Ein Horrortrip ins Niemandsland?

Über die Beschränktheit unserer Zukunftsvorstellungen

Von Karl Otto Hondrich

Befreit von Fesseln wie Stand, Klasse, Religion, Nation und Geschlecht, gebiete der Mensch über seine eigene Zukunft: Dies lehren jene Gesellschaftstheoretiker, die die Individualisierung zum Massstab aller Betrachtung erheben. Dabei übersehen sie, dass die Freiheit der grösseren Wahl Zwänge nicht nur nicht beseitigt, sondern das Bedürfnis nach Bindungen gar verstärkt.

Alles Handeln ist zukunftsgerichtet. Auch wer frühere Zustände wiederherstellen oder gegenwärtige festhalten will, kann das nur für die Zukunft versuchen. Der Reaktionär und der Traditionalist blicken in die Zukunft. Mit dem Progressiven teilen sie die Absicht, die Zukunft zu gestalten, einen Willen durchzusetzen. Was sie unterscheidet, ist das Wunschbild, das sie sich von der Zukunft machen. Die einen zeichnen es nach überkommenem Muster, der andere entwirft es neu. Alle sind sie machtgläubig, gestaltungsgläubig, freiheitsgläubig. Sie sind moderne Menschen. Ihr gemeinsamer Gegenpart ist der schicksalsgläubige Mensch. Ihm fehlt es am Willen, die Dinge in Zukunft zu verändern, und am Glauben an seine Macht. Er will nicht bestimmen, sondern gewähren lassen. «Was kann denn ich», sagt er, «so wie Gott es will, ist es gut.»

Man mag sich fragen, ob es diesen Typus Mensch in der modernen Welt überhaupt noch gibt. Wenn es ihn aber gibt, dann ist er ein Illusionist. Denn die Vorstellung, gar nichts bestimmen, in Zukunft nichts ändern zu können, ist falsch - für die traditionsbestimmte Gesellschaft genauso wie für die moderne. Auch der Schicksalsgläubige ist zu handeln und zu entscheiden gezwungen, und sei es nur zum Weitermachen.

Der Illusion der Machtlosigkeit und des restlosen Bestimmtseins steht die Illusion der Macht über die Zukunft gegenüber. Sie erscheint im konservativen wie im progressiven Gewand; entweder von der Vorstellung beherrscht, das Hergebrachte erhalten zu können, oder, im Gegenteil, von der Idee beflügelt, die Fesseln der Herkunft abwerfen und das soziale Leben neu entwerfen zu können. - Der Sozialismus stellt das progressive Zukunftsbild par excellence dar: alle Herkunftsbindungen qua Stand, Klasse, Religion, Nation, Geschlecht sollen, in absichtsvoller Aktion, durchtrennt und in einer übergreifenden Gemeinsamkeit im Menschlichen aufgehoben werden. Auch der Nationalismus steht für eine Zukunftsvision neuer Gemeinsamkeit und ist insofern progressiv - mit seiner Berufung auf vorgängige Gemeinsamkeiten der Herkunft instrumentalisiert er indessen konservative Instinkte. Der Nationalsozialismus fügte dem noch rassistische und imperiale Zukunftsvisionen hinzu. Dass allerdings die progressiven oder die konservativen oder die reaktionären oder überhaupt irgendwelche ideologischen Elemente die verheerende Sprengkraft erklären, die von den Zukunftsvorstellungen in diesem Jahrhundert ausging, muss bezweifelt werden. Verantwortlich für die Zerstörungen erscheint vielmehr die Verbindung von Wunschbildern mit der Vorstellung, sie politisch verwirklichen zu können. Letztlich ist es die Vorstellung von der Machbarkeit der Zukunft, die Politisierung von Zukunftswünschen, genauer: die masslose Überschätzung der Macht (der jeweils Gegenwärtigen) über die Zukunft, die kontra-produktiv, also destruktiv ausgeht.

