War Hannah Arendt eine Linke?

Otto Kallscheuer

Die - ob nun affirmative oder ablehnende - Antwort auf die Titelfrage präjudiziert per se noch keine Stellungnahme zur davon zu trennenden Frage nach der aktuellen Bedeutung und Prägnanz ihres Denkens für die heutige Linke. Wie es rechte und liberale Klassiker gibt, deren Rezeption gerade eine gegenwartsbezogene Linke nicht vernachlässigen wird, so haben uns umgekehrt bedeutende Theoretiker der Linken - ich nenne als Beispiel Rosa Luxemburg - analytisch nicht mehr viel zu sagen. Und Bemühungen, nunmehr eine Arendtsche "Politik der Urteilskraft" als politisch korrekte Haltung der authentischen Linken zuzurechnen, zeugen von einer richtungspolitischen Konzeption geistigen Eigentums, die mehr mit kollektiven Identifikationsbedürfnissen gemein hat als mit der Souveränität des urteilenden Subjekts.

Denn bereits die Annahme, linke Zeitdiagnose habe allein aus der Tradition der Linken zu lernen, gehört zu einer identitären Auffassung von politischer Theorie. Angst vor dem Unerwarteten entsteht auch, weil politische Ereignisse das eigene Lager zerrütten könnten. Mit der Linken hat sie nur so viel zu tun, als die gegenwärtige Konstellation des Politischen, vor allem in der demokratischen, reichen, entwickelten Welt, einer linken, stärker egalitär ausgerichteten Einstellung tatsächlich mehr Motive für Angst und Skepsis zu liefern vermag als einer Rechten, die aus Tradition stärker auf soziale und kulturelle Unterschiede setzen kann.

Fortschrittliche Kräfte

Vermutlich ist die jeweilige unbefragte Zukunftserwartung eines der Hauptcharakteristika, die die verschiedenen "politischen Generationen" voneinander scheiden. Meine Generation (das ist die der heute vierzig- bis fünfzigjährigen und vielgescholtenen "Achtundsechziger") ist in den Jahren des Wirtschaftswunders noch mit einer selbstverständlichen Fortschrittserwartung großgeworden. Das war ein Erfahrungshorizont, welcher in Europa allgemein geteilt wurde, und auch von den Eliten und Führungsmächten des West- und Ostblocks in den USA und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, dessen Psychodynamik in beiden Teilen Deutschlands allerdings auch eine Flucht nach vorn implizierte: weg von der Erfahrung von Krieg und Niederlage, weg von den Fragen der deutschen Verantwortlichkeit für Nationalsozialismus und Massenmord. Die "Achtundsechziger" haben nun nicht nur die Vergangenheit ihrer Elterngeneration zu - wie man damals sagte - "hinterfragen" begonnen; sie haben auch den Fortschrittsbegriff kritisch ("reflexiv" oder "revolutionär") gegen den reinen Wachstumsgedanken und Bereicherungstrieb der Elterngeneration gewandt und somit moralisch radikalisiert. Aber auch ihre Kritik an den Verbrechen der Vergangenheit geschah im Namen eines demokratischen Fortschritts. Die Kritik an den institutionellen oder moralischen Verkrustungen des "Establishment" evozierten Forschritt als "Beschleunigungsbegriff" (Reinhart Koselleck) oder Bewegungsfetisch.

Nun: In ebendiesem Begriff des Fortschritts sah vor fünfundzwanzig Jahren die deutsche Jüdin und amerikanische Professorin Hannah Arendt die eigentliche Wurzel des "verblüffenden Konservatismus" auch der marxistischen neuen Linken: in ihrem "Widerstand gegen die Zumutung, den Grundbegriff aufzugeben, der seit mehr als hundert Jahren der gesamten Linken von den Liberalen über die Sozialisten bis zu den Kommunisten gewissermaßen heilig gewesen ist und den wir zweifellos nirgends auf so hohem geistigen Niveau finden wie in den Schriften von Karl Marx". Wenige Sätze zuvor stellt Hannah Arendt in Macht und Gewalt, ihrer Auseinandersetzung mit der Studentenbewegung, der marxistischen Selbstinterpretation der neuen Linken den "moralischen Charakter ihrer Rebellion" entgegen. Für Arendt rühren "die zahlreichen theoretischen Unstimmigkeiten seitens der Neuen Linken ... samt und sonders daher, daß man die Wirklichkeit des zwanzigsten Jahrhunderts mit Kategorien des neunzehnten zu verstehen sucht". Die Form der Arendtschen Kritik des Fortschritts - ihr intellektueller Habitus - ist nun selber eine fortschrittliche: indem sie als Kritik am Konservatismus eines Denkens, das stillsteht, gegen den Prozeß des Fortschritts das Ereignis der Revolte setzt. Die gänzlich unerwartete Studentenrebellion der sechziger Jahre, "die sich ausschließlich in moralischen Kategorien versteht", gehört für Hannah Arendt somit selber noch mit zur Widerlegung der Geschichtsauffassung des stetigen, planbaren, sich akkumulierenden Fortschritts - sei es der liberalen Rechten, sei es der marxistischen klassischen Linken: "In beiden Fällen meint man, daß etwas ganz und gar Neues und Unvorhersehbares sich nicht ereignen kann, nichts, was nicht notwendigerweise aus dem folgt, was wir kennen."

