordern Wissenschaftler. Man darf dieses Fass ohne Boden auf keinen Fall öffnen, fordern konservative Lebensschützer, Bioethiker, Feministinnen. Man muss es in manchen Fällen sogar tun, fordern Ärzte.

In dieser Woche treffen Befürworter und Gegner wieder mal aufeinander. Das Bundesministerium für Gesundheit hat drei Dutzend Experten zu einem Symposium über Fortpflanzungsmedizin in Deutschland eingeladen. Ministerin Andrea Fischer ist von ihren Fachkollegen aus den Bundesländern aufgefordert worden, die Arbeit an einem neuen Gesetz zur Fortpflanzungsmedizin "zügig wieder aufzunehmen". Handlungsbedarf besteht. Denn seit der Verabschiedung des Embryonenschutzgesetzes vor zehn Jahren sind Techniken entwickelt worden, die juristisch schwer zu fassen sind. Die Möglichkeit des Klonens steht zur Debatte. Ebenso die Möglichkeit, Embryos noch vor ihrer Verpflanzung in die Gebärmutter auf Gendefekte zu testen. Biologen und Mediziner wollen endlich mit so genannten embryonalen Stammzellen arbeiten, um beispielsweise menschliche Ersatzteile zu züchten. Sogar Manipulationen an menschlichen Ei- und Samenzellen scheinen nicht mehr tabu.

Die Botschaft lautet: Alles ist machbar. Wer erst die Gene kennt, kennt auch Mittel und Wege. Das jedenfalls suggeriert jede neue Meldung aus den Reihen der Genforscher. Schön wär's. Schrecklich wär's. Je nach Standpunkt.

Dabei liegen die Dinge nicht ganz so einfach. Auf eine wirksame Gentherapie beispielsweise wird man wohl noch lange warten müssen. "Abgesehen von ein paar anekdotischen Fällen", sagt der Genforscher French Anderson von der University of Southern California, "gibt es keinerlei Hinweise, dass irgendein gentherapeutisches Verfahren funktioniert." Anderson war der Erste gewesen, der die neue Wunderwaffe angepriesen hatte. 1968 bot er als junger Absolvent der Harvard Medical School bei einer Fachzeitschrift einen Aufsatz mit dem Titel an: Gegenwärtige Möglichkeiten zur Korrektur genetischer Defekte. Die Zeitschrift lehnte ab. Glänzend geschrieben, hieß es, aber reine Spekulation. Zwei Jahrzehnte später schaffte es Anderson dann auf die Titelseite der New York Times. Am 14. September 1990 hatten Ärzte unter seiner Leitung einen Schritt in die medizinische Zukunft gewagt. Ihre Patientin, die vierjährige Ashanthi DeSilva aus Cleveland, litt unter einer angeborenen Stoffwechselschwäche, der so genannten Adenosin-Desaminase-Defizienz (ADA). Bei dieser seltenen Erbkrankheit ist das Immunsystem geschädigt. Ein Leidensgenosse von Ashanthi, ein Junge aus Texas, erlangte seinerzeit traurige Berühmtheit, als die Bilder vom "Bubble Boy" um die Welt gingen. Ein Kind, das zum Schutz vor Infektionen in einem Raumanzug leben musste.

Fachleute hielten den Versuch einer Gentherapie damals für riskant, der Wissenschaftskritiker Jeremy Rifkin klagte sogar vor dem Obersten Gerichtshof. Doch Anderson setzte sich durch. Ashanthi DeSilva erhielt eine Injektion von Eigenblut, das man durch ein gesundes ADA-Gen angereichert hatte. Ganz mochten die Ärzte der Genmethode nicht vertrauen, das Mädchen wurde zusätzlich mit Adenosin-Desaminase aus Rinderblut behandelt. Bis heute wird ihr das herkömmlich gewonnene Enzym verabreicht. Ashanthi DeSilva geht es gut, sie besucht die Schule und treibt Sport wie andere Jugendliche. Ob sie das der Gentherapie verdankt oder der konventionellen Therapie, ist ungewiss.

