Wir danken dem Autor für die Erlaubnis, seinen Text hier zu veröffentlichen.
Hannah Arendt ist nicht nur verkannt, sie ist auch die am meisten ignorierte politische
Theoretikerin in der Bundesrepublik. Dies gilt vor allem für die deutsche Linke.
Hannah Arendt verkörpert als politische Denkerin alles, was deutsche Linke nicht
hören wollten und wollen. Deswegen wurde meine persönliche,
familiäre Beziehung zu Hannah Arendt, auf die ich gleich zurückkommen
werde, auch zu einem politischen Junktim. Denn alles, was ich an den deutschen Linken
immer gehaßt habe, konnte ich argumentativ mit Hannah Arendt untermauern. Und
so habe ich eine doppelte, und, wenn man so will, objektiv-subjektive Beziehung zu ihr.
Die Geschichte von Hannah Arendt und mir wurde eigentlich durch die Hannah-Arendt-
Biographie von Elisabeth Young-Bruehl publik gemacht, in der jener Brief wieder
auftauchte, den Hannah Arendt mir nach ‘68’ geschrieben hatte und der mir irgendwann
verloren gegangen ist. Doch Hannah Arendt fertigte von ihren Briefen immer eine Kopie
für die Bibliotheken an, auch das ist typisch Hannah Arendt, so daß eine
Kopie des Briefes in Washington lag und schließlich in Young-Bruehls Biographie
veröffentlicht wurde. Das war jener Brief, in dem sie mir mitteilte, daß meine
Eltern und mein Vater sicher stolz auf mich gewesen wären und falls ich in
Ungelegenheiten käme oder Geld bräuchte, sie und auch andere Freunde, wie
die Klenborts, mir helfen würden.
Meine Eltern kannten Hannah Arendt seit 1936 aus der Emigrationszeit in Paris, wo sie
alle einem intellektuellen Flüchtlingskreis angehörten, in dem sich auch jene
versammelten, die Probleme mit der (nach New York bzw. Los Angeles
übergesiedelten) Frankfurter Schule hatten - wie beispielsweise Walter Benjamin.
Nach dem Einmarsch der Deutschen fanden sich meine Eltern und Hannah Arendt dann im
südfranzösischen Montauban wieder. Diese Stadt im nicht-besetzten Teil
Frankreichs hatte einen sozialistischen Bürgermeister, der in Opposition zur Vichy-
Regierung stand, was vielen Emigranten die Zuflucht dorthin ermöglichte. Meine
Eltern hatten ein Heim für Kinder, deren Eltern sich im Konzentrationslager
befanden oder dort umgekommen waren. Hannah Arendt hielt sich ebenfalls eine Zeitlang
in Montauban auf, bevor sie schließlich 1941 nach Amerika fliehen konnte. Auch
von dort aus riß der Kontakt zu meinen Eltern nicht ab. Ein Teil der Gedanken in
ihrem Buch ‘Ursprünge und Elemente totaler Herrschaft’ entstand z.B. aus einem
Brief an meinen Vater. Es war also eine persönliche Beziehung, die zugleich auch
eine politische Komponente hatte.
Ich selbst lernte Hannah Arendt nach dem Tod meines Vaters kennen, als ich mich in
Frankfurt aufhielt. Sie sollte 1958 die Laudatio für Karl Jaspers halten, der den
Friedenspreis des deutschen Buchhandels erhalten hatte. Sie kam am Samstagmorgen vor
dem Festakt zu uns nach Hause, um sich mit meiner Mutter zu treffen, so daß auch
ich sie kennenlernte. Fünf Jahre später habe ich sie dann zufällig vor
dem Frankfurter Gerichtsgebäude anläßlich des ersten Auschwitz-
Prozesses (1963) wiedergesehen, als sie, begleitet von dem Journalisten Thilo Koch dort
einen Tag zuhören wollte, während ich mit meiner Schulklasse, aus der
Odenwald-Schule kommend, auch dort war.