Auch der Fall der Mauer - die Ereigniskette der osteuropäischen Implosionen der kommunistischen Regimes - war von niemandem, und am allerwenigsten von den berufenen Ostwissenschaftlern und Sowjetanalytikern, erwartet worden. Sollen wir nun auf jegliche Interpretation und Bewertung der geschichtlichen Entwicklung verzichten? Und zwar, ohne sogleich wieder nach einem Ersatz zu rufen - seien es nun apokalyptische Botschaften der Endzeit oder aber umgekehrt die selbstgefällige Botschaft vom liberalen "Ende der Geschichte" (Francis Fukuyama)? Folgt nun auf den radikalisierten Fortschrittsglauben der "Achtundsechziger" im Westen der Pendelschlag einer radikalisierten Fortschrittsfeindlichkeit? Während im Osten Europas nach dem Scheitern des kommunistischen "Fortschritts als Revolution" nun erst einmal der kapitalistische "Fortschritt als Wachstum" (Peter L. Berger) nachgeholt werden will? Oder: Muß die innerweltliche, "horizontale" Fortschrittsidee somit wieder zu ihrem "vertikalen" - auf transzendentes Heil ausgerichteten - Ursprung zurückkehren, zu jener dualistischen Spaltung der Weltgeschichte in Heilsgeschehen und Weltzeit, bei der (wie Hannah Arendt sehr wohl wußte) mit dem heiligen Augustinus die Genealogie der westlichen Fortschrittsidee beginnt?

Diese letzte Frage ist im Falle Hannah Arendts gewiß eine rein rhetorische. Denn eine szientistisch-funktionalistisch begründete Idee vom sozialen Fortschritt lehnte sie zwar ab - eher schon erwartete sie, nicht anders als Martin Heidegger oder auch ihr erster Mann Günther Anders in seinem Buch über Die Antiquiertheit des Menschen (1956), einen spezifisch modernen "Weltverlust" im Zeichen der planetarischen Technik.(1) Aber nicht minder kritisierte sie jede Hoffnung, in der Konversion zu einem religiös begründeten "System von Gewißheiten" ein Gegengewicht zur (von ihr akut diagnostizierten) Gefahr der Vernichtung menschlicher Freiheit im Selbstlauf des "Gestells" der modernen Massengesellschaft zu finden: Diese Haltung kritisierte sie beispielsweise an der Hinwendung Jacques Maritains und anderer antibürgerlicher Denker zum katholischen Neothomismus.(2)

Oder ist die Fortschrittsidee überhaupt sinnlos? Schließlich "stirbt der einzelne Mensch; andere einzelne Menschen gehen desselben Weges. Im physischen vervollkommnet sich die Natur nicht, und sie sollte im moralischen sich vervollkommnen? und diese Fortrückung wäre sogar das Ziel, die letzte Bestimmung unseres Geschlechtes?" Worin aber könnte denn ein - nicht physischer, sondern moralischer - Fortgang des Menschengeschlechts bestehen? "Wird das menschliche Geschlecht besser? besser in Neigungen, besser in Grundsätzen?"

Johann Gottfried Herder, der Theologe der deutschen Aufklärung, dem wir ebendiesen skeptischen Einwurf gegen die aufklärerische Idee der "Vervollkommnung" (perfectibilité) des Menschengeschlechts verdanken - "Soll und kann der Mensch mehr als Mensch, ein Über und Außermensch werden? Das soll und kann er nicht; das hoffet und wünschet von uns niemand" -, hatte in seinen Briefen zu Beförderung der Humanität doch gleichzeitig davor gewarnt, das "Ziel ausschließlich jenseits des Grabes (zu) setzen". Wohl deshalb hat er an einem - wenngleich "historistisch" gemilderten und auf eine Pluralität "letzter" Kulturwerte bezogenen - Fortschrittsbegriff festgehalten: "Dort (im Jenseits) kann nur wachsen, was hier gepflanzt ist, und einem Menschen sein hiesiges Dasein rauben, um ihn mit einem anderen außer unserer Welt zu belohnen, heißt den Menschen um sein Dasein zu betrügen." Eine völlige Verabschiedung der Fortschrittsidee würde offenbar die Menschen nicht nur der Illusion der perfectibilité, sondern auch ihrer Handlungsmotive berauben. Allerdings ist damit noch nicht ausgemacht, welcher Art eine Fortschrittsauffassung sein kann, die dem skeptischen Einwand Herders standzuhalten vermöchte.

War Hannah Arendt eine progressive Denkerin? Ihre politischen Einstellungen in der Nachkriegszeit können zwar - fast schon durch ihre soziale und kulturelle Verortung im Milieu der US-amerikanischen, häufig genug eingewanderten kosmopolitischen Intelligenz der Ostküste - in einem weiten und vagen Sinne durchaus als progressive oder liberal gelten; und das war natürlich ebenfalls das Milieu der Gegner des McCarthyismus in den fünfziger Jahren.(3) Davon zeugen schon die Publikationsorte ihrer amerikanischen Essays - also der literarischen Form, in der Hannah Arendt fast alle ihre politisch-kulturellen Interventionen zunächst verfaßte. Seit Beginn ihres amerikanischen Exils bis zu ihrem Tode hat Arendt schließlich immer wieder für aktuelle Periodika, für Zeitungen und Zeitschriften geschrieben: wie für das Menorah Journal oder die in New York erscheinende deutschsprachige Emigrantenzeitschrift Aufbau, für Zeitschriften wie den linkskatholischen Commonweal und den (damals!) progressiven Commentary (der natürlich noch nicht das Zentralorgan des Neokonservatismus in den USA war), für die in der New Yorker intellektuellen linken Elite tonangebende legendäre Partisan Review, für den sozialkritischen Dissent und natürlich für den mondänen New Yorker. Aber zugleich sind Arendts philosophische Auffassungen und kulturkritische Thesen ganz eindeutig fortschrittsskeptisch. Ich will das hier nicht ausführen (das Stichwort: Kritik der Massengesellschaft sollte genügen), sondern will nur bemerken, daß Arendts philosophisch-politischer Antiprogressismus nicht allein für ihr Buch über die Entstehung und den Begriff des Totalitarismus gilt (die Entmenschlichung als Produkt der Moderne); sondern auch für ihre Arbeiten aus den fünfziger Jahren und ihr Magnum Opus Vita Activa.(4)