French Andersons Genexperiment, nicht besonders aussagekräftig, wurde in der Öffentlichkeit trotzdem euphorisch aufgenommen. Bald würden Doktoren nicht nur gebrochene Arme schienen, sondern auch kaputte Gene richten, hieß es. Die Pharmaindustrie begann sich schon zu sorgen: Wer würde noch Medikamente brauchen, wenn man das Übel vieler Krankheiten bald an der Wurzel packen könnte? Überall entstanden neue medizintechnische Firmen, wurden klinische Studien beantragt. Fünf Jahre hielten die Hoffnungen an, bis eine Kommission der amerikanischen National Institutes of Health 1995 eine Zwischenbilanz zog. Und die fiel, gelinde gesagt, verheerend aus. Von "hochgejubelten Erwartungen" war die Rede, von "übereifrigen Darstellungen", kurz: von wissenschaftlicher Schaumschlägerei. Den Genmedizinern empfahl die Kommission, sich aus den Krankenzimmern in die Labors zurückzuziehen und endlich an den Grundlagen zu forschen. Die Investoren sollten sich genauer überlegen, wem sie ihr Risikokapital anvertrauten. Und alle, einschließlich der Medien, sollten sich hüten, unseriöse Hoffnungen zu verbreiten.

Einige Forscher, immerhin, nahmen sich die Warnung zu Herzen. Und beugten sich über ihre Hausaufgaben. Die meisten Bio-Tech-Unternehmen gingen an die Börse, wo andere Gesetze gelten als in der Naturwissenschaft. Die Medien haben seither fast jeden Monat die Entschlüsselung eines neuen Gens gefeiert. Inzwischen glaubt fast jeder, demnächst müsse es die perfekte Therapie für jede Krankheit geben.

Was macht die Gentherapie so schwierig? Ein krankes Gen durch ein gesundes zu ersetzen - die Idee klingt bestechend. Aber es gibt zwei Probleme. Das eine davon ist grundsätzlicher Natur: Die allermeisten Krankheiten werden nicht von einem einzigen defekten Gen verursacht, sondern von mehreren. In fast allen Fällen spielen außerdem Umweltfaktoren eine Rolle wie Ernährung, Lebensweise, Krankheitserreger. Die großen Killer der Menschheit wie Bluthochdruck oder Krebs sind sicher nicht mit wenigen Genkorrekturen auszurotten.

Aber es gibt Ausnahmen. Die Mukoviszidose etwa, die häufigste vererbte Stoffwechselkrankheit, bei der sich in den Bronchien ein schwer löslicher Schleim sammelt. Oder der Muskelschwund, genauer die Duchenne-Muskeldystrophie, die zu langem Siechtum führt. Auch die Bluterkrankheit gehört zu jenen Erbkrankheiten, bei denen nur ein einziges Gen betroffen ist.

Ein 18-jähriger Amerikaner starb nach einer Gentherapie

Auf diese monogenen Erbkrankheiten haben sich viele Gentherapeuten konzentriert. Dabei zeigte sich das zweite Problem, ein technisches: Wie lässt sich das Erbgut an die richtige Stelle bringen? Im Falle der Mukoviszidose müsste man eine ausreichende Zahl von Lungenzellen erreichen, in die man das gesunde Gen einschleusen kann - in der Hoffnung, dass es dort wirkt. Gesucht wird ein Transportmittel, eine Art Gentaxi. Man hat es mit Viren versucht, unter anderem mit Adenoviren. Adenoviren können Erkältungen hervorrufen, deshalb entfernt man ihnen möglichst viele ihrer Schnupfengene und ersetzt sie durch das gesunde menschliche Gen, das man transplantieren will. Tatsächlich hefteten sich die manipulierten Adenoviren zuverlässig an die Lungenzellen der Patienten. Sie schmuggelten auch das gesunde Mukoviszidose-Gen hinein. Aber das Gen schwamm in der Zelle, ohne sich ins Erbgut einzupflanzen. Nach wenigen Zellteilungen war es schon verschwunden. In der Zwischenzeit machte sich die Immunabwehr des Körpers über die manipulierten Zellen her und zerstörte sowohl das "Gentaxi" als auch seine Fracht. Erhöhte man die Dosis, kam es zu Komplikationen. Mehrere Patienten erkrankten an Lungenentzündung, die Studie musste abgebrochen werden.