Politisch wurde Hannah Arendt für mich zunehmend wichtiger, als ich mich langsam
von der abstrakten revolutionären Theorie emanzipierte, also lange nach ‘68’. Diese
Emanzipation stand im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung über Gewalt in
der Studentenbewegung. Natürlich spielte auch die Auseinandersetzung über
den Terrorismus und die damalige »Rote Armee Fraktion« (RAF) eine Rolle. Es kam
hinzu, daß wir begannen, den orthodoxen Marxismus kritischer zu betrachten. Es
war sicherlich kein Zufall, daß in dieser Situation die Schriften Hannah Arendts
für mich immer mehr Bedeutung gewannen, da ich auch persönlich auf der
Suche danach war, wie man den emanzipatorischen Anspruch eines auf radikale
Veränderung der Gesellschaft zielenden Denkens retten konnte, ohne sich in die
Position des enttäuschten Revolutionärs zu manövrieren.
In diesem Kontext war der Denkansatz von Hannah Arendt sehr wichtig. Natürlich
habe ich ihr Denken für mich auch instrumentalisiert, indem ich daraus
Versatzstücke von Theorien gemacht habe, die mir in der politischen Kontroverse
gerade zupass kamen.
Dies gilt vor allem für die Auseinandersetzung mit dem Totalitarismus. Nach meiner
Ankunft in Deutschland nach ‘68’ befand ich mich in einer gespenstischen Situation, was
das Verstehen des real existierenden Kommunismus oder Sozialismus betraf. Meine
politische Sozialisation war ja mindestens ebenso von der Konfrontation mit der
französischen kommunistischen Partei geprägt, wie von der Kritik am
Kapitalismus. Für mich war jede Haltung unverständlich, die leugnete,
daß beide Formen von Herrschaft - Sozialismus oder Kapitalismus - so wie wir sie
damals gesehen haben, gleich entsetzlich oder verwerflich waren. Und so kam ich dann
nach Deutschland und mußte mir immer wieder anhören, daß man
über die DDR einiges nicht sagen dürfe, weil das von den Rechten in gleicher
Weise proklamiert werde. Dies war für mich schwer zu verstehen, doch
spürte ich recht früh, daß das linke Lager in Deutschland, ob
Sozialdemokratie, SDS oder was auch immer, ziemlich einheitlich die Position vertrat, die
Grundstruktur der DDR sei gegenüber dem Kapitalismus der Bundesrepublik die
eigentlich bessere.
Ich kann mich noch an Diskussionen mit Christian Semler erinnern, als wir zusammen das
Buch über den ‘Linksradikalismus’ geschrieben haben und immer wieder auf dieses
Problem stießen. Natürlich ist in diesem Zusammenhang der Gedanke von
Hannah Arendt wichtig, den Totalitarismus als Totalitarismus verstehen zu wollen und den
Nationalsozialismus nicht als - ich formuliere es mal provokativ - biologisches Problem der
Deutschen zu sehen, die irgendwie mit dem an und für sich Bösen in
Berührung gekommen sind, was man dann nur durch eine genetische
Zusammensetzung der deutschen Identität erklären kann. Wenn man sich von
dieser Vorstellung löst, wird einem deutlich, daß die Elemente und Formen
totalitärer Herrschaft im Nationalsozialismus und im Stalinismus durchaus
vergleichbar sind. Auch stellt sich die Frage, was Totalitarismus, was Demokratie und was
Republik ist. Diese Frage wird in der Debatte, ob es überhaupt einen
aufgeklärten Sozialismus geben kann, entscheidend. Diese Diskussion ist in
Deutschland aufgrund der zugegebenerweise auch schwierigen Auseinandersetzung mit
dem Faschismus/Nationalsozialismus nie richtig geführt worden.
So fand ich vor kurzem beim Lesen eines Gesprächs zwischen Adam Michnik und
Jürgen Habermas in DIE ZEIT einen der dekuvrierendsten Dialoge, die ich je in
meinem Leben gelesen habe. Dort sagte Adam Michnik mit einer gespielten Naivität
sinngemäss zu Habermas: ‘Aber sie sind doch so ein brillanter Denker und und und
... Aber ich habe noch nie von ihnen über den Totalitarismus und Stalinismus etwas
Richtiges gelesen.’ Und Habermas antwortete sinngemäss: ‘Wir kamen nicht auf die
Idee, daß es wichtig war.’