Das schließt zwar nicht aus, daß man oder frau sich heute - ex post - Arendtscher Kategorien gewissermaßen bedient. Man kann dies natürlich tun, auch um einen alternativen Fortschrittsbegriff zu formulieren - wie dies etwa einige grüne oder ökosozial(-istisch) eingestellte Kritiker des industrialistischen Wachstumsmodells getan haben (und weiterhin tun); oder auch Vertreterinnen einer Interpretation der Moderne, die alternative Kriterien eines "Fortschritts im Bewußtsein der Freiheit" zur Geltung kommen lassen wollen. So verstehe ich etwa einen neueren Aufsatz von Seyla Benhabib, in dem sie die Berliner Salons und die Kommunikationsformen Rahel Varnhagens in Arendts Rahel-Biographie als spezifisch moderne Formen einer alternativen emanzipatorischen "Geselligkeit" deutet.(5) Aber dies wäre dann unsere Auffassung von einem "Fortschritt in der Kommunikation von Geselligkeit" - jedenfalls nicht mehr die von Hannah Arendt. Und man könnte zu diesem Thema - zur Frage alternativer und gender-differenzierter Formen der Geselligkeit: gibt es eine weiblichen Form der Moderne ? - gewiß bei Georg Simmel mehr lernen, als ausgerechnet bei Hannah Arendt.

Wenn man aber unter der "Linken" die real existierende Linke der letzten fünfzig Jahre, also die Parteien der alten Linken und die Bewegungen der Neuen Linken versteht, dann war der Fortschrittsbegriff eine der wenigen Gemeinsamkeiten, die Sozialdemokraten, Kommunisten und libertäre Sozialisten überhaupt noch verband. Hannah Arendt, die selbst aus einem fortschrittlich-aufgeklärten, assimilierten und kosmopolitischen deutsch-jüdischen Milieu stammte (dessen tragische historische Erfahrung sie ebenso in ihrem Lebensweg verkörpert wie in ihrem Totalitarismusbuch wiederholt und prägnant analysiert hat), behielt von der Weltauffassung der klassischen liberalen oder sozialistischen "Fortschrittspartei" des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts gerade noch die religionskritische Grundeinstellung bei. (Das sollte sie übrigens nicht daran hindern, neben Leo Strauss eine der wichtigsten Vermittlerinnen nicht nur der existentialistischen, auch der christlichen europäischen Philosophie an amerikanischen Universitäten zu werden.)

Politische Irritationen

War Arendt eine Progressive? Ich sagte schon, ich glaube nein. Ist die Linke durch den (oder: einen) Fortschrittsbegriff definiert? Ich glaube, das ist wohl deutlich geworden, ja - jede Linke strebt nach Verbesserung, Reform, Heilung, tikkun der sozialen Welt. Freilich kann (oder: sollte) dies heute nicht mehr ein geschichtsphilosophischer oder auch funktionalistisch-deterministischer sein - es kann sich allenfalls noch um einen "Möglichkeitsbegriff" handeln (Musil): also eine nicht "rein" moralische, sondern eine anthropologisch, sozial- und kulturtheoretisch informierte normative Option. Ein Gesellschaftszustand, der fortgeschrittener, ausdifferenzierter, moderner, avantgardistischer ist, ist jedenfalls nicht bereits deshalb einem weniger differenzierten vorzuziehen.

Hannah Arendt war - in ihren Publikationen - weder im sozialen Sinne "links" noch "fortschrittlich" in der zeitgenössischen Bedeutung dieses Wortes eingestellt. Das hängt, wie gesagt, von der jeweiligen Definition der Linken ab. Ich nehme hier die historisch auf uns gekommene, jüngst von Norberto Bobbio mit pädagogischer Präzision rekapitulierte Bestimmung der Linken als egalitäre Richtung / Bewegung / Parteinahme auf, die natürlich nicht unbedingt einer (im normativen Sinne) positiven Bestimmung gleichkommt. Ein diktatorischer Egalitarismus ist, jedenfalls solange bestimmte Grundgüter gesichert sind, im Verhältnis zu einer relativ stärker von sozialer Ungleichheit geprägten, aber freieren Gesellschaft abzulehnen. (Vgl. die Rangordnung der beiden Prinzipien der Gerechtigkeit in John Rawls Theorie der Gerechtigkeit:) Man kann natürlich links auch anders definieren. Aber ein Streit über Definitionen lohnt in der Regel nie.

Es war gerade Hannah Arendts Offenheit für Irritationen vorgegebener Denkschemata, ihre Bereitschaft, geschichtsphilosophisch oder gesellschaftstheoretisch nicht vorgesehene (und unvorhersehbare) Ereignisse als Innovation wahrzunehmen, der wir auch ihre politisch-philosophischen Innovationen verdanken. "Ereignisse sind dadurch gekennzeichnet," - so schrieb sie 1969 angesichts der Studentenrevolte in dem bereits zitierten Essay Macht und Gewalt - "daß sie automatische Prozesse oder zur Gewohnheit gewordene Verfahrensweisen unterbrechen; nur eine Welt, in der sich nichts ereignet, entspräche der Grundprämisse der Futurologen."