In mindestens einem Fall verlief die Gentherapie mit Adenoviren sogar tödlich. Der 18-jährige Jesse Gelsinger aus Arizona nahm im vergangenen Jahr freiwillig an einer Versuchsreihe der University of Pennsylvania in Philadelphia teil. Gelsinger litt an einer erblichen Stoffwechselkrankheit (Ornithin-Transcarbamylase-Defizienz), war aber dank Diät und Arznei halbwegs in Form. Jedenfalls gehörte er nicht zu jenen Patienten im Endstadium des Leidens, die zu solchen Experimenten häufig herangezogen werden. Am 17. September injizierten die Ärzte dem Teenager eine hohe Dosis genbepackter Adenoviren in die Leberarterie - Stunden später fiel Gelsinger ins Koma, nach drei Tagen war er tot. Bei der Obduktion stellte sich heraus, dass in seinem Blut zeitweise mehr Viren als rote Blutkörperchen zirkuliert hatten.

Annähernd 400 klinische Testreihen zur Gentherapie mit mehr als 3000 Patienten sind seit 1990 durchgeführt worden, mehr als 70 Prozent davon in den Vereinigten Staaten. Meist gingen die Experimente enttäuschend aus. Anfang dieses Jahres wurde die größte Studie zur Bekämpfung aggressiver Hirntumoren ergebnislos abgebrochen, nachdem man versucht hatte, 300 Patienten an 45 Kliniken Europas und Nordamerikas mithilfe so genannter Selbstmordgene zu heilen. Doch hin und wieder gibt es Hoffnung. Kürzlich berichteten Ärzte vom Hospital Necker in Paris, sie hätten zwei Babys mit einer angeborenen Immunschwäche (severe combined immune deficiency) dauerhaft geheilt, indem sie gentechnisch veränderte Stammzellen aus deren Rückenmark verabreichten. Der kalifornische Genforscher French Anderson will jetzt diese neue Methode an seiner Musterpatientin Ashanthi DeSilva nachträglich ausprobieren.

Solche Erfolgsmeldungen werden seit dem Tod von Jesse Gelsinger nicht mehr vorbehaltlos bejubelt. Eine amerikanische Untersuchungskommission stellte im Fall Gelsinger fest, es sei geschlampt worden. Medizinische Regeln seien missachtet, bekannte Risiken den Patienten verschwiegen worden. Als dann die National Institutes of Health daran erinnerten, dass laut Vorschrift alle ernsthaften Zwischenfälle bei Testreihen zu melden seien, trudelten 652 verspätete Meldungen über Komplikationen aller Art ein.

Die amerikanische Food and Drug Administration hat nun angekündigt, den Gentherapeuten genauer auf die Finger zu sehen. Im Bostoner St. Elizabeth's Hospital wurden ihre Kontrolleure fündig: Anfang Mai mussten die überprüften Ärzte einräumen, dass eine herzkranke Patientin nach Injektion einer Genfähre gestorben war. "Es war das Virus, nicht das Gen", meinte ein amerikanischer Forscher. Ein schwacher Trost.

In Deutschland sind nach Auskunft des Paul-Ehrlich-Instituts bei Frankfurt am Main seit 1994 insgesamt 37 Gentherapiestudien beantragt worden. Wie viele Patienten tatsächlich behandelt wurden, mit welchem Ergebnis, ob es Zwischenfälle gab - das alles lässt sich nicht leicht beantworten. Denn über die Anträge entscheiden Ethikkommissionen, die entweder bei den Landesärztekammern oder an der medizinischen Fakultät einer Universität angesiedelt sind. Das Paul-Ehrlich-Institut und das Bundesinstitut für Arzneimittel prüfen nur, ob die Formalien stimmen. Bis eine Studie beendet ist und die Ergebnisse veröffentlicht werden, können Jahre vergehen. Ein Zentralregister zur Gentherapie gibt es in der Bundesrepublik nicht.

