von Elke Schmitter

Die Würde eines Parias

Außerdem war sie eine Frau. Als vor achtunddreißig Jahren ihr Freund und Lehrer Karl Jaspers den Friedenspreis des deutschen Buchhandels erhielt, sollte sie die Laudatio halten. "Als ich die Deutschen fragte", schrieb die in Hannover geborene Hannah Arendt an ihren Mann Heinrich Blücher, "wie seid Ihr gerade auf mich verfallen, sagten sie: Es wäre so gut, daß eine Frau zum ersten Mal in der Paulskirche aufträte. (Überschrift: Sommersprossen sind auch Gesichtspunkte!!)"

Nicht, daß die Unbeholfenheit der Jury sie beleidigt hätte dazu war sie zeitlebens zu selbstbewußt. Die ängstliche Frage, ob ihr Geschlecht da oder irgendwo sonst eine Ab- oder Anerkennung mit sich bringen könnte, entzog sich einfach ihrem Begriff von der Personenwürde - und ihrem unmittelbaren Gefühl. Wie ihre Mutter sie erzog, Diskriminierungen zu begegnen, ist beinahe sprichwörtlich geworden: "Sehen Sie, der Antisemitismus ist allen jüdischen Kindern begegnet. Und er hat die Seelen vieler Kinder vergiftet. Der Unterschied bei uns war, daß meine Mutter immer auf dem Standpunkt stand: Man darf sich nicht ducken! Man muß sich wehren! Wenn etwa von meinen Lehrern antisemitische Bemerkungen gemacht wurden meistens gar nicht mit Bezug auf mich, sondern in bezug auf andere jüdische Schülerinnen, zum Beispiel ostjüdische Schülerinnen -, dann war ich angewiesen, sofort aufzustehen, die Klasse zu verlassen, nach Hause zu kommen, alles genau zu Protokoll zu geben. Dann schrieb meine Mutter einen ihrer vielen eingeschriebenen Briefe; und die Sache war für mich natürlich völlig erledigt. Ich hatte einen Tag schulfrei, und das war doch ganz schön. Wenn es aber von Kindern kam, habe ich es zu Hause nicht erzählen dürfen. Das galt nicht. Was von Kindern kommt, dagegen wehrt man sich selber."

Vieles von dem, was Hannah Arendt zeitlebens zum Begriff machte und womit sie zum Skandal des Common sense wurde, ist in dieser Geschichte enthalten. Das absolute und formale Rechtsbewußtsein, das Diskriminierung verabscheut. Die Zumutung an alle Individuen, für sich und andere einzutreten, die soziale Kontrolle und die notwendige Empörung niemals zu delegieren. Und die empfindsame und dennoch starke Würde der Person, die jegliche Verletzung dieser Würde nicht zum Anlaß für Jammer nimmt, sondern zum Widerstand umformt. Mit sechzig Jahren, anläßlich einer anderen Schul-Geschichte, entfaltete Arendt diesen von ihr durchdachten politisch-sittlichen Codex neu: Sie protestierte gegen die allgemein als progressiv geschätzte Politik der USA, die Aufhebung der Rassentrennung in den Südstaaten an den Schulen durchzuexerzieren.

"Ich glaube, niemand kann so leicht die überall im Land in Zeitungen und Illustrierten abgedruckte Photographie vergessen, die ein schwarzes Mädchen zeigt, wie es in Begleitung eines weißen Freundes ihres Vaters von der Schule weggeht und hautnah von einer Horde johlender und grimassierender Jugendlicher verfolgt wird. Von dem Mädchen wurde offensichtlich verlangt, es solle ein Held sein - also etwas, zu dem sich weder ihr abwesender Vater noch die gleichfalls abwesenden Vertreter der NAACP aufgefordert fühlten . . . Sind wir heute an dem Punkt angelangt, wo man von den Kindern verlangt, daß sie die Welt verändern oder verbessern sollen?"