Ich kann mich auch an einen Streit mit Habermas in Frankfurt erinnern. In Frankfurt gab
es ja einen Habermas-Jüngerkreis und Habermas versuchte, eine politische Debatte
zu inszenieren, indem er regelmäßig Leute mit unterschiedlichen politischen
und theoretischen Konzepten einlud. Dort erschienen dann mehr oder weniger bekannte
Köpfe der Frankfurter Öffentlichkeit, vor allem aber Habermas-Seminar-
TeilnehmerInnen. Schließlich wurde auch ich einmal zum Thema der
Studentenbewegung von ‘68’ eingeladen. Ich sagte im Grunde genommen nur zwei Dinge:
Zum einen, daß Habermas seinerzeit, also ‘68’, durchaus Recht gehabt hätte.
Was er mit seinem berühmten Satz gegen die Studentenbewegung, in der er
faschistoide Züge glaubte erkennen zu können, gesagt hätte,
wäre vielleicht in die falschen Worte gekleidet gewesen, doch hätte es
durchaus einen Teil einer Problematik berührt. Habermas ist daraufhin wütend
geworden, bezeichnete mich als einen Renegaten und seine damalige Einstellung als
falsch.
Die Debatte wandte sich dann einer Frage zu, von der ich sagte, daß wir
Revolutionäre sie nie richtig verstanden hätten, weil wir immer von einer
positiven Anthropologie ausgegangen wären. Für uns war der Mensch gut,
aber das System war böse. Irgendwann, wenn erst das System geändert
wäre, so dachten wir, käme auch das Gute im Menschen hervor und alle
Probleme wären gelöst. Das ist natürlich sehr vereinfacht formuliert,
man könnte es komplexer erklären, aber darauf gründete letztlich
unsere Denkweise. Ich wies darauf hin, wenn man Schriften von Denkern wie Hannah
Arendt lese, könne man lernen, daß der Mensch weder gut noch böse
sei, sondern es darum ginge, politische Systeme zu finden, die die Möglichkeit der
Entwicklung der Menschen in die eine oder andere Richtung kontrollieren könnten.
Letzteres wäre eben das Wesen der Republik und der Demokratie; dies hätten
die zukunftsverheißenden Systeme, ob Sozialismus oder
Faschismus/Nationalsozialismus, nie verstanden. Ihre Verfechter würden doch
glauben, daß mit dem richtigen System auch der richtige Mensch an die richtige
Stelle käme. An dieser Stelle verlor Habermas nochmals seine Beherrschung.
Damals habe ich einmal mehr verstanden, wie schwierig es in der Bundesrepublik ist, einen
Demokratiediskurs zu führen, der offen dafür ist, dieses Deutschland und
diese Situation so zu akzeptieren, wie sie nun einmal ist.
Man kann nun auch in eine andere Richtung weiterdenken, in der Hannah Arendt ebenfalls
eine wichtige Stütze sein könnte: nämlich in der Verarbeitung des
Nationalsozialismus. In der Tat ist der Umgang damit in der Nachkriegszeit für viele
Intellektuelle eines der größten Probleme gewesen. Und wenn man sich heute,
1994, die Endlostragödie vieler LehrerInnen in ihrer Vermittlungsfunktion
gegenüber den SchülerInnen ansieht, so liegen ihre Mißerfolge nicht
zuletzt darin, daß die emphatische Position des ausgestreckten Zeigefingers, in der
die Geschichte als Mahnmal konstruiert wird, um dann den jungen Menschen eine
moralisch richtige Auffassung aufzwingen zu können, nicht funktioniert hat und
nicht funktionieren wird.