Nach Jesse Gelsingers Tod trat auch in Deutschland eine Kommission zusammen. Insgesamt, meinten die Experten, seien die deutschen Gentherapiestudien nicht mit den amerikanischen zu vergleichen. Die Gentherapeuten wollen an ihren Untersuchungen festhalten. Dass Nebenwirkungen nicht auszuschließen sind, räumen sie ein. "Wir hatten uns das einfacher vorgestellt", sagt Theodore Friedmann von der University of California, San Diego, einer der Väter des hoffnungsvollen Gedankens. Inzwischen redet er nur noch von "Genübertragungsexperimenten". Denn: "Solange wir nicht wirklich in der Lage sind, Patienten zu therapieren, sollten wir auch nicht von einer Therapie reden."

Ist das schon das Ende? Nicht unbedingt. Das hat das Beispiel Dolly gezeigt. Bis zur Geburt des ersten Klonschafes galt es als völlig undenkbar, Körperzellen von Grund auf umzuprogrammieren. Einmal ausgebildet zur Lungenzelle, Leberzelle, Drüsenzelle, so die Lehrmeinung, bleibt eine Körperzelle das, was sie ist. Dolly war die Ausnahme. Das Schaf ging aus einer Euterzelle hervor. Auch beim erwachsenen Menschen lassen sich wahrscheinlich Zellen finden, die imstande sind, ein neues Programm abzuspulen. Erst recht beim frühen Embryo. Denn kurz nach der Befruchtung ist jede menschliche Zelle "totipotent". Das heißt, sie könnte jederzeit zu einem kompletten Menschen heranwachsen. Selbst der weiterentwickelte Fötus besitzt noch "pluripotente" Zellen, aus denen bestimmte Organe hervorgehen können. An diese Zellen wollen die Forscher jetzt heran. Vier Methoden schweben ihnen vor: die Präimplantationsdiagnostik (PID), die embryonale Stammzelltherapie, das therapeutische Klonen und die Keimbahntherapie.

Technisch gesehen ist die Präimplantationsdiagnostik für die praktische Anwendung reif. Mit embryonalen Stammzellen wird schon experimentiert. Das therapeutische Klonen ist in der Entwurfsphase. Über die Keimbahntherapie wird noch diskutiert. Aber sie wird nun nicht mehr ausgeschlossen wie noch vor wenigen Jahren. Es führt kein zwangsläufiger Weg von der Gentherapie über die Präimplantationsdiagnostik bis zur Keimbahntherapie. Aber einen logischen Zusammenhang gibt es. Und eine Menge ethischer Probleme.

Beim PID-Verfahren geht es um die Diagnose von Erbkrankheiten. Paare, die ein genetisches Risiko für ihre Kinder fürchten, können sich zu einer Befruchtung im Reagenzglas entschließen. Dort teilt sich das Ei innerhalb weniger Tage bis zum Achtzellenstadium. Eine dieser Zellen lässt sich ohne weiteres entfernen, sie enthält dasselbe Erbgut wie die anderen. Entdeckt man einen Gendefekt, können Arzt und Eltern in spe diesen Keim "verwerfen". Das betreffende Ei wird erst gar nicht in die Gebärmutter verpflanzt. Präimplantationsdiagnostik wird weltweit in mehr als zwei Dutzend Kliniken angeboten, etwa in Belgien und Großbritannien. In Deutschland nicht. Denn hier drohen nach dem Embryonenschutzgesetz drei Jahre Haft, wenn ein Embryo zu einem anderen Zweck als dem einer Schwangerschaft erzeugt wird. Und als Embryo gilt nach dem Gesetz jede totipotente Zelle, also auch jene, die zu diagnostischen Zwecken abgezwackt, mithin "verbraucht" würde.

Gegen das Embryonenschutzgesetz laufen Mediziner und Wissenschaftler seit Jahren Sturm. Sie führen technische Argumente ins Feld. Möglicherweise, sagen sie, sind Zellen kurz nach dem Achtzellenstadium nicht mehr totipotent, sondern nur noch pluripotent. Dann könnte man sie wie gewöhnliche Körperzellen behandeln. Zu diesem Schluss kam eine Bioethik-Kommission des Landes Rheinland-Pfalz. PID, durchgeführt an nicht totipotenten Zellen, sei "nicht ausdrücklich verboten".

Kann man Nieren wachsen lassen wie Kürbisse im Gewächshaus?

