Besonders im ländlichen Süden der USA fällt es den Menschen schwer, nicht zu glauben, daß Katholiken und Juden gemeinschaftlich das Wasser mit Fluor vergiftet haben, um der weißen Bevölkerung das Gehirn zu vernebeln - auch wenn Wissenschaftler immer wieder beteuern, daß Fluor einfach nur gut für die Zähne ist. Diese kritischen Köpfe haben sich von der angeblichen Mondlandung am 20. Juli 1969 nie täuschen lassen: Was man auf dem Fernsehschirm sah, war kein großer Schritt für die Menschheit, sondern ein gigantisches Betrugsmanöver der Nasa, um dem rechtschaffenen Bürger noch mehr Steuergeld aus der Tasche zu ziehen. Die Landung wurde in einem Canyon in Utah gedreht, die Astronauten waren hochbezahlte Agenten und zu strengstem Stillschweigen verpflichtet. Aber einem Southerner, der seine Winchester immer am rechten Fleck trägt, macht man nichts vor. Yo!
Plausibilität: hat stark nachgelassen, seit Hollywood mit Tom Hanks in "Apollo 13" gezeigt hat, daß man einen viel besseren Film als die Nasa drehen kann und dafür noch nicht mal auf den Mond muß
Originalität: geht so
Anhänger: genug
Aids - aus dem Labor der CIA
Seit Ende der siebziger Jahre wird eine ziemlich große Minderheit durch eine mysteriöse Krankheit systematisch ausgerottet. Das kann doch nicht mit rechten Dingen zugehen! Ganz klar: Das Aids-Virus stammt aus einem Geheimlabor der CIA. Ein Blick nach Afrika bestätigt den schrecklichen Verdacht: Weil Amerika die Macht der schwarzen Völker fürchtet, hat die CIA dort das Virus als erstes freigesetzt. Sie tat das aus purem Rassismus, in den USA und in Westeuropa später aus Schwulenfeindlichkeit. Seltsam: Arbeiten in der Riesenbehörde CIA eigentlich keine Schwarzen und Schwulen?
Plausibilität: Einem Geheimdienst ist alles zuzutrauen
Originalität: nicht schlecht
Anhänger: ein Teil der Kranken, zuletzt auch die "Prawda"
Der Kennedy-Mord
Jedermanns Lieblingsverschwörung. Die Mafia, Fidel Castro, Lyndon B. Johnson, FBI/CIA/ Secret Service und natürlich die Russen konspirierten mit dem militärisch-industriellen Komplex, um den 35. Präsidenten der Vereinigten Staaten umzubringen. Lee Harvey Oswald mußte den Sündenbock machen. Doch was wußte Jimmy Hoffa? Wo steckte Richard Nixon? War Robert Kennedy neidisch auf den großen Bruder? Hatte Ronald Reagan wirklich ein wasserdichtes Alibi? In den 34 Jahren seit dem Attentat hat jeder JFK-Experte einen Fernkurs in Ballistik belegt und kennt im Detail die Flugbahn der Kugeln, die den Präsidenten in der Limousine trafen. Höchste Zeit also für eine neue Variante, eine hochgeheime Verschwörungstheorie, die so naheliegend ist, daß keiner sie auszusprechen wagt: Bill Clinton und Oliver Stone ermordeten Kennedy. Schon als Kinder wußten sie, daß der eine Regisseur, der andere Präsident werden wollte. Stone kriegte seinen Filmstoff, Clinton die Stimmen der Wähler.