So ist es kein Wunder, daß - mit Ausnahme natürlich ihres Eichmann-Buches, das ja auch aus Zeitschriftenessays hervorgegangen war (und zu dem ich hier nichts sagen will) - die meisten ihrer politischen Essays in Europa überhaupt keine breitere Diskussion auslösten. Zwar wurde ihr Totalitarismus-Buch bald in die politisch korrekte Bibliothek der antikommunistischen Rechten und Linken aufgenommen, aber Hannah Arendts direkt politisch eingreifende Essays blieben damals weitgehend unbekannt - und mit Ausnahme ihrer Kritik an der Studentenbewegung (1969) und ihren Überlegungen zu den Pentagon-Papieren (1971) - erst in den achtziger Jahren veröffentlicht. Sieht man von ihrer unmißverständlichen antikommunistischen Grundentscheidung für die Regierungsform der westlichen Demokratien ab, so ließen sich ihre Stellungnahmen nicht als Parteinahmen für vorgegebene politische Lager verwenden.

Erstens: Ihre radikale Kritik an den Illusionen der jüdischen Assimilation in die europäischen Nationen, auch eine Abrechnung mit ihren eigenen Hoffnungen als deutsche Jüdin vor 1933, und ihr Eintreten für die jüdische Siedlungsbewegung in Palästina waren gleichzeitig von kompromißloser Kritik an der 1944 erfolgten "revisionistischen" Entscheidung der zionistischen Organisationen für einen jüdischen Nationalstaat begleitet.

Zweitens: Ihre unerbittliche Kritik an der moralischen Amnesie im westlichen "Adenauer-Deutschland", wie sie die alte BRD nannte, schloß gleichzeitig ihre strikte Ablehnung jeglicher "Kollektivschuld"-Thesen gegenüber dem deutschen Volke nicht aus; ihre Überlegungen zur "Persönliche(n) Verantwortung unter der Diktatur" (1964) sind auch heute, für die postkommunistischen Länder, höchst aktuell. Übrigens - um auch hier keine Hagiographien zu betreiben: Hannah Arendt hat sich dabei durchaus auch, in reichlich fragwürdiger Weise, vergaloppiert. Ich denke dabei an ihre sprachliche Analogiebildung vom "Adenauer-Regime", die sich etwa in einer Vorlesung über Moralphilosophie an der "New School for Social Research" aus dem Jahre 1963 findet. Denn diese sprachliche Angleichung der demokratisch gewählten westlichen Regierung eines konservativen Katholiken und Nazi-Gegners mit kommunistischen oder faschistischen Regierungen ähnelt paradoxerweise der Argumentation und Sprachregelung der SED. Auch der zutreffende kritische Hinweis, das Adenauer-Regime sähe "participation in the Hitler-regime, unless it bordered on criminality, [not] as a reason to disqualify anybody from public office", wirkt zumindestens dann recht fragwürdig, wenn man bedenkt, daß Martin Heideggers "participation" als Chefideologe der Gleichschaltung der deutschen Universitäten zum Arbeits-, Wissens- und Kriegsdienst ihn in Hannah Arendts Augen keineswegs vom public office des Philosophieprofessors disqualifiziert hatte.(6)

Honi soit qui mal y pense. Mit anderen Worten: Wenn Arendt schon als politische Existentialistin auch die Authentizität des öffentlichen Handelns, Redens und Schweigens, zum politischen Kriterium macht, welches die funktionalen Argumente zugunsten von Stabilitäts- und Wiederaufbau-Erfordernissen außer kraft setzen könne (etwa die berühmte Rationalisierung des "kommunikativen Beschweigens" der Verstrickung der Täter durch Täter und Opfer, von der Hermann Lübbe im Vorfeld des deutschen Historikerstreits gesprochen hatte), wäre es dann nicht nur fair, dieselben Kriterien auch auf den im "Wohnsitz des Denkens" hausenden Magier von Meßkirch anzuwenden? Oder heißt es hier: quod licet Jovi, non licet bovi?(7)

Drittens: Arendts radikale Kritik am kommunistischen Totalitarismus verband sich ja gleichzeitig mit einer harschen Kritik an der Rolle ehemaliger kommunistischer Parteigänger bei der Sympathisantenverfolgung in der McCarthy-Ära und - vielleicht wichtiger noch! - sie schloß ihre emphatische Verteidigung der in der freien Welt als kryptokommunistisch angegriffenen Studentenrebellion der sechziger Jahre ein: als einer Revolte, "die sich ausschließlich in moralischen Kategorien versteht", mit ihren rätedemokratischen Idealen und ihrem "noch nicht aufgebrauchten Vorrat an Vertrauen in die Möglichkeit, durch Handeln die Welt zu verändern".

Hannah Arendt war gewiß (und mit Recht) keine Pazifistin. Sie war aber auch nicht der Meinung, der antitotalitaristische Kampf rechtfertige den Einsatz von Atomwaffen; der Atomkrieg war für sie nur als strategischer Positionskrieg, als "hypothetical warfare" um Droh- und Abschreckungskapazitäten rechtfertigbar. Aber: "The truth is that a rational debate is impossible as long as we find ourselves caught in a technical stage of development where the means of warfare are such as to exclude their rational use." Die Debatte - lieber rot als tot versus lieber tot als rot - hielt sie also für unehrlich: "Insofar as the discussion of the war question moves within the closed circle of this preposterous alternative, it is nearly always conducted with a mental reservation on both sides. Those who say ,better dead than red` actually think ,The losses may not be as great as some anticipate, our civilization will survive`; while those who say ,better red than dead` actually think ,slavery will not be so bad, man will not change his nature, freedom will not vanish from the earth forever.` What should alarm us in these discussions is the reckless optimism on both sides." Es ist also nicht sicher, wie Arendt sich in der Nachrüstungsdebatte über die cruise missiles verhalten hätte!(8)

Und viertens schließlich - not least - ihr emphatisches Eintreten für die US-amerikanische Demokratie und Tradition verband sich gleichzeitig mit einer radikalen Kritik nicht nur der US-amerikanischen Außenpolitik, vor allem im Ostasien, sondern auch der inneren Verfassung der amerikanischen Gesellschaft selbst.