PID-Befürworter führen außerdem moralische Argumente an. Es sei für eine Frau weniger belastend, ein befruchtetes Ei außerhalb des Mutterleibes testen zu lassen, statt "auf Probe" schwanger zu werden, um anschließend abtreiben zu müssen. Das wiederum empört Gegner der PID, die sich an Eugenik erinnert fühlen. Leben würde als unwert ausgesiebt aufgrund einer Behinderung, vielleicht auch nur aufgrund unerwünschter Eigenschaften.

Die Grenze ist nicht leicht zu ziehen. Die Bundesärztekammer hat vor kurzem eine Richtlinie entworfen, wonach die Präimplantationsdiagnostik allein solchen Paaren vorbehalten sein soll, die ein "hohes Risiko für eine bekannte, schwerwiegende, genetisch bedingte Erkrankung" tragen. Welche Krankheiten gemeint sind, hat die Ärztekammer nicht ausdrücklich gesagt. Ist ein Mukoviszidose-Kind ein solch schwerer Fall? Ein Asthma-Kind? Ein Kind, das als Erwachsener an Krebs erkranken würde? Eines, das im Alter an Alzheimer zu leiden hätte? Die Ärztekammer will der PID enge Grenzen setzen. In der Praxis könnten diese aber schnell fallen, schließlich entscheiden die Paare mit.

Bundesgesundheitsministerin Andrea Fischer hat sich vorgenommen, solche Fragen durch ein neues Gesetz zur Fortpflanzungsmedizin zu beantworten. Doch selbst wenn sich Befürworter und Gegner auf Regeln für die Präimplantationsdiagnostik einigen sollten, wäre dies erst der Anfang einer langwierigen Debatte. Kritiker wie Regine Kollek, Vorsitzende des Ethik-Beirates beim Bundesgesundheitsministerium, sehen in der PID nur den ersten Schritt auf dem Weg hin zur Manipulation des Menschen.

Wie soll man beispielsweise mit embryonalen Stammzellen umgehen dürfen? Stammzellen gelten seit einiger Zeit als heißestes Forschungsgebiet der Genmedizin. Stammzellen sind undifferenzierte Gebilde, aus denen sich alle Arten von Gewebe und Organen, vielleicht sogar vollständige Organismen entwickeln können. Man kann sie aus befruchteten Eiern oder abgetriebenen Föten gewinnen - in Deutschland allerdings ist beides verboten. In den Vereinigten Staaten werden zwar keine öffentlichen Gelder für solche Versuche vergeben, aber sie sind erlaubt. Also beschaffte sich James Thomson, Professor an der University of Wisconsin, Geld von einem privaten Unternehmen, der Firma Geron. Einige Paare aus Nordamerika und Israel, die sich einer In-vitro-Befruchtung unterzogen hatten, spendeten übrig gebliebene Laborembryos. Thomson gelang es, sie bis zur Furchungsteilung, also bis zum Stadium der so genannten Blastula zu züchten. Aus dem Inneren dieses schon entwickelten Zellhaufens nahm er die gewünschten Stammzellen und zog sie im Labor zu einer Kultur heran. Jetzt will er herausfinden, was noch zu tun ist, um sie zur Bildung bestimmter Zelltypen, beispielsweise Hautzellen oder Blutzellen, anzuregen. Bei einem ähnlichen Versuch, ebenfalls finanziert von der Firma Geron, gelang es einem Wissenschaftler in Baltimore, aus etwa acht Wochen alten, abgetriebenen Föten gezielt solche Stammzellen zu isolieren, aus denen sich später Geschlechtsorgane entwickelt hätten. Auch diese Zellen wachsen in der Petrischale.