Plausibilität: schon möglich
Originalität der Oswald-Variante:
gewaltig
Anhänger: alle. Oswald als erfolgreicher Einzeltäter wäre auch zu traurig
Das Chaos: ein Schwindel
Seit Jeff Goldblum die Chaostheorie in dem Film "Jurassic Park" erklärte, glaubt jeder Depp daran. Die Theorie geht ungefähr so: Womöglich löst bereits der zarte Flügelschlag eines Schmetterlings in Borneo eine Kettenreaktion aus und bringt Regen in die Sahelzone, während in Europa die Eiszeit wiederkehrt und ganz Nordamerika im Meer versinkt. Alles nur, weil der Falter nach links statt nach rechts abdrehte! Dieser größte Quatsch, seit Wilhelm Reich auf dem Orgon-Stuhl Platz nahm, verhalf den Hippies endgültig zur Macht - statt der guten alten Vernunft regiert die Fuzzy-Logik. Weiter schlimm ist das nicht und in seiner placebohaften Harmlosigkeit nicht einmal rezeptpflichtig. Wenn wir nur alle miteinander für dreißig Sekunden die Augen schließen und an schöne Dinge denken, beispielsweise an ein Tagpfauenauge im Orchideenhain, gebieten wir vielleicht sogar dem El Ni¤o Einhalt und der bösen Technomusik obendrein.
Plausibilität: keine
Originalität: so originell wie die Nachricht, daß in Peking ein Sack Reis umfällt
Anhänger: seit Steven Spielbergs Nachhilfestunde alle
Kaspar Hauser war ein Fürstensohn
Der Knabe Kaspar stand 1828 wie vom Monde gefallen auf dem Nürnberger Unschlittplatz, ein Brieflein in der Hand und heftig verstört. Königliche Herr- und englische Lordschaften buhlten um ihn, Rosenblätter malte er, Bürobote wurde er, doch dunkel blieb seine Rede, bis ein Stilett ihn meuchlings traf. Warum und warum er? Ein Unbekannter sei von einem Unbekannten getötet worden, steht kryptisch auf einem Denkstein für das "Kind Europas". War Kaspar der Erbprinz von Baden, von Neidern aus der Wiege geraubt und vertauscht? Ein Nachfahr des Europa überrennenden Napoleon gar? Wurde er umgebracht, weil sonst Europas dynastisches Gefüge durcheinandergeraten wäre? Ach, Kaspar! Neuerdings wühlen sie sogar in deiner DNS.
Plausibilität: gering
Originalität: Minimal. Denn Kaspar Hauser ist ein Plagiat - das vertauschte Findelkind ziert seit der Romantik jeden Roman von Eichendorff bis Vulpius
Anhänger: jeder - außer dem Hause Baden
Der Bruder des Sonnenkönigs
Ludwig XIV., der Sonnenkönig, hatte einen nur wenige Minuten älteren Zwillingsbruder, der 1638 aus der Wiege geraubt und verschleppt wurde. Finstre Übelbolde, auch höchstgestellte Persönlichkeiten hielten den Mann jahrzehntelang in einem dunklen Verlies gefangen, sein Gesicht in eine eiserne Maske geschmiedet, damit ihn die Ähnlichkeit mit der angemaßten Majestät nicht verriete. Sterben durfte der verhinderte König nicht, das wäre ein Frevel an seinem Gottesgnadentum gewesen - leben aber erst recht nicht. So schmachtete er hin, der erste Zombie der westlichen Welt. Für solch eine Geschichte würden die Herz- und Kroneblätter heute sofort das Scheckbuch aus der Tasche ziehen.
Plausibilität: Dafür sorgten Alexandre Dumas und weitere Kolporteure
Originalität: seinerzeit okay
Anhänger: alle Adelsfans, die auch um Diana weinten
Der Fluch der Pharaonen
1922 entdeckte der britische Archäologe Howard Carter tief im Wüstensand ein Pharaonengrab, das den Mumienschändern der letzten dreißig Jahrhunderte mysteriöserweise entgangen war - die Grabkammer Tutanchamuns, der als Herrscher von mystischen Gedanken angekränkelt gewesen war. Was also lag näher als die Vermutung, eine eifersüchtige Priesterkaste habe ihn beseitigt? Jedenfalls starben alle Grabräuber, Howard Carter eingeschlossen, wie die Fliegen. Der Fluch der bösen Tat? Oder ein heimtückischer Schimmelpilz? Demnächst mehr in den Mystery-Serien "Akte X" und "Millennium".