ÜBERMASS AN GESTALTUNGSWILLEN

Dass diese Einsicht nicht zu Gebote stand, als der Nationalsozialismus mit seinem eigenen Zerstörungswerk unterging, dass die Vorstellung von der politischen Neuerschaffung der Welt unter sozialistischen und liberaldemokratischen Vorzeichen zunächst vielmehr ungebrochen weiterlebte, erscheint aus heutiger Sicht verblüffend. Oder auch nicht: denn der Wahn der Nationalsozialisten, die Welt nach ihrem Bild zu gestalten, hinterliess ein Unmass an Verunstaltung, die nach einem neuen Übermass an politischem Gestaltungswillen geradezu rief. Die Einsicht, dass ein Zuviel an politischem Bestimmenwollen über die Zukunft die Wurzel des Übels sein könnte, musste also verdrängt werden. Das Übel wurde vielmehr in die Zukunfts-Ideen verlagert und, je nach Standort, dem Sozialismus, Kapitalismus oder Nationalismus zugeschrieben - nicht der politischen Vergewaltigung der Zukunft schlechthin.

Es ist faszinierend zu sehen - und lässt sich empirisch ziemlich exakt verfolgen -, wie im letzten halben Jahrhundert in Deutschland die grossen kollektiv orientierten Zukunfts-Wunschideen abgearbeitet wurden - in Prozessen des Lernens durch Enttäuschung und Scheitern. Zuerst war es die nationale Idee, die, nach dem nationalsozialistischen Amoklauf niedergeschlagen, aber doch nicht tot, in der Aufbaugeschichte der Bundesrepublik immer mehr verblasste und dauerhaft an orientierendem Sinn verlor. Für die sozialistische Idee setzte der Sinnverlust später ein und verlief untergründig-schleichend, um sich dann in den Ereignissen des Jahres 1989 dramatisch zu offenbaren. Bleibt die liberal-kapitalistische Idee, die sich anschickt, eine Art Weltorientierungsherrschaft anzutreten. Besonders die deutschen Intellektuellen sehen es mit Genugtuung und Erschrecken. Denn einerseits scheint - in ihren Augen - der globale Kapitalismus endlich das Werk zu vollenden, nationale und andere Herkunftsbindungen aufzulösen und die Zukunft von allen Fesseln des Herkömmlichen zu entbinden, die soziale Welt somit als «reine» Zukunftswelt erstehen zu lassen. Andererseits übernimmt gerade in dieser Vision der Kapitalismus als Weltsystem die Rolle eines allmächtigen, ungebärdigen Machers. Die Zukunft wäre so gesehen zwar restlos machbar, aber es gäbe keine politischen Instanzen und Kollektivitäten mehr, die das Machbare steuern und zum Guten wenden könnten. Die progressive Vision schlägt um - ins schicksalhafte Ausgeliefertsein an eine hochkomplexe Sozialmaschinerie, an eine Triebkraft, die nichts anderes betreibt als ihren eigenen Fortschritt.

Mit einer solchen Vision könnte man nicht leben. Zumindest nicht in der Haut derjenigen, die, als Politiker oder Intellektuelle, die engagierte Gestaltung der Zukunft auf ihre Fahnen geschrieben haben. Wenn ihnen das kollektive Subjekt dieser Gestaltung - Klassen, Nationen, Religionsgemeinschaften, Parteien - abhanden kommt, wer bleibt dann als Träger des Gestaltungswillens? Es bleibt das individuelle Subjekt, das Individuum.

Individualisierung heisst denn auch das Zauberwort, in das sich heute die Gestaltungsvisionen der Zukunft kleiden, nachdem Sozialismus, Nationalismus und andere kollektive Identitätszuschreibungen verbraucht erscheinen. Immer mehr bestimme der Einzelne selbst seinen Platz in der sozialen Welt, so suggeriert die Individualisierungsthese. Die Determinationskraft der Herkunftsbindungen gegenüber der Zukunft schwäche sich ab; die Gestaltung der sozialen Struktur werde von den Zwängen der Herkunft auf die freie Wahl des Zukünftigen umgestellt. Noch gebe es die Zwänge der Herkunft, räumen die Theoretiker ein, aber sie gehen vorüber, ihre Tage seien gezählt. Bald werde es - neben den Randbedingungen des Wählens - als letzten Zwang nur noch den Zwang zur Wahl geben.

