Nr. 22/2000

Prädikat wertvoll


 Von Andreas Sentker

Babys nach Maß, Organe aus der Retorte, Gentherapien, die das Erbgut von Generationen verändern - die Möglichkeiten eines Missbrauchs der Biomedizin sind erschreckend. Schon wächst der Druck auf werdende Mütter, das ungeborene Kind auf Erbschäden untersuchen zu lassen. Der Horrorvision einer genetisch perfektionierten und homogenisierten Gesellschaft stehen jedoch beachtliche Möglichkeiten gegenüber, individuelles Leid zu verhindern.

Die Verheißungen der Wissenschaft spalten die Gesellschaft. Die einen fordern, bestehende Gesetze zu lockern, um deutschen Forschern und Ärzten den Anschluss an die internationale
Der Pragmatismus der Amerikaner kann kein Vorbild sein. Die deutsche Politik muss entscheiden, welchen rechtlichen Status der Embryo in Labor und Arztpraxis haben soll
Entwicklung zu ermöglichen; andere wollen vorsorglich alles verbieten, was an den Kern des Lebens rührt.

Was darf die Fortpflanzungsmedizin? Welche Grenzen darf sie nicht überschreiten? Darüber diskutieren diese Woche in Berlin auf Einladung des Bundesgesundheitsministeriums Mediziner, Philosophen, Theologen und Juristen. Es geht vor allem um drei Punkte:

Erstens: Ist die genetische Auswahl im Reagenzglas gezeugter Embryonen - die so genannte Präimplantationsdiagnostik (PID) - erlaubt?

Zweitens: Dürfen embryonale unreife Zellen - so genannte Stammzellen - zur Züchtung von Gewebe und Organen verwendet werden?

Drittens: Ist bei Erbschäden eine Keimbahntherapie zulässig, ein genetischer Eingriff, der nicht nur den Embryo selbst, sondern auch seine Nachkommen betrifft?

Obwohl diese Fragen angesichts der medizinischen Entwicklung dringend nach einer Antwort verlangen, steht dahin, ob sich die Experten in Berlin ihnen mit der gebotenen Gewissenhaftigkeit zuwenden können. Denn der Streit um das neue Fortpflanzungsmedizingesetz ist prinzipieller Natur. Selbst die Befürworter eines solchen Gesetzes sind sich nicht einig. Soll es nur die Rahmenbedingungen für die Arbeit der Forscher und Ärzte festlegen und für künftige Entwicklungen offen sein? Oder soll es Reproduktionsmedizin und Gentherapie umfassend regeln und konsequenterweise neben dem bisherigen Embryonenschutz auch den Abtreibungsparagrafen 218 integrieren?

Bedarf es überhaupt eines neuen Gesetzes? Das deutsche Embryonenschutzgesetz gehört zu den strengsten der Welt. Und doch ist es ein typischer Kompromiss der föderalen Republik, mangels Gesetzgebungskompetenz des Bundes unvollständig und auf strafrechtliche Regelungen beschränkt. Denn als das Gesetz am 1. Januar 1991 in Kraft trat, war die Gesundheitsgesetzgebung in Deutschland noch Ländersache.

Erst mit einer Änderung des Grundgesetzes wurde 1994 die Gesetzgebungskompetenz des Bundes in diesem Bereich vervollständigt. Endlich bestand die Möglichkeit, auf Bundesebene angemessen zu reagieren und eine breite gesellschaftliche Debatte zu beginnen. Und dann geschah - nichts.

Zu heikel war den Politikern das Thema. Erst nach der Geburt des Klonschafes Dolly berief das Bundesjustizministerium eine Arbeitsgruppe, die den juristischen Handlungsbedarf prüfen sollte. Die Experten schlugen jedoch nur kosmetische Änderungen des alten Regelwerks vor. Dabei ist ein grundlegend überarbeitetes, in sich geschlossenes Gesetzeswerk dringend notwendig.

Vor allem die Länder drängen auf eine rasche Lösung. Auch die Bundesärztekammer setzt die Regierung unter Druck. Sie legte im Februar einen Diskussionsentwurf zur PID vor und signalisierte damit, sie werde die Embryonenauslese - wenn die Politik nicht handele - standesrechtlich regeln. Wie schon vor 20 Jahren die Retortenbefruchtung.

Im Kern geht es um die Frage, wie umfassend der Gesetzgeber regulierend in einen Bereich eingreifen darf, dessen Entwicklungen noch gar nicht abzusehen sind. Zwei Faktoren zwingen zu einem juristischen Balanceakt: die medizinisch-technische Entwicklung und der fast ebenso rasche Wertewandel in der Gesellschaft. Löste die Geburt von Louise Brown, dem ersten Retortenbaby, 1978 noch weltweites Entsetzen aus, so ist heute die künstliche Befruchtung weitgehend akzeptiert. Wer dem medizinischen Fortschritt keine allzu engen Fesseln anlegen will, muss ein gewisses Maß an Rechtsunsicherheit hinnehmen. Unvermeidbar neu auftauchende Detailfragen kann der Gesetzgeber ohnehin nicht von vornherein regeln.