In ihrem letzten zu Lebzeiten veröffentlichten Artikel "Home to roost" (wenn ich mich nicht täusche, ist der Titel eine Anspielung auf Malcom X's Rede nach der Ermordung John F. Kennedys: Der US-Imperialismus hat Gewalt in aller Welt gesäht - jetzt kommen die Küken heim zur Henne) anläßlich der Zweihundertjahrfeier der amerikanischen Revolution stellt Arendt sogar die Frage, ob die "faktische Verwandlung einer anfänglichen Produzentengesellschaft in eine Konsumentengesellschaft", die im politischen Felde ein Überhandnehmen der Public-Relation-Experten und der Meinungsmanipulation mit sich brachte - "die jahrelange Einübung auf Images, welche anscheinend eine ebensolche Gewöhnung hervorbringt wie die Drogenabhängigkeit" - nicht auch ein Vordringen der Kriminalität und "uferlosen Lügens" in die politische Sphäre bedeute. Ein solcher Zerfall demokratischer Macht könnte - warnt Arendt - einen historischen Bruch hervorbringen, vergleichbar dem, der in Europa die Zerstörung der Politik durch den Totalitarismus bedeutete: "Es ist durchaus möglich, daß wir an einem entscheidenden Wendepunkt der Geschichte stehen, welche ganze Epochen voneinander trennen. Für uns Zeitgenossen, die wir in die unerbittlichen Anforderungen des täglichen Lebens verstrickt sind, ist die Trennlinie zwischen einem Zeitalter und dem nächsten wahrscheinlich kaum sichtbar".(9)

Geschichte und Handeln

Sich mit diesen Irritationen auseinanderzusetzen hat die europäische Linke - aber nicht nur sie - versäumt: Die europäische linke Intelligenz - in Ländern wie Frankreich und Italien gehörte sie in den Jahren des Kalten Krieges zumeist zu den "fellow travellers" der kommunistischen Parteien - stieß sich an Arendts libertärem Antikommunismus und überließ vor allem Raymond Aron eine sachliche Auseinandersetzung mit ihren Schriften. Die liberal-antikommunistischen Blätter wie Der Monat oder aber das katholische Hochland hingegen - in denen doch viele ihrer Artikel erschienen waren - stießen sich offenbar an ihrer Weigerung, dem Weg vieler "Ex-Kommunisten" zu folgen, und den Kampf der Systeme zum ideologischen Kampf zweier Weltanschauungen zu überhöhen: ihm den Charakter eines "letzten Gefechts" zu geben.

Doch in der Demokratie - der freien, offenen Gesellschaft - wird es niemals ein letztes Gefecht mit dem Totalitarismus geben können. Gerade für das totalitäre Denken sei es charakteristisch, ein Ende aller Konflikte vorzusehen. Die antikommunistisch gewordenen Exkommunisten sind in Arendts Sicht einem strategisch-instrumentellen Verständnis politischer Auseinandersetzung aus der totalitären Logik des Partei gewordenen Marxismus auf eigenartige Weise treu geblieben: Wie die Kommunisten den amerikanischen Liberalismus als inkohärent - das heißt letztendlich als Werkzeug der kapitalistischen Bourgeoisie - kritisierten, so werde er von den "Ex-Kommunisten" als "unamerikanische" mangelnde Wachsamkeit gegenüber kommunistischen Umtrieben, als Werkzeug der kommunistischen Verschwörung angegriffen. Das Ziel, den totalitären Drachen zu besiegen, erlaube aber kein liberales Zaudern und Fackeln, sondern eine "wehrhafte Demokratie", die dann zwangsläufig selbst zum Drachen wird. Dahinter stehe die bekannte Logik: Das Ziel, der Kampf gegen den Kommunismus, rechtfertigt die Mittel: Man kann kein Omelette braten, ohne vorher Eier zu zerschlagen.(10)

In dieser hemdsärmelig antikommunistischen Haltung, die als erstes nach administrativen Berufsverboten und medienwirksamen Tribunalen ruft, wittert Hannah Arendt geradezu ein unbewältigtes marxistisches Erbe - "die Verwechslung von politischem Handeln und dem ,Machen` von Geschichte."(11) Die Geschichte jedoch kennt für Hannah Arendt kein Endziel: Was die Geschichte uns berichten kann, sind viele Anfänge, aber kein Ende. Denn Handeln - Interaktion, als Grundbegriff der Arendtschen politischen Theorie später eng mit ihrem amerikanisch-"bürger-republikanischen" Ethos der Freiheit als public happiness verknüpft - ist anthropologisch gesehen gerade kein instrumentelles "Machen", sondern (ich zitiere wieder aus Macht und Gewalt) "die Antwort des Menschen auf das Geborenwerden als eine der Grundbedingungen seiner Existenz: da wir alle durch Geburt, als Neuankömmlinge und als Neu-Anfänge auf die Welt kommen, sind wir fähig, etwas Neues zu beginnen." Hannah Arendt unternimmt ebenso in ihren politisch-eingreifenden Essays wie in ihren politisch-theoretischen Arbeiten den Versuch, "Geschichte" und "Geschichtlichkeit" wahrzunehmen: als Geschehen von Ereignissen und als Erzählen von stories, von Geschichten, die einen Anfang haben - wenn auch ihr Ende offen ist.