Den Teil der Wirklichkeit, der nicht in ihr Bild passt, blendet die «Individualisierungsthese» aus. Nicht anders als kollektivistische Ideologien vermischt sie Wunschbild und Wirklichkeit. Wie der Sozialismus verheisst sie das Absterben von Herkunftsbindungen. In ihrem Heilscharakter ist sie die Fortführung des Sozialismus nach seinem Tode. In ihrem Illusionismus übertrifft sie ihn: denn nie hat der Sozialismus die ökonomischen Zwänge und die Zwänge der Gemeinschaft aus den Augen verloren.

Worin liegt der Illusionismus der Individualisierungsthese? Sie verschliesst die Augen vor den unbeabsichtigten Folgen der Individualisierung. Diese lassen sich ganz präzise analysieren. Und sie sind denjenigen genau entgegengesetzt, die uns die Theoretiker vorgaukeln. Denn Individualisierung führt allenfalls vordergründig aus Zwängen und Herkunftsbindungen hinaus. Hintergründig erzeugt sie das, wovon sie Erlösung verheisst. Weit entfernt davon, soziale Zwänge in freie Wahlakte aufzulösen, verwandelt Individualisierung Wahlhandlungen in soziale Zwänge: wer aus freien Stücken eine Partnerschaft oder eine selbst gewählte Familie verlässt, nimmt dem Partner oder den eigenen Kindern die Wahl, in dieser Partnerschaft oder Familie weiterzuleben. Sie - die Andern - geraten nicht unter den «Zwang der Wahl», sondern unter den Zwang, nicht mehr wählen zu können. Die eigene Selbstbestimmung bedeutet Fremdbestimmung für andere. Der eigene Zukunftsentwurf verwirft die Zukunftswünsche der andern. Dass sich der Spiess umdrehen lassen, der selbst Bestimmende zum Fremdbestimmten werden kann, besiegelt den Prozess. Je mehr und gleichmässiger sich die Chance der Selbstbestimmung gesellschaftlich verbreitet, desto mehr verbreitet sich auch das Risiko, fremdbestimmt zu werden.

Dass die eigenen Zukunftsvorstellungen von denen der anderen gestört und zerstört werden, davor kann nur ein Einverständnis, ein Konsens, eine kollektive Identität schützen. Will man diese kollektive Identität herstellen, dann ist das nur durch Rücksicht auf die unterschiedlichen Anderen, also durch Rücknahme der individuellen Selbstbestimmung im Kollektiv, möglich. Scheut man Mühe, Kosten, Zeit und Einschränkungen, die nötig sind, um einen Konsens herzustellen, dann bleibt nur der Rückgriff auf eine schon vorhandene kollektive Identität, also auf eine Übereinstimmung qua Herkunft, die im kleinen sozialen Kreis grösser ist als im grösseren: in der Familie grösser ist als in der Nation, in der Nation grösser als in Europa, in Europa grösser als in der Weltgemeinschaft aller Menschen.

Weltbürger, Kosmopolit, global citizen: das ist, für das moderne Individuum, die Zukunftsperspektive par excellence: die ultimative, sich selbst aufhebende kollektive Identität. Sie ist, aus der Sicht der Individualisierungstheoretiker, selbst gewählt, und sie gilt als Alternative zu den partikularen, insbesondere nationalen Kollektividentitäten. So töricht ist man erst heute.

VERSTÄRKTE HERKUNFTSBINDUNGEN

Dass man Weltbürger anstatt Staatsbürger sein könne und müsse - dieser Illusion sind der deutsche Idealismus und die Romantik ebenso wie die französische Aufklärung und der angelsächsische Pragmatismus nie erlegen: Immer haben sie die nationale zwar in Spannung zur globalen Identität gesehen, aber auch als deren Voraussetzung und Grundlage. Heute, im Zeichen weltweiter ökonomischer und kultureller Vernetzung, erscheint die Option zum Weltbürger nicht nur als eine Entfaltungschance, sondern fast als eine Notwendigkeit. In der Tat: das Individuum muss in vielen Fällen aus seinen engeren Herkunftsbindungen heraustreten, um in Zukunft bestehen zu können. Illusionär ist allerdings die Annahme, dass Herkunftsbindungen dadurch aufgehoben oder auch nur schwächer würden. Das Gegenteil ist der Fall. Denn nur in nicht selbst gewählten Beziehungen, die gar nichts anderes sein können als Herkunftsbindungen an Familie, Sprach- und Wertgemeinschaften und gemeinsame Unterordnung unter das Gewaltmonopol eines Staates, gewinnt das Individuum die Anerkennung und Selbst-Sicherheit, die nötig sind, um selbstgewählte Zukunftsbindungen - noch dazu mit Menschen anderer Sprache und Sozialisation - eingehen zu können.