Denn letzten Endes war es immer das Problem, daß eine bestimmte Schicht in
Deutschland Auschwitz als das endgültige negative Merkmal deutscher
Identität interpretiert hat. Wenn man in der Pädagogik, in der Erziehung dann
über den Nationalsozialismus spricht, so ist man quasi gezwungen, jungen
Menschen beizubringen, daß sie ein schlechtes Gewissen haben sollen, weil sie als
Deutsche geboren worden sind. Diese Erziehungsstrategie hat die perverse Auswirkung,
daß deutsche Jugendliche über den Nationalsozialismus nichts mehr
hören wollen.
Wenn ich mich recht erinnere, hat neulich Helmut Dubiel in der Frankfurter Rundschau am
Ende seines Artikels ein sehr schönes Zitat von Hannah Arendt gebracht, wo sie
über den Umgang mit dem Faschismus/Nationalsozialismus sinngemäss
schreibt: Man muß den Leuten einfach sagen, wie es war.
Nicht im Sinne völliger Leidenschaftslosigkeit, weil man nie völlig
leidenschaftslos sein kann. Jedoch muß man es beschreiben, um dann zu sehen, was
sich daraus ergibt. Man muß abwarten können, was die Menschen mit dieser
Kenntnis anfangen, ohne zugleich schon mitzuformulieren, was sie daraus machen
müssen. Damit nimmt man ihnen nur die Möglichkeit, ihre eigene
Auseinandersetzung zu führen. Das heißt auch: Gelassenheit entwickeln.
Hannah Arendt hat ja immer, obwohl sie gekämpft hat, gegenüber
Deutschland Gelassenheit an den Tag gelegt.
Ein meines Erachtens weiterer wichtiger Bereich des Arendtschen Diskurses - und das
ermöglicht mir eine Ehrenrettung für etwas, was ich aus meiner
revolutionären Geschichte immer noch für wichtig halte - betrifft das
Nachdenken über Räte, über Rätedemokratie und über die
Möglichkeit einer Transzendenz des gegenwärtigen Wirtschaftssystems.
Hannah Arendt hat ja für die Räte als eine authentische Form politischen
Handelns plädiert; sie war eine der ersten, die versucht hat, die Unterschiede der
menschlichen Tätigkeiten zwischen Arbeiten, Herstellen und Handeln zu
formulieren, womit sie im Grunde genommen ins Zentrum der ganzen postfordistischen
Diskussion geraten war. Ich glaube, man muß eine Kritik an dieser kapitalistischen
Gesellschaftsordnung formulieren können, ohne sich auf die Option eines
zentralistischen Wirtschaftssystems festlegen zu müssen. In diesem Kontext sind auf
der einen Seite die demokratischen Vorstellungen einer Politik über die Räte
und das Projekt einer Demokratisierung der ganzen Arbeitswelt mit ihren
Entscheidungspositionen wichtig. Das schließt natürlich die Konkurrenz auf
dem Markt usw. nicht aus. Auf der anderen Seite ist es ebenso von Bedeutung, daß
es die Möglichkeit gibt, zwischen Arbeit und Tätigkeit zu unterscheiden.
Dann könnte man eine Gesellschaft denken, in der alle BürgerInnen
tätig sind und eine Grundversorgung der Menschen gewährleistet ist und
gleichzeitig die notwendige Arbeitszeit sich immer weiter reduziert. Die heutigen
Beschäftigungstheorien würden unter diesen Voraussetzungen natürlich
nicht mehr funktionieren.
Ich möchte noch auf eine andere Herausforderung im Denken Hannah Arendts
eingehen, einem Denken, das selbst immer eine Herausforderung zum Denken war. Sie
war keine Anhängerin der sogenannten »engagierten« Philosophie. Dagegen wandte
sie sich immer sehr skeptisch bis kritisch. Insofern stellt sie die Antithese zu Herbert
Marcuse dar. Man soll Toten nichts Böses nachsagen, aber trotzdem möchte
ich feststellen: Herbert Marcuse war für mich nachträglich das Musterbeispiel
eines opportunistischen Philosophen, wie dies auf eine andere Art und Weise auch Jean-
Paul Sartre war. Um diese Kritik positiv zu wenden: Will man den engagierten
Philosophen akzeptieren und respektieren, so nur, wenn man nicht vergißt, daß
auch bedeutende Philosophen und Denker nicht davor geschützt sind, den
größten Unsinn zu verbreiten. Sieht man sich die politischen Stellungnahmen
von Sartre an, so kommt man zu dem Ergebnis, daß er zu 90 % Unrecht gehabt hat.
