Ironische Physik im Megakosmos | ||
Der Nobelpreisträger Steven Weinberg über Schwächen des Standardmodells und die Suche nach der endgültigen physikalischen Theorie
Steven Weinberg
erhielt 1979 zusammen mit zwei Kollegen den Physiknobelpreis für die Feldtheorie, in der sie die schwache und die elektromagnetische Wechselwirkung vereinten. Populär wurde Weinberg durch seinen Bestseller "Die ersten drei Minuten" über den Urknall. Er glaubt zwar nicht an Gott, aber an die Existenz einer physikalischen "Weltformel"
DIE ZEIT: Sie dürften derzeit sehr zufrieden sein: Das Neutrino hat eine Masse, wie jüngst in Japan nachgewiesen wurde.
Steven Weinberg: Ja, ich bin glücklich. Wir Physiker leben seit bald dreißig Jahren mit dem Standardmodell - einer Theorie der Elementarteilchen, die nicht die letzte Antwort sein kann. Denn dieses Modell ist weder so vollständig noch so elegant, wie wir das von einer endgültigen Theorie erwarten. Deshalb wurde seit Jahren nach Effekten gesucht, die auf eine umfassendere physikalische Theorie hinweisen.
ZEIT: Ist die Neutrinomasse solch ein Effekt?
Weinberg: Sogar ein sehr wichtiger. In früheren Messungen schien das Neutrino masselos zu sein, obwohl dieses Teilchen nach unserer Spekulation eine kleine Masse besitzen sollte.
ZEIT: Hat Sie das Resultat der japanischen Forscher also nicht überrascht?
Weinberg: Es war sehr wahrscheinlich.
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Das Standardmodell verbietet es den Neutrinos ja nicht, Masse zu besitzen. Und etwas allgemein formuliert, geschieht in der Physik alles, was erlaubt ist. ZEIT: Ist die Frage der Neutrinomasse nun definitiv beantwortet? Weinberg: Daß Neutrinos eine Masse besitzen, ist nur die allerwahrscheinlichste Erklärung, kein Beweis. Wir sind noch nicht am Ende, aber einen wichtigen Schritt weiter ... ZEIT: ... auch auf der Suche nach der endgültigen Theorie, an die Sie glauben? Weinberg: Nur qualitativ. Das Experiment in Japan legt nahe, daß es eine Physik jenseits des Standardmodells gibt und einen Weg, diese Physik zu studieren. Aber die Ergebnisse führen uns nicht zur endgültigen Theorie, nicht einmal zur nächsten Theorie. Die Physiker arbeiten hart an der Ablösung des Standardmodells, und viele denken dabei an eine der Stringtheorien, in denen die Gravitation mit den anderen Kräften vereint wird. Das japanische Resultat allein hilft uns jedoch nicht, die richtige Stringtheorie aus allen möglichen herauszufiltern. ZEIT: In Ihrem Buch "Die ersten drei Minuten" beschreiben Sie die Anfänge des Universums. Wissen Sie heute auch mehr über die letzten drei Minuten? Weinberg: Immer mehr deutet darauf hin, daß es nicht genug Materie gibt, um die Expansion zu stoppen. |
Dann würde das Universum immer kälter, die Sterne würden erlöschen - falls man mit Universum jenes meint, das wir sehen können. Es gibt aber auch Spekulationen, daß unser Big Bang nur ein kleiner Windstoß in einem größeren Megauniversum war. Käme unser Big Bang zu einem Ende, würden viele andere Big Bangs überall neue Universen entstehen lassen. Wir wissen ja auch nicht genau, was ganz am Anfang geschah. Ich kann Ihnen sagen, wie es etwa drei Minuten, eine Minute oder sogar eine Hundertstelsekunde danach ausgesehen hat, aber weiter zurück geht es nicht. ZEIT: Ist das Megauniversum nicht ein Beispiel für das, was Kritiker als "ironische Physik" jenseits unserer Vorstellungskraft bezeichnen? Weinberg: Von Zeit zu Zeit entdecken die Wissenschaftler, daß ihre Theorien zwar nicht falsch sind, aber ein viel kleineres Gebiet abdecken, als anfangs gedacht. Es ist sicher beunruhigend, daß unser Universum Teil eines Megauniversums sein könnte und daß das, was wir sehen, der winzigste Teil davon ist. Wenigstens ist die Vorstellung verschiedener Universen sehr interessant, weil sie uns helfen könnte zu verstehen, warum die Naturkonstanten bei uns genau den Wert haben, den wir messen. |