Herkunftsbindungen in eng begrenzten und sicheren Rahmen sind die Voraussetzung für erweiterte und selbst bestimmte Zukunftsbindungen. Und diese führen aus den Herkunftsbedindungen nicht nur hinaus, sondern auch wieder in sie zurück. Denn alle Beziehungen, die wir auf den weltweiten Waren-, Arbeits-, Liebes- und Bekanntschaftsmärkten selbst wählen oder bestimmen können, können von uns selbst und - was viel schlimmer ist - von den Anderen, also gegen unseren Willen, abgewählt werden. Jeder aktive Wahlakt an jedem Markt hat sein passives Pendant: das Nicht-gewählt-Werden, das Fallengelassen-Werden. Wohin aber wenden wir uns, Schutz und Halt suchend, wenn wir früher oder später zu denjenigen gehören, die noch nicht oder nicht mehr gewählt werden und neue Wahlbindungen nicht aus dem Ärmel schütteln können? Es bleiben uns die Eltern, Geschwister, eigene Kinder, alte Freunde, der Sozialstaat: alles Herkunftsbindungen, die wir nicht selbst gewählt haben und die uns deshalb auch nicht abwählen und fallenlassen dürfen. Ohne sie wäre jeder Ausflug in die «reine Zukunft unserer Wahl», so vielversprechend er zunächst beginnen mag, am Ende ein Horrortrip ins Niemandsland.

Die Menschen wissen dies. Anders als die Ideologen der Individualisierung, die sich auf ein Zukunfts-Trugbild versteift haben, das dem Individuum immer mehr selbst bestimmte Zukunftsgestaltung bei abnehmender Bedeutung von Herkunftsbindungen und schwindenden kollektiven Zwängen verheisst, blickt die Mehrheit der Zeitgenossen heute zwar zuversichtlich in die Zukunft, aber auch skeptisch-zurückhaltend, was persönliche Gestaltungsmöglichkeiten angeht.

Wie stellen sich junge Leute heute die Zukunft vor? Sie möchten einen Ausbildungs- oder einen Studienplatz ihrer Wahl. Sie erstreben einen Beruf, der ihnen sinnvolle Aufgaben stellt und in dem sie sich entwickeln können. Sie wünschen sich eine glückliche Partnerschaft - es muss nicht die herkömmliche Ehe sein -, zwei Kinder, eine Familie, ein Haus und häusliche Harmonie. Sie wollen in Frieden und Sicherheit leben, gesund bleiben und ein ordentliches Einkommen haben. Das sind schlichte Zukunftswünsche. Sie beziehen sich auf den eigenen Umkreis und nicht aufs grosse Ganze. Und sie werden vorsichtig geäussert, mit einem doppelten Vorbehalt: im Wissen, dass man nicht weiss, wie die Dinge in Zukunft liegen werden; und wissend, dass die eigene Eingriffsmacht begrenzt ist. So werden Ziele und Pläne zögernd formuliert, Reaktionen auf neue Restriktionen und Chancen werden mitbedacht, Revisionen vorausgesehen. Würde man sich entschiedener festlegen, würde man Enttäuschungen programmieren. Enttäuschungen kann man klein halten, wenn man angesichts einer offenen Zukunft die eigenen Wünsche offenhält, sich nicht zu weit vorwagt.