Wird es demnächst möglich sein, Nieren, Lebern, Herzen wachsen zu lassen wie Kürbisse im Gewächshaus? Also ein unerschöpfliches Lager für Organtransplantationen anzulegen? James Thomson räumt ein, dass dazu noch "substanzielle Fortschritte" erforderlich seien. Und ein Problem bliebe bestehen: Auch solche "Ersatzteile" wären bei einer eventuellen Transplantation fremde Organe - mit dem bekannten Problem, dass der Körper sie abstoßen könnte. Es ist deshalb nur konsequent, den Gedanken zu Ende zu denken: Man könnte ein Organ auch klonen. Dazu müsste man dem Patienten eine Körperzelle entnehmen, ihren Zellkern in eine entkernte Eizelle transferieren, das Gebilde bis zur Blastula heranwachsen lassen, um schließlich ein fertiges Organ zu erhalten. Als das Klonschaf Dolly zur Welt kam, gab es einen Aufschrei: Niemals dürfe man einen Menschen klonen. Aber ein Organ? "Therapeutisches Klonen", klingt das nicht gleich viel freundlicher?

In jedem Fall führt die Stammzellforschung zu einer Reihe ungemütlicher Fragen:

- Wenn man in Deutschland keine embryonalen Stammzellen herstellen darf, kann man sie vielleicht in den Vereinigten Staaten kaufen? Ja, zumindest dann, wenn man den amerikanischen Forscher nicht eigens zur Tötung eines Embryos angestiftet hat.

- Fallen Stammzellen überhaupt unter das Embryonenschutzgesetz? Eigentlich nicht, könnte man meinen, schließlich würde sich aus ihnen normalerweise kein Lebewesen entwickeln. Normalerweise. Denn mit ein paar Tricks kann man sie faktisch in Keimzellen umwandeln.

- Wäre therapeutisches Klonen statthaft, wenn man dazu keine menschliche Eizelle entkernen müsste, sondern, beispielsweise, die einer Kuh?

- Wäre Klonen auch dann zu verbieten, wenn es dabei nicht um die Herstellung der Kopie einer einzelnen Person ginge, sondern um eine Form künstlicher Befruchtung, bei der Mann und Frau weder Samen- noch Ei-, sondern Körperzellen spenden?

- Was spricht gegen eine Keimbahntherapie? Vor allem diese Frage birgt Sprengstoff, hier geht es um das große Tabu der Gentechnik. Mit einer solchen Therapie würde man in das Schicksal künftiger Generationen eingreifen.

Zwei Lager stehen sich in der Diskussion gegenüber, das der Alarmisten und das der Beschwichtiger. Erstere fordern reflexartig ein Verbot. Letztere halten reflexartig dagegen, dass man sich keine Sorgen machen müsse, weil Eingriffe in die menschliche Keimbahn in absehbarer Zeit ohnehin nicht funktionierten.

Es könnte allerdings sein, dass Eingriffe in die menschliche Keimbahn eines Tages sogar einfacher zu bewerkstelligen sind als die herkömmliche, "somatische" Gentherapie, bei der Millionen von Körperzellen eines ausgewachsenen Menschen behandelt werden. Viel leichter als eine komplette Lunge ist eine Einzelzelle oder eine Zellkultur zugänglich. Tierische Stammzellen nutzt man seit längerem bei Versuchen an Mäusen. Da klappt die Genübertragung schon recht gut. Aber nur auf dem Umweg über die Keimbahn. Embryonalen Stammzellen einer Maus kann man jedes gewünschte Gen punktgenau einpflanzen. Durch mitverpflanzte Resistenzen gegen bestimmte Chemikalien ist dafür gesorgt, dass nur jene Stammzellen überleben, die das fragliche Gen in ihr Erbgut aufgenommen haben. Die manipulierten Stammzellen werden in eine Blastula injiziert, diese wird einer Leihmuttermaus in die Gebärmutter gepflanzt. Es kommen "chimärische" Mäuse zur Welt, die sowohl manipulierte als auch unmanipulierte Zellen besitzen. Einige Nachkommen dieser Mäuse erben die gewünschte Eigenschaft in reiner Form. So wurden alle möglichen Arten von Mäusen gezüchtet, nackte, dicke - und viele kranke Mäuse, denn meist schaltet man dabei gezielt bestimmte Gene ab. Solche "Knock-out"-Mäuse dienen vor allem dem Studium von Krankheiten. Aber es sind mit der gleichen Technik auch schon ein paar Supermäuse geboren worden. Die länger leben als ihre Laborgenossen. Die sich zu wahren Muskelpaketen entwickeln. Die klüger sind als gewöhnliche Mäuse.