Geschichte ist für Arendt also (unerwartete) Innovation - und Geschichte erschließt sich für Arendt nur in einer narrativen Äußerung von Sinn. Gewiß verbinden beide Akzente Hannah Arendt weit eher mit Thukydides - der die Sammlung und das Niederschreiben (syngraphein) der Ereignisse des peleponnesischen Krieges mit seiner Erwartung begründet, dieser Krieg werde bedeutender, "größer" sein als alle anderen Kriege der Barbaren und Hellenen(12) - als mit der sozialdemokratischen Gesellschaftsgeschichte oder der grün-alternativen Geschichte "von unten": "Historisch" ist ein Geschehen, das den eingefahrenen Lauf der gesetzmäßigen Ereignisfolge oder den "stummen Zwang der Verhältnisse" durchbricht; und "historisch" nennen wir Erzählungen von wahren Begebenheiten, deren Verlauf wir einen Sinn, eine "Moral" beimessen können. Beide Bedeutungen von Geschichte verweisen auf die spezifisch menschliche, zwischenmenschliche Fähigkeit, die Hannah Arendt im emphatischen Sinne "Handeln" nennt (und in Vita activa vom "Arbeiten" und vom "Herstellen" unterscheidet). Dies Handeln erst mache authentische Politik möglich - die revolutionäre "Gründung" einer in und durch die agonale Kommunikation freier Individuen, durch den politischen Wettstreit gemeinsamen öffentlichen Sphäre der Polis, welche die libertäre Romantikerin Arendt auf ihrem Weg von Königsberg nach Manhattan nicht nur im Gründungsmythos der amerikanischen Revolution suchte und wiederfand, sondern auch in der Studentenbewegung oder den Räten der ungarischen Revolution. Und gewiß hätte sie sie auch in den antikommunistischen friedlichen Revolutionen (mit oder ohne Anführungszeichen) des Ostblocks von 1989 gesucht ... Ich weiß freilich nicht, ob sie sie hier wiedergefunden hätte.

Jedenfalls, in ihrer Option für die "Eigentlichkeit" der öffentlichen Freiheit in der Politik, war Hannah Arendt auch keine Liberale: Die Freiheit, die ihren Eingriffen in die öffentliche Debatte als normativer Idealtypus unterlag, war die republikanische "liberté des ancients", nicht die bürgerliche "liberté des modernes", welche die Politik dem Repräsentativsystem überläßt (Benjamin Constant). Hannah Arendts Verachtung für die Arbeitsteilung zwischen apolitischem Bourgeois und dem die öffentliche Freiheit sich aneignenden Politiker des Repräsentativsystems verband sie durchaus mit ihren philosophischen Gegnern Rousseau und Marx - und um so heftiger (um nicht zu sagen intimer) sollte daher ihre Kritik an der französischen Revolution und ihrer jakobinisch-marxistischen Lesart in ihrem Buch Über die Revolution (1963) ausfallen.

Verstehen

Sogar das "reine Denken" der vita contemplativa, das solitäre Selbstgespräch der "Zwei in einem", das das eros des sokratischen Philosophierens oder auch die augustinische Gottesliebe auszeichnet - und das in Arendts Urteil letztlich die Grundlage für die Fähigkeit bleibt, sich dem totalitären Mitmachen und Mitlaufen zu entziehen -, bleibt an die zwischenmenschliche Welt gebunden, an jenes inter (homines) esse, in dem allein Ereignisse stattfinden können: "Wie abstrakt auch immer unsere Theorien sein mögen und so konsistent unsere Argumentationen auch erscheinen mögen, hinter ihnen liegen immer Ereignisse und Geschichten (incidents and stories), die jedenfalls für uns wie in einer Nußschale die volle Bedeutung all dessen enthalten, was immer wir zu sagen haben" - sagte sie 1960 auf der Jahresversammlung der amerikanischen Vereinigung für politische Wissenschaft: "In anderen Worten, die Kurve, die die Aktivität des Denkens beschreibt, bleibt stets an Ereignisse gebunden, wie der Kreis an seinen Mittelpunkt."

Nun war allerdings das Grundereignis im Denken Hannah Arendts, eine Ereignisfolge, die im Ergebnis jedes zwischenmenschliche, genuin politische Handeln unmöglich machen sollte: Die Erfahrung des "Zivilisationsbruchs" (Dan Diner), die Arendt unter dem Begriff der totalitären Herrschaft faßt, als "einer neuen, in der Geschichte noch unbekannten Staatsform", wird für Hannah Arendt zum negativen Leit- und Grenzbegriff des Politischen. Das "epistemologische Paradox" (von dem Paul Ricoeur gesprochen hat), auf das ihr Totalitarismus-Buch hinausläuft, besteht darin, das Ende des Verstehens zu verstehen: "Dem Terror gelingt es, Menschen so zu organisieren, als gäbe es sie gar nicht im Plural, sondern nur im Singular, als gäbe es nur einen gigantischen Menschen auf der Erde, dessen Bewegungen in den Marsch eines automatisch notwendigen Natur- oder Geschichtsprozesses mit absoluter Sicherheit und Berechenbarkeit einfallen" - doch damit hört zugleich das Verstehen selbst auf.