ZEIT: Hat es denn Sinn, Theorien über kleinste Teilchen oder Strings zu entwerfen, die experimentell nie nachgewiesen werden können? Weinberg: Vielleicht werden wir nie in der Lage sein, den Stringcharakter der Teilchen nachzuweisen, aber das meiste von dem, was wir heute wissen, haben wir aus indirekter Beobachtung gelernt. Vor allem in der Physik des sehr Großen und sehr Kleinen. Würde eine Theorie für alle numerischen Parameter wie Masse oder Ladungen den richtigen Wert liefern, wäre das ein starkes, indirektes Argument dafür, daß wir die richtige Theorie haben. ZEIT: Die Symmetrie spielt in den Theorien der modernen Physik eine zentrale Rolle. Wird damit nicht ein Prinzip beschworen, das seine Wurzeln im Kulturellen hat? Weinberg: Meist sind damit Invarianzen gemeint. Ein klassisches Beispiel ist die spezielle Relativitätstheorie. Symmetrie bedeutet dort die Invarianz der Naturgesetze, die unabhängig davon gelten, wie schnell sich ein Beobachter bewegt. Im Alltag denkt man bei Symmetrie an die beiden Gesichtshälften oder an rechts und links. Würden die Physiker konsequent von Invarianz reden, wäre die Verwirrung kleiner. ZEIT: Müßte demnach die Sprache der Physiker reformiert werden? Weinberg: Physiker nutzen die Sprache oft so, wie es für sie bequem ist, und produzieren dabei manchmal schreckliche Konfusionen. |
Aber dieses Problem läßt sich nicht lösen. Wir können nur versuchen, immer wieder zu erklären, was gemeint ist. ZEIT: Heißt das nicht auch, daß sich Physik und Philosophie wieder näherkommen? Weinberg: Von der Lektion der Philosophie, daß vieles, was uns verwirrt, eigentlich Sprachprobleme sind, können wir Physiker durchaus profitieren. So wenden alle Physiker die Quantenmechanik gleich an, debattieren aber endlos darüber, wie sie zu interpretieren sei. Darüber hinaus sehe ich keine großen Berührungen zwischen Physik und Philosophie. ZEIT: Und warum treffen Sie sich regelmäßig mit Gleichgesinnten, um über Poesie zu reden? Weinberg: Es ist ein Vergnügen, Gedichte vorzutragen, wenn andere zuhören müssen. ZEIT: Woran forschen Sie heute? Weinberg: Ich habe soeben einen Artikel über mathematische Eigenschaften der Supersymmetrietheorien veröffentlicht und schreibe am dritten Band meiner "Quantum Theory of Fields". Zudem schreibe ich Artikel in der New York Review of Books über Themen, die mit der Stellung der Wissenschaft in der Kultur zu tun haben, im Moment über Thomas S. Kuhn. ZEIT: Erfolgreiche Physiker sind entweder Weise oder Magier, schreiben Sie. |
Was sind Sie? Weinberg: Ich wollte damit auf die Analogie der Rollen hinweisen, die Magier und Weise einst spielten, und derjenigen der Physiker heute. Damit spreche ich zwei verschiedene Stile an, Physik zu betreiben. ZEIT: Welchen Stil pflegen Sie? Weinberg: Darauf mag ich nicht antworten, das ist mir peinlich. ZEIT: Die US-Regierung hat das Projekt des Super-Colliders gestoppt, nun erhält Europa die Chance, auf dem Gebiet der Hochenergiephysik führend zu werden. Grämt Sie das? Weinberg: Als Theoretiker kümmert es mich nicht, woher die Daten kommen, aber als Amerikaner bin ich natürlich traurig. In Europa dürften nun über viele Jahre die aufregendsten Entdeckungen der Physik gemacht werden. ZEIT: Ist dies nicht auch eine Chance, sich weniger teure Experimente auszudenken? Weinberg: Beschleuniger sind nicht die einzige Möglichkeit, Informationen über die Welt zu erhalten. Leider hatten einige Wissenschaftler sogar die stupide Idee, daß die frei werdenden Gelder in andere Forschungen fließen würden. Das war nicht der Fall. ZEIT: Kann das Universum als Teilchenlaboratorium dienen? Weinberg: Fragen über das ganz Kleine müssen wir auf der Erde studieren. |