Er war beseelt von einer bewundernswerten Freiheitsidee, die auch unsere ganze
Generation geprägt hat. Wenn man jedoch genauer hinschaute, mußte man
feststellen, daß sein emanzipiertes Leben mit Simone de Beauvoir nichts weiter war,
als eine schrecklich kleinbürgerliche und verlogene Veranstaltung.
Natürlich war es legitim, daß sich Herbert Marcuse für die
Studentenbewegung begeisterte, die den Beweis der Möglichkeit einer Opposition
und einer öffentlichen Kritik an diesem System erbracht hatte. Aber ich frage mich,
warum diese Begeisterung auch diesen Opportunismus nach sich ziehen mußte. Ich
möchte dies an einem Beispiel aus dem Vietnam-Krieg erklären. Ich erinnere
mich an einen Text von Herbert Marcuse, in dem er nachwies, daß in Nordvietnam
die sozialistische Gesellschaft deswegen existieren würde, weil es dort
beispielsweise Bänke gibt, auf denen nur zwei Personen sitzen können,
weshalb sich dort das Ideal einer Liebesbeziehung eher realisieren könne als in
anderen Gesellschaftsformen. Es gibt wahrlich atemberaubende Texte, auch von Sartre,
der »bewiesen« hat, warum irgendein Richter oder Kapitalist zwangsläufig ein
Kinderschänder sein müsse ....
Hingegen hat sich Hannah Arendt niemals zu einem solch »engagierten« Opportunismus
hinreißen lassen. Obwohl sie mit der Studentenbewegung sympathisierte, was sie mir
ja geschrieben hatte, war das für sie kein Grund, mit dem Denken aufzuhören
oder sich im Zweifelsfall einfach für eine Sache zu entscheiden.
Als das Bussing in Little Rock anfing 2, schrieb sie den berühmten Artikel
»Reflections on Little Rock«, in dem sie sich gegen diese Vorgehensweise der
Bundesregierung aussprach, weil sie der Überzeugung war, daß man zwar das
Gute wollen und dennoch etwas Schreckliches in Gang setzen würde. Für sie
mußten die Kinder dort etwas austragen, was die Erwachsenen politisch nicht
bewältigen konnten. Viele Liberale haben sie damals beschuldigt, nun auf der
konservativen Seite zu stehen; die wenigsten haben sich die Mühe gemacht, auf die
von ihr vorgebrachten Argumente zu hören. Dabei ist sie ja ganz entschieden
dafür eingetreten, daß man die gesetzlichen Verbote gegen Schwarze
aufheben muß, nur war es für sie ebenso unumstritten, daß man dabei
nicht mit den Kindern anfangen dürfe. Das war in etwa ihre Position, die meiner
Meinung nach auch richtig war und die zugleich den Stand einer freien Denkerin anzeigt,
die Dinge anspricht, die für uns gar nicht so einfach zu akzeptieren sind.
Ein weiterer Grundgedanke Hannah Arendts in dieser Auseinandersetzung war der,
daß Menschen das Recht haben, sich zusammenzuschließen und zu bestimmen,
wie und in welcher Form sie zusammenleben wollen, was auch das Recht auf eine eigene
Schule einschließt. (Ob sie damit in Bezug auf die öffentlichen Schulen richtig
liegt, hängt sicherlich auch vom Schulsystem in Amerika ab, das will ich gern
zugeben.) Diese Art der sozialen Selbstbestimmung war für Hannah Arendt legitim
und notwendig, solange sie nicht durch gesetzliche Regelungen vorgegeben, erzwungen
oder zementiert wurde. Das mögen wir vielleicht befremdlich finden, aber wenn wir
an eine Wohngemeinschaft denken, so impliziert dies ja genau das Gleiche. Hier ist es
für uns gar keine Frage, daß wir die Möglichkeit haben müssen zu
bestimmen, wie wir Arbeit, Leben gestalten wollen, auch gegen den Willen derer, die nicht
dazugehören.
