Die Gegenzauberer | ||
Zwei prominente Biologen erheben die Naturwissenschaft zum neuen Glaubenssystem
Von Thomas Assheuer
Alles war gut. Die Zeit im Film steht still, und die Liebenden haben sich gefunden. Die Titanic, das Untergangsschiff der Zivilisation, gleitet schwerelos über das Meer; übermütige Delphine treiben in den Bugwellen ihr Spiel. Spielend bewältigt die Technik die Herausforderung der Meere; spielerisch antwortet die Natur auf die Technik des Menschen. David Cameron, der Regisseur, glaubt an die Utopie der Zivilisation. Für ihn besteht nicht in Technik und Wissenschaft der Sündenfall des Menschen, sondern in Übertreibung und Hybris. So kommt es, wie es kommen muß. Auf der Brücke gibt der Reeder Anweisung, das Tempo zu steigern. Die Delphine fallen zurück. Das Verhängnis nimmt seinen Lauf.
Wann immer Hollywood seine Schiffe versenkt, attackiert es die Wissenschaft. Rastlose Forscher, von Ehrgeiz zerfressen, verwandeln die Erde in ein Katastrophenschiff - ohne Natur, ohne Glück und Geschichte. Die Menschen sind nun Gefangene ihrer selbst und müssen im Schweiße ihres Angesichts jenes Desaster in den Griff bekommen, das die Evolution der Wissenschaft angerichtet hat. Absurd? Keineswegs. Folgt man den gängigen Selbstaussagen von Wissenschaftlern, dann werden sie vom Kino bestens verstanden.
|
In der Tat, sagt etwa der Soziobiologe Edward O. Wilson in seinem neuen Buch, die Wissenschaft ist zum künstlichen Horizont des Menschen geworden. Es werde nicht mehr lange dauern, bis Biologen imstande seien, sämtliche Phänomene der Kultur zu erklären. Diese neue Einheit des Wissens (Siedler Verlag) ist für Wilson kein Grund zur Sorge, sondern Anlaß zu neuem Weltvertrauen (siehe S. 42). Wie Wilson ist auch der Biologe Hubert Markl, Präsident der Max-Planck-Gesellschaft, als Optimist der Wissenschaft unterwegs. Mit beneidenswerter Beredsamkeit organisiert er Feldzüge gegen die schwarzen Reiter des Pessimismus, gegen die deutsche "Gemeinschaftspanik" und den "Angststillstand". Dabei unterscheiden sich seine Einsichten zunächst in nichts von den Schwarzmalereien, die die landläufige Kulturkritik unterbreitet. Übervölkerung und Klimakatastrophe, Ausrottung der Arten und Ausbeutung der Schöpfung - auch die Furcht des Biologen ist ein Fluß ohne Ufer; auch ihn erinnert die dramatisch wachsende Menschheit an ein riesiges Schiff, das im Kenterwind des aufziehenden 21. Jahrhunderts steuerlos dahintreibt. Und selbst das, was den Passagieren als Eigenes, als Menschenwerk erscheint, ist in Wahrheit nur der Spielball, mit dem die Naturevolution "sehr detailliert und spezifisch, vor allem aber ganz gezielt" auf sich selbst zurückwirkt. |
In der Gefahr wächst das Rettende auch. Warum, fragt Markl, soll man nicht aus der Geschichte lernen? Während Untergangsapostel den drohenden Eisberg vor Augen haben, sieht er den Silberstreif am Horizont. Zweifel sind nicht mehr erlaubt, jetzt ist Vertrauen gefordert Noch ist Hoffnung; die Gesellschaft, sagt Markl, muß zur Vernunft kommen und endlich die Navigationshilfen der Wissenschaftler nutzen. Gegen die Eisberge des Fortschritts hilft nur immer neuer wissenschaftlicher Fortschritt, auch wenn es am Ende "eine ganz neue, ganz andere Natur" sein wird, die im gentechnisch beschleunigten "Wechselwirken von biologischer und kultureller Natur entstehen wird". Oder gut abendländisch: Nur der Speer, der die Wunde schlug, vermag sie auch wieder zu heilen. Wissenschaft gegen Zukunftsangst lautet der Titel von Markls neuem Buch (C. Hanser Verlag), das die landesübliche Selbstverteidigung der Naturwissenschaften an Formulierungskunst turmhoch überragt. Es sind die Festvorträge der letzten Jahre, und wo immer ein Podium bereitet und ein Mikrofon geöffnet war, da wurden sie auch gesprochen. Wann immer Markl für die wissenschaftliche Verbesserung der Zukunft wirbt, bei der Eröffnung des Neandertal-Museums in Düsseldorf oder bei der CDU in Karlsruhe, ertönen viele Melodien, aber nur ein einziger Refrain. |