Die Ergebnisse werden großen Einfluß auf die Kosmologie haben. Ich wette, daß nicht Astronomen, sondern Physiker herausfinden werden, was es mit der dunklen Materie auf sich hat. ZEIT: Worin liegt für Sie der Unterschied zwischen Physik und Mathematik? Weinberg: Ein Mathematiker ist erst glücklich, wenn er etwas bewiesen hat. Physiker sind meist nicht um Gewißheit besorgt - wie wir alle im täglichen Leben. Wir haben guten Grund anzunehmen, daß die Sonne jeden Morgen aufgeht, und ich habe guten Grund sicher zu sein, daß das Photon keine Masse hat. Es beunruhigt mich nicht, ob das nun sicher ist oder nicht. Wir arbeiten nicht mit Beweisen, wir arbeiten mit vernünftigen Wahrscheinlichkeiten. ZEIT: Falls eine endgültige Theorie existiert, wird sie irgendeine für uns Menschen nützliche Anwendung haben? Weinberg: Man weiß nie im voraus, welche technischen Fortschritte aus der Theorie folgen können. Hätte man im Cavandish-Labor der Cambridge-Universität Ende des 19. Jahrhunderts an praktischen Dingen gearbeitet, dann wahrscheinlich an Dampfkesseln. Dagegen interessierte man sich für so unpraktische Dinge wie die Kathodenstrahlung und entdeckte dabei das Elektron, das heute die Basis der meisten technischen Geräte ist. |
ZEIT: Werden wir wenigstens eine Chance haben, die endgültige Theorie zu verstehen? Weinberg: Als Newton die Bewegungsgesetze der Planeten fand, wurden sie seinerzeit auch nicht unmittelbar verstanden. Heute sind sie Allgemeingut. Wichtig war damals aber, daß das Universum von mathematischen Gesetzen regiert wird und die Menschen fähig sind, diese zu verstehen. Wenn wir die letzten Regeln, die das Universum steuern, in endgültiger Form kennen, wird allein die Tatsache, daß wir das erreicht haben, kulturell wichtig sein. Je mehr man sich den fundamentalen Dingen nähert, um so weiter entfernt man sich vom täglichen Leben. Es wächst die Überzeugung, daß die endgültige Theorie nicht einmal mehr auf Begriffe wie Raum und Zeit zurückgreifen wird. ZEIT: Eine kaum nachvollziehbare Vorstellung. Weinberg: Auch für mich. Ich kann nicht positiv formulieren, wie die endgültige Theorie aussehen wird. Bisher haben wir Raum und Zeit immer als etwas gesehen, das auch auf fundamentaler Ebene existiert. Bei der Suche nach der endgültigen Theorie arbeiten wir nun aber mit Entitäten, die man sich zum Beispiel als Felder vorstellen kann. Nur wenn diese entweder sehr große oder sehr kleine Werte annehmen, lassen sie sich sinnvoll als in Raum und Zeit existierend denken. |
Vielleicht braucht es Jahrzehnte oder Jahrhunderte, um sich daran zu gewöhnen, daß bei Dingen, an die wir denken, Aspekte der Realität nur in bestimmten Kontexten erscheinen. Aber wir haben ja bereits andere gewohnte Konzepte aufgegeben, wie die, daß Elementarteilchen Größe und Form wie gewöhnliche Objekte haben. Dafür haben sie Energie, Impuls und Spin. ZEIT: Auch Roger Penrose beschäftigt sich mit ziemlich abstrakten Konzepten. Folgen Sie ihm? Weinberg: Nein. Natürlich kenne ich seine Idee, die Quantenmechanik sei notwendig, um das Bewußtsein zu verstehen. Aber da bin ich skeptisch. ZEIT: Wie ist Ihr Verhältnis als erklärter Atheist zur Religion? Weinberg: Anders als andere Physiker nehme ich die Religion ernst. Ich bin mir über ihren großen historischen und aktuellen Einfluß auf die Menschen bewußt. Wenn tatsächlich ein Gott über uns wacht, wäre das die wichtigste Sache der Welt. Nur glaube ich nicht dran. ZEIT: Wäre der Physiker, der als erster die endgültige Theorie formuliert, zumindest für kurze Zeit eine Art Gott? Weinberg: Wenn es einem Physiker gelänge, die endgültige Theorie zu entdecken: Von dem historischen Gottesbegriff würde das nicht gedeckt - selbst wenn ich der Glückliche wäre (lacht). |
Das Interview führte Andre Behr © beim Autor/DIE ZEIT 1998 Nr. 30All rights reserved. |