Aber ist dies nicht eine typisch deutsche, eine europäische Kleinmütigkeit? Kulturen haben unterschiedliche stilbildende Normen, um mit dem Problem der Enttäuschung durch die Zukunft umzugehen. In Europa heisst es: Vorsichtig sein, keine Risiken eingehen! In Amerika dagegen: Es ist nicht schlimm, wenn du scheiterst; schlimm ist es nur, wenn du es gar nicht erst versuchst! So unterschiedlich diese beiden Verhaltensstile zu sein scheinen, in ihrer Einstellung zur Zukunft sind sie sich doch ähnlich: Sie tragen der beschränkten Macht der Gegenwart über die Zukunft Rechnung. Die Vorsicht ebenso wie die Annahme möglichen Scheiterns zeugen davon, dass man sich nicht als Herr und Meister einer Zukunft wähnt, die man mit eigenen Entscheidungen bestimmen kann, sondern dass man die Zukunft selbst für ungewiss und mächtig hält. Man muss ihren Lauf abwarten und günstige Gelegenheiten am Schopf packen - wie jemand, der auf ein ungebärdiges Pferd aufspringen will. Auch die Hoffnung, durch Bildung die eigenen Zukunftschancen zu verbessern, lässt sich eher als rationale Anpassung an die Eigenmacht der Zukunft denn als eigene Macht über die Zukunft interpretieren. Die Idee der Chancen durch Bildung weist zugleich darauf hin, wo ihre Grenzen liegen: in den Herkunftsbezügen, durch die Bildungschancen eingeräumt oder verwehrt werden.

Der Respekt vor der Zukunft zeigt sich bei jungen Menschen besonders im Tenor der Vorsicht und Zurückhaltung, in dem sie ihre Wünsche nach Partnerschaft und Kindern ausdrücken. «Ich würde schon gern in einer festen Beziehung leben, aber das ist nicht so einfach - es muss auch nicht unbedingt sein», heisst es etwa. Oder: «Es muss sich ergeben.» Kinder hätte man gern, aber «ich versteife mich nicht darauf», «das muss man mal sehen», «es muss mit den anderen Dingen zusammenpassen», «das kommt dann auf den Partner an» . . .

QUAL DER WAHL

Wie verhalten moderne Menschen die Gestaltbarkeit ihrer Beziehungen gerade im sozialen Nahbereich einschätzen, ist verblüffend. Wo sonst, wenn nicht hier, sollen denn die individuellen Wahlmöglichkeiten zum Tragen kommen?! Und waren die technischen und moralischen Voraussetzungen für die strikt individuelle Bestimmbarkeit von sozialen Bindungen jemals so günstig wie heute, wo die einzelne Person auch ohne Partner (fast) ganz für sich allein entscheiden kann - über künstliche Insemination und Schwangerschaftsabbruch -, ob sie Kinder haben will oder nicht, und wo auch der materielle und normative Zwang zur Partnerschaft, geschweige denn zur Ehe, gewichen ist? Was hindert junge Menschen daran, ihre Entscheidungsmöglichkeiten auch entschieden in Zukunftspläne umzusetzen und diese zu verwirklichen?

Zunächst einmal scheint es die Vermehrung der Möglichkeiten selbst zu sein. Aus vermehrten Optionen ergibt sich ein individuelles Optimierungsproblem. Es wird dadurch nicht leichter, dass man auch die individuelle Verantwortung spürt, jeweils zur richtigen Zeit die richtige Entscheidung zu treffen. Die Möglichkeiten durchkreuzen sich selbst. Insbesondere durchkreuzen die beruflichen Möglichkeiten und die daran orientierten Wünsche - für Frauen wie für Männer - die Partnerschafts- und Kinderwünsche. Diese werden, um sich für berufliche Möglichkeiten offenzuhalten, zurückgestellt - manchmal bis es zu spät ist. Die beruflichen Entscheidungen haben dann die privaten Entscheidungen geschlagen. Der (durchschnittliche) Wunsch nach zwei Kindern und einer harmonisch-stetigen Partnerschaft wird nicht realisiert.

Sieht man hinter beruflichen und privaten Wünschen nicht nur individuelle Freiheiten, sondern kollektive, das heisst von (fast) allen geteilte normative Zwänge - welche junge Frau oder welcher junge Mann könnte sich ihnen entziehen, indem sie heutzutage erklärten, keine Bildung und keinen Beruf haben zu wollen -, dann erscheint die Probierhaltung besonders der Jungen gegenüber der Zukunft als ein rationaler Umgang mit sozialen Einschränkungen und Zwängen. Für die Gegenwart kann man sogar sehr deutlich sagen, welche Zwänge die stärkeren sind: Es sind die Zwänge des Berufslebens, die sich, übersetzt in entsprechende Ansprüche der jungen Leute selbst, gegenüber ihren privaten Ansprüchen - der Realisierung des Zwei-Kinder-Wunsches - durchsetzen. In der Zukunftsvorstellung des «weichen Wünschens», des Sich-nicht-festlegen-Wollens, wird diese Zwangslage vorweggenommen.

