21/2000
Jetzt reicht es. Das fanden diesmal nicht nur die Gegner der Waldorfpädagogik, sondern auch die Waldorfschüler selbst. Mit einer Demonstration mitten in Berlin protestierten die Jugendlichen gegen die Anschuldigungen, die wieder einmal gegen ihre Schulen laut wurden. In der belebten Touristenmeile an der Nikolaikirche informierten sie darüber, was die Waldorfschulen pädagogisch wollen und tun, und reichten dazu - waldorfgerecht - eine kostenlose Gemüsesuppe.
Der Anlass für die ungewöhnliche Kundgebung war brisant: Ein Beitrag des ARD-Magazins Report bezichtigte die Waldorfschulen rechtslastiger, antisemitischer Umtriebe. Fazit
der Geschichte: Nachgewiesen werden konnte nichts, der Rufschaden freilich bleibt. Doch der Vorfall hatte auch sein Gutes, sagt Detlev Hardorp, bildungspolitischer Sprecher der Waldorfschulen in Berlin: "Dass sich unsere Schüler in der Öffentlichkeit für ihre Schule stark machen, ist ganz was Neues."
Dabei können die Waldorfschulen durchaus als Erfolgsmodell gelten. Anfang des vergangenen Jahrhunderts gründete Rudolf Steiner, der Vater der Anthroposophie, die erste Schule für die Kinder der Arbeiter an der Zigarettenfabrik Waldorf-Astoria. Seitdem haben seine Schulideen zunehmend mehr Anhänger gefunden. Knapp 200 Waldorfschulen gibt es mittlerweile in Deutschland, 800 weltweit, in Japan ebenso wie in Israel und den USA. Seit über 80 Jahren führen sie vor, was die staatliche Pädagogik für unmöglich erklärt: ein radikales Gesamtschulmodell ohne Sitzenblei- ben und Zensuren, ohne Leistungsdruck und staatliche Schulaufsicht. Die Waldorfschüler lernen vom ersten Schuljahr an zwei Fremdsprachen, daneben stehen Malen, Töpfern, Musizieren oder Gartenbau auf dem Lehrplan. Nach dem 10. Schuljahr werden die Schüler getrennt: Die einen gehen mit einem Schulabschluss nach 12 Jahren ab. Der Rest bereitet sich mit einem zusätzlichen 13. Jahr auf das Abitur vor. Eine Zahl spricht für sich: 50 Prozent aller Eltern von Waldorfschülern sind Staatsschullehrer.
Doch die heile Schulwelt aus Eurythmieunterricht, schiefen Ecken und weichen Farben hat Risse bekommen. Die Waldorfschulen werden aus ihrer pädagogischen Kuschelecke vertrieben. Die Kritik an veralteten Unterrichtsformen, die Herausforderungen durch Computer und Internet sowie die veränderten Familienstrukturen machen auch vor den Waldorfschulen nicht Halt.
In Waldorfschulen waren Computer lange unerwünscht. Das ändert sich
Bis heute sind die Schulen "das letzte Refugium für die bildungsbürgerliche Gemütslage", sagt Walter Hiller, Geschäftsführer des Bundes der Freien Waldorfschulen. Prominente wie Helmut Kohl, Klaus von Dohnanyi oder auch die bayerische Schulministerin Monika Hohlmeier vertrauten - ohne selbst überzeugte Anthroposophen zu sein - ihre Kinder lieber einer Waldorfpädagogik an.
Doch die Klientel wandelt sich. 40 Prozent der Waldorfeltern sind heute Alleinerziehende, die ein geringeres Schulgeld zahlen und sich weniger engagieren können. Berufstätige Mütter haben eben wenig Zeit, Plätzchen für den Weihnachtsbasar zu backen; gleichzeitig aber stellen sie höhere erzieherische Ansprüche. "Die erwarten mehr und können weniger beitragen. Damit moralinfrei umzugehen fällt manchem Waldorflehrer schwer", gesteht Hiller.
Auch die neuen Medien zwingen die Waldorfschulen zum Umdenken. Lange Zeit galt in vielen Lehrerzimmern die stille Übereinkunft, den Computer als ein waldorffeindliches Gerät zu betrachten. Das beginnt sich langsam zu ändern. "Sicherlich gibt es bei uns noch viele, die sagen: Wir hatten das nie, wir brauchen das nicht", gesteht Tom Singer-Carpenter, seit 1988 in der Waldorflehrerausbildung in Hamburg tätig. Doch mehr als 50 deutsche Waldorfschulen sind bereits "drin" (www.waldorf.net); 147 der 180 Waldorfschulen in Deutschland bieten EDV-Unterricht.