Natürlich lässt sich das Verfahren nicht ohne weiteres auf den Menschen übertragen. Allein die Tatsache, dass frühestens ein paar ausgewählte Enkel von den Segnungen dieser Keimbahntherapie profitieren würden, macht die Sache unpraktikabel. Zudem müssten sie untereinander Nachkommen zeugen, also Inzucht betreiben. Und schließlich ist die Methode nicht sehr sicher, häufig kommt es zu Missbildungen und Fehlgeburten.

Aber angenommen, es gelänge, eine ausreichend sichere Methode zu entwickeln mit einer vergleichbaren Erfolgschance wie bei der In-vitro-Befruchtung - was spräche dann gegen eine Keimbahntherapie? Jedenfalls nicht die Moral. Nicht einmal aus der Bibel ließe sich ein striktes Verbot ableiten. Selbst die katholische Kirche hat therapeutische Eingriffe am Embryo grundsätzlich gutgeheißen. Weil der Glaube hier nicht weiterhilft, wird gern ein anderes Argument bemüht: Man dürfe künftige Generationen nicht mit einem genetischen Eingriff belasten, dessen mögliche Nebeneffekte heute niemand überblicken kann.

Das stärkste Gegenargument liefert die Genetik selbst: Wenn es bloß darum geht, Trägern von Erbkrankheiten zu gesundem Nachwuchs zu verhelfen, dann reicht die Präimplantationsdiagnostik oder eine andere Art der vorgeburtlichen Diagnose aus. Denn fast alle Träger von Erbkrankheiten besitzen neben der kranken auch eine gesunde Kopie des betroffenen Gens. Selbst wenn nur einer der Partner damit ausgestattet ist, liegt die Chance auf ein gesundes Kind noch bei 50 Prozent. Und die anderen Fällen sind so extrem selten, dass die Etablierung eines neuen Zweiges der Medizin allein zu diesem Zweck kaum sinnvoll schiene.

Die wahren Motive hinter dem wissenschaftlichen Interesse an der Keimbahntherapie wurden in der Vergangenheit nur hinter vorgehaltener Hand ausgesprochen. Keimbahntherapie - nein danke! war bis vor kurzem sogar die offizielle Lesart der Genforscher. Bis sich vor zwei Jahren ihre Elite auf dem Campus der Universität in Los Angeles traf. Zu dem Symposium Engineering the Human Germline kamen Experten wie Daniel Koshland, der frühere Herausgeber von Science, Mario Capecchi, der Erfinder der Knock-out-Maus, Leroy Hood, der Konstrukteur der ersten DNS-Sequenzierungsmaschinen, und French Anderson, der Pionier der Gentherapie. Selbstverständlich durfte auch James Watson nicht fehlen: Ohne den wortgewaltigen Nobelpreisträger und Mitentdecker der DNS-Struktur gehen solche Veranstaltungen selten über die Bühne. In Los Angeles wurde nicht länger erörtert, ob es Eingriffe in die menschliche Keimbahn geben dürfe. Sondern nur, wie und wann. Von seltenen Erbkrankheiten war kaum noch die Rede, stattdessen von einer anstehenden Verbesserung der menschlichen Keimbahn. Deshalb der Begriff engineering. Ingenieurswissenschaft statt Medizin. Nicht heilen, sondern konstruieren.