Die Unentschiedenheit, die sich im «weichen Wünschen» äussert, entspringt aber auch noch einem anderen sozialen Zwang. Es ist dies der Zwang zum Konsens. Der Zwang zur Übereinstimmung mit den Anderen wird nirgends drückender empfunden als dort, wo er scheinbar am geringsten ist, weil die Zahl der Anderen auf ein Minimum reduziert ist: in der Paarbeziehung. Ist diese Paarbeziehung eine affektiv-sexuelle, dann wird, wegen ihres spontanen Charakters, die Übereinstimmung auf Dauer zusätzlich erschwert. Hat das Paar darüber hinaus einen partnerschaftlichen, also egalitären Anspruch an sich selbst, dann steigert sich der Zwang zur Übereinstimmung noch einmal, bei gleichzeitig weiterer Erschwerung der Übereinstimmung: denn ein Dissens im Paar kann dann nicht durch die Dominanz des einen und die Unterordnung des andern Teils aufgelöst werden. Wie Konflikte und Entscheidungsprobleme in solchen Paaren ausgehen werden, weiss niemand, auch die Beteiligten nicht. Es ist also gerade die Eigenständigkeit und Gleich-Mächtigkeit des Anderen oder: die fortschreitende allseitige Individualisierung, die die individuellen Zukunftsaussichten und Durchsetzungschancen verunklart. Kurz: Individualisierung erzeugt sowohl bei der Wahl des Partners wie bei der Entscheidung über Kinder, Beruf, gemeinsamen Wohnort usw. ihre eigenen Grenzen der individuellen Lebensgestaltung, ja ihre eigenen sozialen Zwänge.

Kann man im sozialen Nahbereich die wichtigsten sozialen Beziehungen - und auch Entscheidungen innerhalb dieser Beziehungen - nicht erzwingen, so gilt dies erst recht für die immer weiter ausgreifenden kollektiven Rahmen Nation - Europa - Weltgesellschaft. Je mehr Individuen diese Rahmen einschliessen, desto geringer die Mitbestimmungsmöglichkeit des einzelnen Individuums für das Ganze, desto grösser also die individuellen Unabänderlichkeiten kollektiver Zwänge.

NEUE, KOMPLEXE ZWÄNGE

Der kurzschlüssige Zukunfts-Illusionismus der Individualisierungsthese («normative Zwänge lösen sich auf»; «Herkunft verliert ihre Determinationskraft») wird von den Individuen selbst in ihrer grossen Zahl nicht geteilt. Mit ihrer «Offenheit für die Zukunft», also mit der skeptisch-vorsichtigen Einschätzung ihrer Einwirkungsmöglichkeiten, zollen sie der Macht der Zukunft und den sozialen Zwängen der Herkunft gleichermassen Respekt. Denn beides, die Ungewissheit der Zukunft und die Zwänge der Herkunft, setzt der Freiheit des Handelns und der Macht der Gegenwärtigen Grenzen. Sie führen einen Gegenwartsaktionismus, der die Zukunft bestimmen und die Herkunft abschütteln zu können glaubt, ad absurdum.

In individualistischen Strategien reproduzieren sich die kollektiven Zwänge. Zwei von ihnen, der Zwang zu Bildung und Beruf und der Zwang zu partnerschaftlichem Konsens, springen gegenwärtig für die individuelle Lebensplanung besonders ins Auge. Im Vergleich zu den Zwängen, unter denen wir, von heute aus, das Leben unserer Eltern und Grosseltern sehen, mögen die modernen Zwänge zwar als Freiheiten erscheinen. (So wie unsere Grosseltern die eigenen Chancen ebenfalls als befreiend gegenüber den älteren Zwängen ihrer Vorfahren erlebten.) Nichtsdestoweniger sind sie kollektive Zwänge - auch wenn ihr Inhalt ein anderer ist.