Der Totalitarismusbegriff wäre somit das Memento mori der intersubjektiven Welt in der Moderne. Und dieser moral-ökologische GAU - die Möglichkeit des zwischenmenschlichen Todes des Verstehens, verweist umgekehrt auf die unverzichtbare Rolle einer geteilten Welt von Bedeutungen - als das lebensweltliche Existenzminimum einer authentischen politischen Interaktion, worin allein für Arendt der republikanische Gebrauchswert der Demokratie besteht. Eine sinnvolle Tradition nach dem Zivilisationsbruch des Totalitarismus wiederherzustellen setzt voraus, die Bedingungen zwischenmenschlicher Freiheit zu begreifen, die menschliche Mitwelt nicht wieder abreißen zu lassen. Nur dies - also die Wiedereroberung des einmal verlorenen und weiter bedrohten Politischen - wäre eine Art "Verstehen" des Totalitarismus, genauer: ein Wissen um die prekäre Natur des öffentlichen Raums der Freiheit unter den Bedingungen der Moderne. "In dem Maße, in dem das Heraufkommen totalitärer Regierungen das Hauptereignis in unserer Welt ist" - schreibt sie 1953 -, "heißt den Totalitarismus verstehen, nicht irgend etwas verzeihen, sondern uns mit einer Welt versöhnen, in der diese Dinge überhaupt möglich sind".

Hannah Arendt hat die aktuellen oder zukünftigen Weisen möglicher Zerstörung authentischer politischer Pluralität weniger analytisch als in düsteren, also realistischen Visionen ausgelotet: Mich persönlich erinnern sie, was heutige politische Theoretiker angeht, stark an die letzten Aufsätze von Christopher Lasch. Ich vermute freilich, daß Hannah Arendt nicht bereit gewesen wäre, auch die "kommunitaristischen" Konsequenzen aus ihren Diagnosen zur Krise der Erziehung, zum Verfall der öffentlichen Meinung, zum Ende des "römischen" Über-ichs der amerikanischen Politik zu ziehen.(13)

Die deutsche Jüdin Hannah Arendt aus Königsberg war viel zu sehr durch die universalistischen Subjektivitätsideen der deutschen Klassik und das weltausgreifende Ich der deutschen Romantik geprägt und sie hatte - vor dem Hintergrund des jüdischen Geschicks im nationalsozialistischen Europa - auch dessen existentialistische Radikalisierung in der "absoluten Vereinzelung" einer Heideggerschen Eigentlichkeit zum Tode denkend erlebt(14), als daß sie in einer puritanischen Farmergemeinde des amerikanischen Mittelwestens, einer Selbsthilfegruppe metropolitaner Jugendlicher, in den verschiedensten Formen ethnischer oder auch religiöser Revivals ein (post-)modernes funktionales Äquivalent zur agora - oder, for that matter, zum Salon Rahels hätte erblicken wollen.

Die klassische Linke aber (und hier meine ich nicht die Stalinisten, sondern die Reformisten oder Vertreter der sozialen Demokratie, vor allem aber die neue Linke der sechziger und folgenden Jahre) hat Arendts Provokationen nicht verstehen wollen: Daß die gleiche politische Freiheit aller Bürger und Bürgerinnen wichtiger ist als jede Sozialleistung - nicht nur, aber auch als Bedingung der Möglichkeit, um gewaltfrei für mehr sozialen Schutz oder (besser) andere Sozialisierungsformen von Not, Krankheit, Risiko zu kämpfen -, ließen wir uns eher von einem Grenznutzen-theoretisch rationalisierten oder aber einem an die angelsächsische Sprachphilosophie anschlußfähig gemachten Kant erzählen (also von John Rawls oder Jürgen Habermas) als von dieser kulturell eher konservativen Alteuropäerin aus Manhattan.

Freilich: Als echte Existentialistin hat Hannah Arendt die institutionellen Bedingungen der Freiheit ebensosehr vernachlässigt wie die sozialökonomischen Dimensionen der Gerechtigkeit. Was heißt denn public happiness außerhalb des Gründungsereignisses (oder des Gründungsmythos) republikanischer Freiheit? In welchen Institutionen kann sie sich ausleben? Verträgt die existentialistische Emphase des "authentischen" Miteinanders - des revolutionären Fests als Prototyp der "Fusionsgruppe" bei Sartre, der verfassungsgebende Prozeß der amerikanischen Revolution bei Hannah Arendt - seine notwendige Verrechtlichung durch eine Verfassung, die immer auch eine Selbstbindung, also eine Einschränkung zukünftiger Handlungsfreiheit, bedeutet?

Vor allem aber - und bei aller berechtigter Kritik am Fehlen der Dimension der Gerechtigkeit in Arendts Oeuvre - hat die Linke den radikal-republikanischen, und ergo zugleich antietatistischen Impetus des Arendtschen romantischen Begriffs kommunikativer Freiheit unterschätzt. Die Befähigung aller Bürger(-innen) zum öffentlichen Handeln, die eine Aktualisierung von Hannah Arendts "griechisch-römischem" Republikanismus unter Bedigungen der Massengesellschaft und elektronischen Medien voraussetzen müßte, implizierte schließlich ein erziehungs-, kultur-, familien- und sozialpolitisches Programm von derartiger Reichweite und würde wahrscheinlich eine Reform von Arbeits- und Beschäftigungsverhältnissen, von Familienmustern und Zeitökonomien erfordern, wie wir sie eher bei utopischen Sozialisten wie Fourier oder Proudhon oder Illich oder Gorz konzeptionell angedacht finden als bei Marx oder Lassalle.