Hannah Arendt war keine »engagierte« Philosophin oder Denkerin, sondern mischte sich
als eine interessierte Zuschauerin und Kommentatorin ein, immer darauf bedacht, auch ein
bißchen Distanz zu wahren, um das, was geschieht, auch beurteilen zu
können. Ich will von mir nicht behaupten, daß dies die Maxime meines
Handelns ist, obwohl ich in der Politik auch mal ganz gerne in diese Position (der
situierten Unparteilichkeit) schlüpfe.
Lassen sie mich mit einem Beispiel aus der aktuellen Debatte über den Krieg in
Bosnien schließen. Günther Verheugen, Bundesgeschäftsführer
der SPD, schrieb unlängst einen Kommentar dazu. Ich möchte
vorwegschicken, daß ein Joschka Fischer, eine Antje Vollmer, einige aus den Reihen
der CDU und auch ein Klaus Kinkel ähnlich wie Verheugen argumentieren. Und ich
möchte dann fragen, was Hannah Arendt zur Auseinandersetzung in Bosnien sagen
würde? Was würde sie Herrn Verheugen entgegnen?
Also, Herr Verheugen sieht also, daß der furchtbare Krieg nicht zu Ende gehen will.
Daher müsse man den kriegführenden Parteien, aber auch der ganzen
Völkergemeinschaft nachdrücklich klarmachen müßte, daß
der Krieg endlich aufhören müßte. Viele mögen an die Formel,
daß nur eine politische Lösung möglich sei, wie es Kinkel immer wieder
stereotyp wiederholt, nicht mehr glauben. Daher, so argumentiert Herr Verheugen weiter,
wäre die Alternative ein internationaler Krieg gegen die serbischen Angreifer,
vorausgesetzt, daß einige Staaten bereit wären, das Leben eigener Soldaten zu
riskieren. Ein solcher Krieg würde die militärische Macht der Konfliktparteien
erst einmal ausschalten und zu einem Frieden führen. Doch dann fragt Herrn
Verheugen sophisticated: Für wie lange? Nach dem Krieg hätte man seiner
Meinung nach dasselbe Problem wie vorher.
Mein erster Einwand lautet hier: Nach der Intervention der Antifaschismus-Alliierten in
Deutschland hätte man genauso argumentieren können.
Nun, Herr Verheugen schreibt weiter, daß deshalb eine Lösung gefunden
werden müßte, mit der die Menschen im ehemaligen Jugoslawien auf Dauer
friedlich zusammenleben könnten. Wunderbar. Da tatsächlich niemand den
Krieg gegen die Serben führen wolle, solle man aufhören, starke
Sprüche zu machen. In Ordnung. Und dann kommt folgender Satz: Die
Verantwortung für die notwendigen Maßnahmen in Bosnien würde
allein bei der UNO liegen. »Klein Moritz« Verheugen verlangt also von der UNO,
daß sie bereit und fähig sein müßte, ihre Schutzzonen auch
wirklich zu schützen und endlich eine wirkungsvolle Blockade gegen die Angreifer
durchzusetzen.
Wahrscheinlich hätte Hannah Arendt als erstes gesagt: So dumm kann doch kein
Mensch sein! Entweder will man Krieg führen oder meint, leider Krieg führen
zu müssen; dann kann man die Schutzzonen verteidigen. Oder man sagt umgekehrt,
daß man die Schutzonen nicht verteidigen kann, weil man keinen Krieg führen
will. Aber beides zugleich geht nicht.