Als kollektive Zwänge sind sie komplexe Zwänge: hinter dem Zwang zum Beruf ebenso wie hinter dem zum Konsens stehen ökonomische (wenn man will: kapitalistische), politische und kulturelle Verflechtungen, die sich trotz inneren Widersprüchlichkeiten gegenseitig bedingen und stützen. Es sind normative Zwänge: die Anforderungen aus produktivem und reproduktivem System verwandeln sich in allseits geteilte Werthaltungen und Regeln, denen sich Einzelne nur scheinbar entziehen können; auch als Outsider müssen sie eine wenn auch abwertende Beziehung zu den herrschenden Normen aufrechterhalten. Und es sind Herkunftszwänge, denn nur aus der gemeinsamen Herkunft aus hochindustrialisierten, reformatorisch und aufklärerisch geprägten Gesellschaften erklärt sich die Gemeinsamkeit von Zukunftsvisionen, in denen Bildung, Beruf und partnerschaftlicher Konsens hervorstechen. Noch in der Ablehnung der Herkunftsgebundenheit mancher - etwa antinationaler - Zukunftsvorstellungen zeigt sich eine besonders pikante Spielart der Herkunftsgebundenheit.

Ohne Herkunftsgebundenheit ist soziales Leben genauso wenig möglich wie ohne Zukunftsvorstellungen - seien diese, wie in der gegenwärtigen Phase der industrialisierten Welt, auch noch so zurückhaltend formuliert. Denn gemeinsame Zukunftsvorstellungen, ebenso wie gemeinsame Herkunft, verbinden Kollektive und grenzen sie gegeneinander ab; dies ist ihre identitätsstiftende Funktion. Sie verknüpfen Wünsche und Voraussagen; dies ist ihre orientierende Funktion. Und sie weisen auf Handlungsmöglichkeiten und Grenzen der Machbarkeit hin; dies ist ihre motivierende Funktion.

Alle diese Funktionen sind Funktionen für die Gegenwart. Für die Zukunft selbst haben Zukunftsvorstellungen keine Bedeutung. Denn alles, was wir an Voraussagen und politischen Vorschlägen, an Wunsch- und Wehe-Szenarien entwerfen, steht unter dem soziologischen Diktat der unbeabsichtigten Folgen und Gegenbewegungen, kurz: der unergründlichen Macht der Zukunft. Aus dem Zwang zum Beruf und aus dem Zwang zum partnerschaftlichen Konsens mögen wir eine Erklärung dafür finden, dass sich die scheinbar frei wählenden Individuen der industrialisierten Welt ihren eigenen Kinderwunsch selbst immer weniger erfüllen - obwohl die materiellen Voraussetzungen dafür in der Weltgeschichte noch nie so gut waren.

Wir mögen die sinkenden Fertilitätsraten in die Zukunft fortschreiben. Wir mögen uns die individuellen und kollektiven Folgen ausmalen: von der Vereinsamung der Alten über die Belastung der Jungen, von der Entdynamisierung einer Greisengesellschaft bis hin zu ihrem Untergang, wenn die jugendlichen Träger ihrer aufklärerischen Werte gegenüber der Jugend antiaufklärerischer fundamentalistischer Gesellschaften hoffnungslos in die Minderzahl geraten sind . . . Doch an jeder Stelle solcher Szenarien sind Umkehrungen und Gegenbewegungen denkbar. Der Geburtenrückgang kann - gerade auch mit Hilfe individualistischer und rationalistischer Kalküle - aufgehalten werden. Produktivitätssteigerungen erlauben einer schrumpfenden aktiven Bevölkerung, immer mehr Alte und Leistungsschwache zu alimentieren, ohne dass der gemeinsame Wohlstand sinkt. Migrationen versorgen reproduktiv erlahmende Gesellschaften nicht nur mit jugendlichen Leistungsträgern, sondern schaffen auch Mittler- Gruppen zwischen den Kulturen, die kulturkämpferische Tendenzen in integrative verwandeln können . . .

Die Zukunft bleibt offen.

Neue Zürcher Zeitung vom 27.12.97