Der Hamburger Chemie- und Mathematikprofessor Frank Aszmann hatte sich bereits 1985 an seiner Waldorfschule für Computerunterricht stark gemacht - damals unter heftigem Protest seiner Kollegen. Inzwischen gibt er EDV-Unterricht nach Lehrplan: vom Bauen eines logischen Schaltkreises in der zehnten bis zum Schreiben einfacher Programme in der zwölften Klasse. Doch noch immer hänge der EDV-Unterricht an den Waldorfschulen "ganz stark von einzelnen Lehrern und deren Engagement ab", sagt Aszmann.
Eines der größten Probleme vieler Waldorfschulen stellen heute ausgerechnet das Fehlen einer starken Schulleitung und die allenthalben so gepriesene Schulautonomie dar. Waldorfschulen haben keine Direktoren und suchen sich neue Kollegen selber aus. Zwar gibt es einen Dachverband, doch jede Schule ist eine autonome Einheit, die nahezu unkontrolliert schalten und walten kann. Das führt dazu, dass sich die einzelnen Schulen in Qualität und Ausrichtung - orthodox oder modern - stark unterscheiden. Und es hat sich als Hemmnis für Erneuerungen und Qualitätskontrolle herausgestellt. Viele Kollegien igeln sich ein, Kritik untereinander ist verpönt. "Die Idee von der kollegialen Schulführung war immer eine Fiktion", meint Detlev Hardorp, "jetzt ist endgültig klar: Das ist nicht mehr der Stil von heute." Geschäftsführer Hiller sagt es noch deutlicher: "80 Jahre sind manchmal eher ein Ballast als ein Vergnügen."
Die pädagogische Hinterlassenschaft des Schulgründers ist vor allem für engagierte Waldorflehrer nicht nur eine Offenbarung, sonden auch eine schwere Bürde. Die Anforderungen, die Rudolf Steiner an ihre Arbeit stellt, sind hoch. Pädagogik und Erziehung sind für den "Doktor" - so nennen ihn seine Adepten - vor allem eine Kunst. Wie ein Bildhauer hat der Lehrer aus einem "Zögling" herauszuformen, was an Fähigkeiten in ihm steckt, ihn zu "bilden".
Ansprüche, die an der heutigen Schulwirklichkeit oft scheitern. Wie in staatlichen Schulen fühlen sich Waldorflehrer überarbeitet und unterbezahlt, berichtet Ausbilder Singer-Carpenter. Die Zeiten, in denen viele aus Überzeugung Waldorflehrer werden wollten, scheinen vorbei. "Es gibt ein großes Lehrerdefizit", weiß auch Singer-Carpenter. Nur ein Drittel der Pädagogen sind heute noch "richtige" Waldorfpädagogen, also überzeugte Anthroposophen. Die Praxis zeige, sagt Detlev Hardorp, dass häufig gerade beseelte Waldorflehrer pädagogisch Schiffbruch erleiden, während naturtalentierte Quereinsteiger, meist arbeitslose Junglehrer aus dem Staatsbetrieb, besser zurechtkommen. "Das sorgt nicht immer für gutes Klima im Kollegium."Fast sieht es so aus, als verkehrten sich die Muster, als sei der starre staatliche Schulbetrieb in puncto Reformeifer der Reformpädagogik von einst um einiges voraus. Hier hat man längst erkannt, dass die Lehrerausbildung überholungsbedürftig ist. Im Gegensatz dazu geben Waldorfschulen immer noch läppische zwei Prozent ihres Budgets für Nachwuchsbildung aus.
Während man in den Staatsschulen inzwischen damit begonnen hat, sich mit neuen Unterrichtsmethoden zu befassen, wird in Waldorfschulen überwiegend der klassische Frontalunterricht gepflegt. "Da können wir uns mittlerweile einiges abgucken", meint Geschäftsführer Hiller. Auch Waldorfpädagoge Singer-Carpenter sieht das brennendste Problem in dem Verhaften in alten Strukturen, die heute zu starr sind. "Die Waldorfschulen gleichen sich mehr und mehr den einstigen Staatsschulen an, während die sich erneuern."
Gerade beim Thema Computerunterricht könnten Waldorfschulen ihren verloren gegangenen Innovationswillen wiederbeleben, meint Uwe Buemann, der die Waldorfschulen in Sachen Computer berät. Wichtig sei es dabei, die Unterschiede zu den Staatsschulen wieder stärker herauszuarbeiten: So wollen Waldorfschulen keinen Computerunterricht in den unteren Schulstufen etablieren, keine sich schnell ändernden Anwenderprogramme unterrichten. Stattdessen müsse es um eine kritische Auseinandersetzung mit dem Computer gehen, der Maxime ,Erziehung zur Freiheit' entsprechend.
Mitarbeit: Mia Eidelhuber
© beim Autor/DIE ZEIT 2000 Nr. 21
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