Es gibt meiner Meinung nach nur noch diese beiden Positionen: entweder Krieg zu
führen, d.h. ein Heer zu mobilisieren, das die Serben zurückdrängt und
einen bosnischen Staat erhält. Das bedeutet dann aber auch, daß die Truppen
dort 10, 20, 30 Jahre stationiert bleiben, bis sich das Ganze entkrampft hat, um dann
irgendwann (das hätte 1945 in Bezug auf Deutschland auch niemand geglaubt) die
Truppen ohne Probleme aus Bosnien wieder abziehen zu können. Oder man
organisiert den Sieg der Serben, damit es möglichst schnell zu Ende geht. Wer
behauptet, es gäbe noch einen anderen Weg, der lügt. Ich bin der festen
Überzeugung, daß man Menschen finden muß, die sich ganz klar zu
diesem Entweder - Oder bekennen.
Es gibt heutzutage kluge Intellektuelle, daher will ich mich nicht über den
Niedergang der Intellektuellen in unserer Welt beklagen. Jedoch liegt Hannah Arendts
Stärke darin begründet, daß sie im Gegensatz zu vielen heutigen
Intellektuellen in einem Punkt zentral Recht behielt: und das war in ihrem
Verständnis des Totalitarismus gleich welcher Prägung. Da hat sie einfach
nicht gewackelt, keine Irrtümer begangen, weswegen ihrem ganzen Freiheitskonzept
eine unheimliche Kraft innewohnt. Die Mehrheit der Intellektuellen meiner Generation hat
da natürlich eine historisch befleckte Geschichte und Vergangenheit. Dies
heißt nicht, daß ihre Argumente falsch wären, doch ist ihre Stellung in
der Gesellschaft eine andere. Und wenn man Arendts Argumente und Positionen aufgreift,
so muß es möglich sein, in Fragen, die ganz zentral unsere Gesellschaft
betreffen, wie z.B. die Arbeitslosigkeit, auch die Kraft des Arendtschen Denkens
miteinzubeziehen, um so einen neuen Diskursraum in unserer Gesellschaft zu gewinnen.
Deshalb begrüße ich auch ausdrücklich die Stiftung eines Hannah
Arendt-Preises.
Noch eine letzte Anmerkung zu der Frage, wer den Preis bekommen soll. Ich bitte darum,
hier nicht mißverstanden zu werden. Ich fände es lobenswert, wenn die erste
Person, die in Deutschland einen Hannah-Arendt-Preis erhält, eine Frau wäre.
Eines der Probleme Hannah Arendts war es, daß ihr die theoretische Anerkennung,
die ihr eigentlich zugestanden hätte, teilweise versagt geblieben ist, weil sie eine
Frau war.
Alle Vorschläge, die ich gehört habe, sind legitim; jeder von ihnen
wäre ein wunderbarer Preisträger. Ich hätte damit überhaupt
keine Probleme. Da aber der Preis zum ersten Mal vergeben wird, so hat das auch eine
historische Dimension und auch eine mehr oder minder große Symbolwirkung. Die
eventuelle Suche nach einer Preisträgerin sollte daher nicht aus einer falsch
verstandenen feministischen Position angegangen werden, sondern um Hannah Arendts
Kampf um die Anerkennung in der Intellektuellenwelt als Frau gerecht zu werden. Dies ist
mein Argument, und meine kleine Forderung an den Beirat besteht darin, darüber
nachzudenken.
Danke.
1 Vortrag von Daniel Cohn-Bendit auf der Hannah Arendt Tagung 1994 in Bremen Zurück
2 In Little Rock kam es zu Unruhen, nachdem, aufgrund einer staatlichen Integrationsmaßnahme,
schwarze SchülerInnen aus den Elendsquartieren mit Bussen in die Schulen der weißen Gegenden
gefahren wurden. Der Aufsatz von Hannah Arendt wurde 1959 unter dem Titel 'Reflections on Little
Rock' veröffentlicht. Eine deutsche Textfassung liegt vor in: Hannah Arendt: Zur Zeit. Politische Essays,
hrsg. von M.L. Knott, Berlin 1986 Zurück