Originalität: warum nicht?
Plausibilität: "Wer hier eintritt, lasse allen Verstand draußen" (zeitgenössische Inschrift über einer oberägyptischen Grabkammer)
Anhänger: seit New Age doch wenigstens der fühlende Teil der Menschheit
Die neue Weltordnung
Das Bombenattentat von Oklahoma City war nicht die Tat verwirrter Rechtsradikaler, dahinter steckt die Uno. Die Uno? Na klar: Die Vereinten Nationen sind gar kein bürokratischer Koloß, der gegen Kriege und alles Unglück der Welt kämpft - im New Yorker Hauptquartier wird an einem Plan gebastelt, die Welt zu unterwerfen. Natürlich mußten erst einmal die Milizen ausgeschaltet werden, die letzten Verteidiger der freien Welt - das Attentat von Oklahoma war dafür nur der Vorwand. Hunderttausende von Soldaten hat die Uno bereits heimlich angeheuert, darunter die Street Gangs von Los Angeles. Ihre Manöver verwüsteten die Äcker von Montana, wache Bürger sichteten dort unheimliche schwarze Helikopter. Die republikanische Kongreßabgeordnete Helen Chenoweth aus Idaho erzwang deshalb eine parlamentarische Anhörung, und ihr religiöser Parteifreund Pat Robertson lieferte mit seinem Buch "The New World Order" das Stichwort für diese Verschwörungstheorie. Na- türlich wurde trotzdem wieder alles vertuscht.
Plausibilität: voll daneben
Originalität: groß; auf so was kommt nicht einmal Gerhard Frey, der Vorsitzende der Deutschen Volksunion
Anhänger: die wahren Amerikaner
Die Verschwörung der Rabbis
Die Mutter aller Verschwörungstheorien. In Rußland saßen gegen Ende des 19. Jahrhunderts ein paar jüdische Rabbis zusammen und beschlossen, sich gegen das christliche Abendland und den Rest der Welt zu verschwören. Seltsamerweise ist es ihnen in mehr als hundert Jahren nicht gelungen, obwohl ihr Brüten als "Die Protokolle der Weisen von Zion" in die Verschwörungsliteratur einging. Adolf Hitler wollte der Retter sein, die angebliche jüdische Weltverschwörung verhalf ihm zur Macht. Selbst der Mystagoge unter den zeitgenössischen Historikern, Ernst Nolte, scheint von dieser Verschwörungsidee verzaubert zu sein: Für ihn war Hitler offenbar im Recht, weil der auf die private Kriegserklärung Chaim Weizmanns, des Präsidenten der Zionistischen Weltorganisation, mit Auschwitz und dem Zweiten Weltkrieg reagierte.
Plausibilität: keine
Originalität: bescheiden
Anhänger: alle Narren dieser Welt
Killer morden Papst
Als der Nachfolger des reaktionären Paul VI. nach nur wenigen Monaten Amtszeit 1978 starb, erhob sich ein gewaltiges Gewisper um den Toten: Johannes Paul I. habe sich mit seinen Liberalisierungswünschen gegen die Kurie gestellt, diese sich gegen ihn verschworen. Und standen nicht auch die vatikanischen Finanzen auf dem Spiel? Von ferne grüßte die italienische Mafia, und der Russe hatte sowieso nichts Besseres zu tun, als einen Killer in die päpstlichen Gemächer zu schicken. Die Einsamkeit des Mannes, dazu ein prosaischer Herzinfarkt im Amt, das war offenbar weit weniger erträglich als eine spätmittelalterliche und mindestens weltumspannende Räuberpistole. Daß gelegentlich auch Paranoiker recht haben, erwies sich drei Jahre später, als Ali Agca im Auftrag des bulgarischen und womöglich sogar des sowjetischen Geheimdienstes auf Papst Johannes Paul II. schoß
Plausibilität: bescheiden
Originalität: nicht besonders
Anhänger: unterforderte Barschel-Mordkomplotteure
(C) DIE ZEIT 14.11.1997 Nr.47