Der Referent bittet um "grundsätzliches" Vertrauen, und das sagt er nicht zweimal. Vertrauen ist für Markl eine Vorschußleistung der Gesellschaft gegenüber dem Fleiß ihrer Forscher. Der "wahre Wert und Nutzen reiner wissenschaftlicher Erkenntnis (ist) die Zuverlässigkeit, mit der sich alle Menschen, die von ihr Gebrauch machen wollen, auf sie verlassen können, heute, morgen und immer". Während das Publikum Eisberge sieht, wo keine sind, steht der Präsident auf der Brücke und versichert, daß der Kurs stimmt. Markl ist nicht nur ein brillanter Funktionär seiner Wissenschaft, sondern auch ein scharfsinniger Aufklärer. In dem Aufsatz Innovation - Die Pflicht zum Fortschritt (Merkur, Heft 590/1998) benutzt er dafür eine anthropologische Formel, die tief klingt, aber flach mündet: "Die Fähigkeit zu selbstbestimmter Innovation ist der Kern unserer Menschlichkeit." Den Satz versteht man erst, wenn man sich die restlichen Zutaten auf der Zunge zergehen läßt. Markl vertritt zunächst die harmlose Auffassung, erst die technisch-wissenschaftliche Innovation forme den Menschen zu einem natürlichen "Kulturwesen". Einerseits möchte dieses Kulturwesen in Freiheit leben, andererseits muß es zwangsweise der Innovation zustimmen, damit es auf seine alten Tage ein freiheitliches Kulturwesen bleiben kann. |
Demnach wäre kulturelle Freiheit die wesensmäßige Einsicht des Menschen in die Notwendigkeit seiner Wissenschaft. Denn wäre es nicht inhuman, wenn der kulturelle Mensch die Zustimmung zu seinem Wesen verweigern würde? Nicht, daß Markl Zweifel an freiheitlichen Regularien hätte. Im Gegenteil. Es ist schon rührend, wie er als Sänger der formalen Demokratie auftritt und eine humanverträgliche Bewirtschaftung der Biosphäre in Aussicht stellt. Aber angesichts seines extrem übersichtlichen Menschenbildes schmilzt der Unterschied zwischen (wissenschaftlichem) Können und (moralischem) Sollen wie Schnee in der Sonne. Der Fortschritt des Wissens entläßt seine eigene ethische Norm. Mit sittlichem Ernst streben Innovation und Evolution ihrem Ziel entgegen, vorausgesetzt, die Kulturwesen geben in Freiheit ihren Segen. Gewiß, angesichts bekannter Risiken und Nebenwirkungen ist eine wissenschaftliche Gewißheitslücke nicht auszuschließen. Auch das Wissen weiß nicht alles; aber die Lücke wird durch unwissenschaftliches Vertrauen überbrückt, wahlweise durch eine "Vision". Darum lautet Markls dringende Bitte, "wir" müßten uns das Ziel setzen, "unsere kurzfristigen Handlungen nach dieser langfristigen Vision auszurichten, und den Mut haben, den Kräften der Innovation in allen Bereichen unserer Gesellschaft Raum, Mittel und Freiheit, mit einem Wort: Vertrauen zu schenken". |
Den Hegelianern an Bord ist Markls Denkknoten unauflösbar vertraut. Am Anfang seiner Geschichte hat sich der menschliche Geist in die Wissenschaft vernarrt; heute muß er die Gespenster in Schach halten, die er selbst gerufen hat. Deshalb kennt die Sphinx nur eine Botschaft: den Zwang zur Innovation, den Zwang zur Zukunft - den Zwang, die Resultate der Forschung auch anzuwenden. Deutschland, so lautet Markls politische Verschärfung, sei zu Innovationen verurteilt, wenn der Wettbewerb im 21. Jahrhundert nicht "über unsere Köpfe und Interessen hinweg gestaltet" werden soll. Niemand, der bei Verstand ist, wird widersprechen, zumal Markl berufsbedingt ein feines Gespür besitzt für den Darwinismus der Weltwirtschaft. Der Sprengstoff liegt woanders - eben in dem Glauben an einen wissenschaftlichen Fortschritt, der sich im Augenblick seiner Selbstverwirklichung krisensicher autorisiert. Das elitäre Bildungswissen schrumpft zum nützlichen Verfügungswissen "Wenn die Industriegesellschaft", so Markl, "die wissensbegründete Gesellschaft in höchster Vollendung (...) ist, dann sind wissenschaftliche Forschung und wissenschaftsgeleitete technische Entwicklung die Quellwasser, aus denen der Strom der gesamten gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Fortentwicklung gespeist wird. |