Eine neue Linke könnte dann allerdings auch sagen: Wenn dem so ist, dann läßt sich diese angeblich so fundamentale Trennung von sozialen Unterscheidungsmustern und politischen Freiheitsrechten, die Hannah Arendt immer wieder als Warntafel "No Trespassing!" aufstellte, gar nicht aufrechterhalten: Wir verstehen die Warnung, aber die Grenzziehung ist falsch. Dazu müßte die Linke allerdings Hannah Arendt weniger feiern als vielmehr lesen - sie müßte mit Hannah Arendt ebenso souverän (freimütig-eklektisch) umgehen, wie diese selbst, unbekümmert wie Bertold Brecht in Fragen geistigen Eigentums, mit Aristoteles und Augustinus, Kant oder Madison verfuhr.

Vortrag auf dem Internationalen Arendt-Symposium "Treue als Zeichen der Wahrheit", veranstaltet von der Alten Synagoge Essen und dem Martin Buber Institut Köln im November 1995, hier gekürzt.

1

Ich erinnere hier nur an Arendts Essays zur Veränderung des modernen Naturverständnisses: H. A., "Natur und Geschichte", in: dies., Fragwürdige Traditionsbestände im politischen Denken der Gegenwart, Frankfurt/M. (Europäische Verlagsanstalt) 1957, S. 47-79; H. A., "The Conquest of Space and the Stature of Man", in: dies., Between Past and Future - Eight Exercices in Political Thought, New York (Viking) 1968, S. 265-280; sowie natürlich die Ausführungen im sechsten Kapitel von Vita activa oder Vom tätigen Leben, München (Piper Verlag) 1977 (v. a. <185><185>. 35-37).
Vgl. zu den philosophischen Parallelen bei Heidegger etwa in dessen Vorlesung Die Grundbegriffe der Metaphysik (1929/30) die Ausführungen zum Weltbegriff, <185><185> 42-44 (Heidegger Gesamtausgabe, II. Abteilung: Vorlesungen 1923-1944, Bd. 29/30, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt - Endlichkeit - Einsamkeit, Frankfurt a. M. (Vittorio Klostermann) 1983, S. 260-272); v. a. aber seinen Vortrag von 1938 "Die Zeit des Weltbildes", in: ders., Holzwege, Frankfurt a. M. (Vittorio Klostermann) 1980, S. 73-94.

2

Vgl. Hannah Arendt, "Christianity and Revolution", in: dies., Essays in Understanding. 1930-1954, Uncollected and Unpublished Works by Hannah Arendt, ed. by Jerome Kohn, New York (Harcourt Brace & Co.) 1994, S. 151-155 (zu Jacques und Raissa Maritain).

3

Zur Charakterisierung dieses Milieus vgl. neben dem Briefwechsel zwischen Hannah Arendt und Marc McCarthy die intellektuelle Autobiographie Irwing Homes, A Margin of Hope, New York (Harcourt Brace Jovanovitch) 1982; sowie zuletzt die Schilderungen Monika Plessners in ihren Erinnerungen: Die Argonauten auf Long Island, Berlin (Rowohlt Verlag) 1995.

4

Auf den inneren Zusammenhang dieser drei Werkgruppen hat insbesondere Paul Ricoeur immer wieder hingewiesen.

5

Political Theory, Vol. 23, No. 1 (Febr. 1995).

6

Hannah Arendt, "Some Questions of Moral Philosophy (unpublished lecture, ed. by Jerome Kohn), in: Social Research, Vol. 61 / No. 4 (Winter 1994).

7

Vgl. H. A., "Martin Heidegger ist achtzig Jahre alt", in: Merkur, Nr. 258 (Heft 10, 23. Jg., Okt. 1980). Zu all diesen Fragen ist das peinliche Buch Elzbieta Ettingers (Hannah Arendt/Martin Heidegger, München (Piper Verlag) 1995) leider in keiner Hinsicht - weder dokumentarisch noch philosophisch, weder politisch noch moralisch, weder geistesgeschichtlich noch existentiell - ein irgendwie erhellender Diskussionsbeitrag.

8

"The Cold War and the West", Hannah Arendts Antwort auf die Umfrage der Partisan Review (1962). Arendts Bemerkung erinnert durchaus an die Argumente von Günther Anders in derselben Zeit (Off limits für das Gewissen. Der Briefwechsel zwischen dem Hiroshima-Piloten Claude Eatherly und Günther Anders, hrsg. und eingeleitet von Robert Jungk, Reinbek b. Hamburg (rororo) 1961). Vgl. zu dieser Frage auch Ernst Tugendhat, Nachdenken über die Atomkriegsgefahr und warum man sie nicht sieht, Berlin (Rotbuch Verlag) 1988; Norbert Bobbio, Il problema della guerra e le vie della pace, Bologna (il Mulino) 1979, S. 43 ff.

9

Hannah Arendt, Zur Zeit. Politische Essays. Herausgegeben von Marie Luise Knott, Berlin (Rotbuch) 1986, S. 161-178; s. auch H. A. "Unterstanding and Politics", in Partisan Review, XX / 4 (1954), S. 389.

10

H. A., "The Ex-Communists" (1953), in: Essays on Understanding, S. 391-400.

11

H. A., Essays on Understanding, S. 374 f.

12

Thukydides, Geschichte des peloponnesischen Krieges, I. 23.

13

Christopher Lasch, The True and Only Haven. Progress and its Critics, New York (Norton & Co.) 1991; ders., The Revolt of the Elites and the Betrayal of Democracy, New York (Norton & Co.) 1995; dt. Hamburg 1995: Hoffmann & Campe.

14

Vgl. Hannah Arendts frühe Heidegger-Kritik nach dem Kriege: Was ist Existenzphilosophie? (1948).