Nachkommen sollen nicht mit veralteten Genen herumlaufen

Als Mittel zum Zweck schwebten den Forschern künstliche Chromosomen vor, die man zusätzlich in den menschlichen Körper schleusen könnte. Die prominenten Naturwissenschaftler hatten sogar ein konkretes Experiment vor Augen. Dem Forscher Huntington Willard von der Universität Cleveland war es vor drei Jahren gelungen, ein menschliches Chromosom mit einer Minimalausstattung zu basteln. Erweitert um ein, zwei wünschenswerte Gene oder auch um ein ganzes Bündel davon, könne man Nachkommen künftig mit der neuesten Software aus dem Genlabor ausstatten, schwärmte der Veranstalter Gregory Stock. Etwa mit einem Gen, das Zellen in den Selbstmord treibt, sobald sie krebsartig wuchern. Auch für den Fall, dass der manipulierte Nachkomme von dieser Autotherapie nichts wissen wolle, hatte man eine Idee: Das Selbstmordgen ließe sich mit einer Art Schalter koppeln, der erst bei Einnahme eines bestimmten Medikamentes, beispielsweise eines Insektenhormons, betätigt würde. Mario Capecchi regte an, alle übertragenen Gene mit molekularen Scheren auszuliefern, die während der Reifung von Ei- und Samenzellen jedes künstliche Erbstück wieder entfernten. Dadurch könne man künftigen Generationen ersparen, mit hoffnungslos veralteten Genen herumzulaufen. So könnten potenzielle Eltern ihrem Nachwuchs jeweils das neueste Gensortiment in die Wiege zu legen. Für den Anfang, waren sich die Experten einig, wären Widerstandsfähigkeit gegen Schnupfen, Resistenz gegen das Aids-Virus HIV sowie ein Bündel Gene gegen vorzeitiges Altern ein hübsches Geschenk.

Die frohe Botschaft des Symposiums wurde rasch durchs Internet verbreitet. Die Presse von der New York Times bis zu Newsweek posaunte die Nachricht in die Welt. Hierzulande zeigten sich manche alarmiert, andere beschwichtigten: alles Zukunftsmusik. Homo sapiens, Version 2.0, ist trotzdem näher gerückt. Eine Revision aller Richtlinien, nach denen Keimbahnversuche geächtet werden, forderten die Forscher in Los Angeles. Eine Weile wird es zwar noch dauern. Zehn Jahre, zwanzig, vierzig. French Anderson, der Pionier der Gentherapie, hat bei den amerikanischen Behörden schon einen Antrag gestellt. Er möchte die Stoffwechselkrankheit ADA im embryonalen Frühstadium behandeln, und zwar so, dass auch die Gene der Keimbahn korrigiert werden. Das wäre eine Premiere - und ein Präzedenzfall.

Wenn Gregory Stock, der Veranstalter des Keimbahn-Symposiums, über die Zukunft nachdenkt, fragt er seine Gesprächspartner gerne, ob sie ihren Kindern ein längeres Leben bescheren möchten. Falls das genetisch möglich sein sollte. Zwei Drittel wären auf der Stelle dafür. Eine Hand voll sei dagegen. Die kleine Schar von Skeptikern, sagt der Forscher, wäre eine faszinierende Kontrollgruppe. Wer immer sich entschlösse, den Fortschritt am eigenen Leibe nicht stattfinden zu lassen, der würde zum Ahnen einer Generation, die noch den alten Adam mit sich herumschleppe. Was der alte und der neue Adam voneinander halten würden - darauf weiß selbst Gregory Stock keine Antwort.

Unter www.zeit.de/links/ erhalten Sie weitere Informationen zum Thema.

 Artikel zu diesem Thema:

DIE ZEIT 22/2000: Wunschkinder aus dem Reagenzglas
200022.diagnostik_.html

DIE ZEIT 1/2000: Die stille Selektion. Pränatale Diagnostik hilft, Behinderungen früh zu erkennen. Paare müssen sich
200001.praenataldiagnos.html

DIE ZEIT 34/1999: Deutsche Forscher züchten menschliche Organe im Reagenzglas
199934.ohrmacher_.html

DIE ZEIT 47/1999: Droht der Gentherapie nach einem Todesfall das Aus?
199947.gentherapie_.html


Links zu diesem Thema:

Bundesgesundheitsministerium - Pressemitteilung
http://www.bmgesundheit.de/presse/2000/2000/37.htm

AMGEN - Internet Guide - Gentherapie und Genomics
http://www.amgen.de/internet/tx_gen.html

Reproductive techlologies
http://www.acusd.edu/ethics/reproductive_technologies.html

Bioethics.Net
http://www.med.upenn.edu/bioethics/library/

Mending Broken Genes
http://www.foxnews.com/science/popsci/genetherapy1.sml

SCID - Homepage
http://www.scid.net/

New York Times - Health: Gene Therapy
http://www.nytimes.com/library/national/science/health/gene-therapy.html

DRZE - Links
http://www.drze.de/links/index_html?la=de

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