" Und weiter heißt es in der Buchfassung: "Nur wenn das Bildungs- und Ausbildungssystem einer solchen Gesellschaft so beschaffen ist, daß die Bürger diese Quellen nicht verschütten und daß die Kommunikationsmedien die Brunnen des Wissens nicht vergiften (...), kann eine Industriegesellschaft konkurrenzfähig, entwicklungsfähig, zukunftsfähig sein." Damit die Quellen des Wissens kräftig sprudeln, sind noch ganz andere Maßnahmen erforderlich. Markl meint nicht nur die Kassandra im Schlauchboot, die auf den Namen Greenpeace hört. Unsichere Kantonisten der Zukunft sind nicht nur Tierversuchsgegner und Castor-Demonstranten, sondern auch die Vertreter der Hochkultur, die ihr Mütchen am Sektkübel kühlen. Die gebildeten Stände, die im Zweireiher ihre Klassiker abschmecken und schön daherreden, sind für Markl nicht zukunftsfähig. Mit "historisch gewürztem" Schlafpulver stehlen sie innovativen Menschen die kostbare Zeit. Nicht am "übersteigerten Zierat der Hochkultur" sollen "wir uns abarbeiten, sondern lieber nach den tragenden (und notabene den Zierat finanzierenden) Fundamenten suchen". Natürlich möchte Markl, selbst das Musterbild des Gelehrten, nicht auf Bildung verzichten. |
Er schwärmt für eine Bildung, die das elitäre Gepäck abschüttelt und das Volk störungsfrei auf Zukunftsfähigkeit trimmt. Bildung ist nicht mehr der Dialog mit den kulturellen Phantasien der Vergangenheit, sondern ein Kombipräparat: die anpassungsfähige Mischung aus Fitneß, "lebensertüchtigender Erziehung und Selbstdisziplin". Was eine Generation aus 68ern, eine Armada aus technokratischen Bildungsreformern nicht zustande brachten, erledigt Markl mit links. Er nivelliert Bildung auf Wissen, um beruhigt sagen zu können: "Die Bibel, Goethes Faust oder ein Lehrbuch der theoretischen Physik: Das ist, das begründet Wissen." Auf geht's. Wenn die Gipsfiguren der kulturellen Selbstdeutung vom Sockel sind, wenn elitäres Bildungswissen auf nützliches Verfügungswissen zusammenschrumpft, wenn kein Brunnenvergifter mehr Angst verbreitet, dann kann der "geistige Fortschritt" beginnen. Allerdings, im Neonlicht der Innovation sehen Geisteswissenschaftler aus wie Fremdlinge vom anderen Stern. Sie stolpern durch die blühenden Landschaften des Fortschritts und leiden an Hirngespinsten. Sie stecken ihre Nase in nutzlose Werke und erzählen überflüssige Geschichten vom Homo sapiens: von einem Kulturwesen, das unter den unkündbaren Bedingungen von Schuld und Endlichkeit, Krankheit und Tod sein Leben führt. |
Wissenschaft gegen Zukunftsangst? Gemessen an einem Edward Osborne Wilson, der in einer titanischen Anstrengung sämtliche Erscheinungen der Kultur aus der Biologie erklärt, ist Hubert Markl ein unverbesserlicher Bildungsbürger, der auf den Grenzgängen zwischen Freiheit und Hörigkeit die Gespenster der Weltangst jagt. Aber vielleicht schöpfen Apokalypse und Innovationsjubel aus derselben Quelle; vielleicht spricht aus beiden das Trauma einer Wissensgesellschaft, die zweierlei nicht verwinden kann: den anthropologischen Schock nach Tschernobyl und die archaische Abscheu vor den klonierten Ebenbildern des Menschen. Ob der Gegenzauber hilft? Wann immer Biologen vom Einheitstraum des einen und einzigen Wissens überwältigt werden, haben Geisteswissenschaftler nichts zu lachen. Im Blick der Naturwissenschaft sind sie eine vergangenheitsselige Spezies, die schnellstens über den Abgrund ihrer Weltverfehlung aufgeklärt werden sollte. Denn für Soziobiologen besteht die beste Geisteswissenschaft immer noch darin, dem Publikum heute schon jenen evolutionären Wahrheitskern nahezubringen, der sich uns erst morgen enthüllen wird. Für Geisteswissenschaftler ist dieser glänzende Zaubertrick ein alter Bekannter, denn auf ihm liegt der dogmatische Schimmer der Theologie. |
Wie die römischen Glaubenshüter, so verwechselt sich eine Soziobiologie, die das Interpretationsmonopol über Kultur in Anspruch nimmt, mit einem Weltbild, das keine Fragen offenläßt. Daß dieser Absolutismus die Unfehlbarkeitserklärung der Gegenseite nach sich zieht, ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Auf die Enzyklika des Wissens antwortet die Kurie mit der Enzyklika des Glaubens. Für den Papst herrscht immer der Ernstfall. Wenn die Forscher zu Theologen werden, dann möchte er der Wissenschaft nur gestatten, was der Glauben schon immer gewußt hat.
© beim Autor/DIE ZEIT 1998 Nr. 45 All rights reserved. |