Immerhin besteht jetzt endlich die Chance, die politischen Rahmenbedingungen zu definieren und so einem möglichen Missbrauch vorzubeugen. "Der Akzent verschiebt sich von der ethischen Problematik auf eine Frage der politischen Philosophie: Wie soll mit dem Problem menschlicher Embryonen in vitro politisch praktisch umgegangen werden?", fragt der Münsteraner Philosoph Kurt Bayertz.

Der Pragmatismus der Amerikaner kann kein Vorbild sein. Die US-Regierung hat die öffentliche Förderung der Embryonenforschung schlicht eingestellt, das Feld privaten Firmen überlassen und sich auf diese Weise um eine Entscheidung zwischen ökonomischem Interesse, medizinischem Nutzen und ethischem Verhalten gedrückt.

Die deutsche Politik muss jetzt entscheiden, welchen rechtlichen Status der Embryo im Reagenzglas haben soll - und ob es tatsächlich berechtigte Interessen gibt, den bestehenden Schutz einzuschränken. Dringender noch als eine nationale Regelung ist eine internationale Übereinkunft als Antwort auf die globalisierte Forschung und den schon jetzt zu beobachtenden Reproduktionstourismus in europäische Nachbarländer.

Der Europarat verabschiedete am 4. April 1997 das Übereinkommen über Menschenrechte und Biomedizin. Der völkerrechtlich verbindliche Vertrag trat am 1. Dezember 1999 in Kraft und wurde bisher von 28 der 41 Staaten des Europarats unterzeichnet. Deutschland ist nicht dabei. Dabei garantiert allein die Teilnahme der Deutschen, dass sie nicht nur unter sich diskutieren, sondern die ethischen Mindeststandards auch auf europäischer Ebene mitbestimmen. Anders als viele Kritiker der Konvention behaupten, wäre die Unterschrift der Regierung keine "ethische Bankrotterklärung". Nichts hindert die Deutschen, ihre Paragrafen strenger zu formulieren.

Ein Konsens dazu zeichnet sich ab. Leider ist das wünschenswerte umfassende Gesetz, das die medizinisch unterstützte Fortpflanzung, den Umgang mit dem Embryo im Labor, aber auch die Abtreibung regelt, nicht in Sicht. Gesundheitsministerin Fischer will den Paragrafen 218 nicht antasten. Immerhin ist die PID, glaubt man einem Gutachten der Bioethik-Kommission des Landes Rheinland-Pfalz, schon jetzt mit dem bestehenden Gesetz vereinbar. Die Bundesärztekammer hat mit ihrem Richtlinienentwurf einen sinnvollen Weg im Umgang mit der heiklen Embryonenauslese aufgezeigt: strikte Beschränkung auf schwerste Erbleiden.

Im Umgang mit embryonalen Stammzellen ist dagegen Zurückhaltung angebracht. Es gilt, andere, bereits bestehende Möglichkeiten zu prüfen. Auch bei Verzicht auf diese Forschung an menschlichen Embryonen wird die medizinische Forschung in Deutschland den Anschluss nicht verlieren. Noch arbeiten die Wissenschaftler weltweit an Tiermodellen. Diese Experimente sind hierzulande erlaubt und - nebenbei bemerkt - im internationalen Vergleich sehr erfolgreich.

Unerlaubt bleibt der genetische Eingriff am Menschen, der auch seine Nachkommen betrifft, die so genannte Keimbahntherapie. Der Berliner Genetiker Jens Reich bezeichnet die entsprechende Forschung schlicht als "abenteuerlich", und er hat Recht. Ohnehin erwarten selbst optimistische Visionäre einen Erfolg der Keimbahneingriffe frühestens in einigen Jahren. Dann darf man getrost über neue Gesetze nachdenken. Jetzt heißt es diesbezüglich: Verbieten!

Unter www.zeit.de/links/ erhalten Sie weitere Informationen zum Thema.

 Artikel zu diesem Thema:

DIE ZEIT 22/2000: Der perfekte Keim des Lebens
200022.gentherapie_.html

DIE ZEIT 1/2000: Die stille Selektion. Pränatale Diagnostik hilft, Behinderungen früh zu erkennen. Paare müssen sich
200001.praenataldiagnos.html

DIE ZEIT 34/1999: Deutsche Forscher züchten menschliche Organe im Reagenzglas
199934.ohrmacher_.html

DIE ZEIT 47/1999: Droht der Gentherapie nach einem Todesfall das Aus?
199947.gentherapie_.html


Links zu diesem Thema:

Bundesgesundheitsministerium - Pressemitteilung
http://www.bmgesundheit.de/presse/2000/2000/37.htm

AMGEN - Internet Guide - Gentherapie und Genomics
http://www.amgen.de/internet/tx_gen.html

Reproductive techlologies
http://www.acusd.edu/ethics/reproductive_technologies.html

Bioethics.Net
http://www.med.upenn.edu/bioethics/library/

Mending Broken Genes
http://www.foxnews.com/science/popsci/genetherapy1.sml

SCID - Homepage
http://www.scid.net/

New York Times - Health: Gene Therapy
http://www.nytimes.com/library/national/science/health/gene-therapy.html

DRZE - Links
http://www.drze.de/links/index_html?la=de

© beim Autor/DIE ZEIT 2000 Nr. 22
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