Es war nicht nur die Einfühlung in das unmündige Opfer dieser demonstrativen Politik, die Arendts Standpunkt ausmachte; es war auch ihre philosophische Begründung für eine Trennung der Sphären, wo der gute Wille sie vermischen will: "Denn Gleichheit entsteht nicht nur im politischen Gemeinwesen, ihre Gültigkeit ist auch auf den politischen Bereich beschränkt. Nur dort sind wir alle Gleiche." Was in diesem Fall hieß: Alle Gesetze, die Diskriminierung verankern, sind sofort und unbedingt aufzuheben. Aber im Rahmen des Gesellschaftlichen ist Anderssein, sind Unterscheidungen und exklusive Gruppenbildung durchaus normal und erforderlich, weil Individuen sich hier begegnen - in ihrer Differenz. Getrennte Schulen sind nur ein politisches Problem, wenn sie gesetzlich dekretiert sind - wenn also der Gesetzgeber die Einführung "gemischtrassiger" Lehranstalten unterbindet. Und er soll seinen Schutz ausüben, wenn eine solche "gemischtrassige" Schule Attacken ausgesetzt wird. Aber er darf nicht seine politische Einsicht der Gleichheit aller der gesellschaftlichen Sphäre eindrücken - auf Kosten der Individuen. Nicht nur, weil das nach Arendts Ansicht zu nichts führt (oder gar neue Ressentiments gegen beispielsweise die "Quotenfrauen" nach sich zieht), sondern vor allem, weil es in der Gesellschaft auf Unterschiede ankommt, weil ihre Lebendigkeit und mögliche Humanität auf der Anerkennung dieser Unterschiede aufbaut.

Man mag hier sofort einwenden: auch deren Inhumanität. Der letzte große und glücklicherweise so klein gescheiterte deutsche Versuch jedoch, die Humanität der politischen Gleichheit gesellschaftlich durchzusetzen, hat gezeigt, daß materielle Unterschiede weitgehend eingeebnet werden können, sich dafür aber andere einstellen erstickt, verborgen oder triumphierend, in immer neuen Formen. Und der letzte groß gescheiterte deutsche Versuch, dem Staat die Regelung auch der Gesellschaft zu übertragen, hat zu einer nie gekannten Inhumanität, zu einer staatlichen Vernichtungspolitik der "anderen" geführt.

Diese Vernichtungspolitik trennt die Philosophie bis heute radikal: in ein Denken, das davon absieht, was Menschen einander planmäßig, rational, im kalten Rausch zufügen können - und in ein anderes, das ebendieses Datum der Geschichte zum Ausgangspunkt seines Fragens macht. "Und erst", sagte Arendt 1964 Günter Gaus, "haben wir es nicht geglaubt. Obwohl mein Mann und ich eigentlich immer sagten, wir trauen der Bande alles zu. . . . Vorher hat man sich gesagt: Nun ja, man hat halt Feinde. Das ist doch ganz natürlich. Warum soll ein Volk keine Feinde haben? Aber dies ist anders gewesen. Das war wirklich, als ob der Abgrund sich öffnet. Weil man die Vorstellung gehabt hat, alles andere hätte irgendwie noch einmal wiedergutgemacht werden können, wie in der Politik ja alles einmal wiedergutgemacht werden kann. Dies nicht. Dies hätte nie geschehen dürfen."

Hannah Arendt, die ihre Mutter hatte retten können, klagte persönlich offenbar nie. Ihr Leid war Mitleid, ihre Hilfsbereitschaft fraglos wie ihre Solidarität. Sie arbeitete in Paris für die jüdische Emigrantenorganisation, in New York schrieb sie für den "Aufbau", sie half ihren Freunden, wo es ging. Vielleicht lag eine Ursache ihrer Energie in ihrer Fähigkeit, das, woran andere zugrunde gegangen wären, im Denken aufzuheben (in des Wortes dreifachem Sinn); in einem unerhörten Akt der Disziplin nahm sie ihr Schicksal unpersönlich und machte doch zu ihrer Aufgabe, systematisch zu erforschen, wie dieses typische Zwanzigstes-Jahrhundert-Schicksal möglich war.

"Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft", in den vierziger Jahren ihr Hauptwerk, verfolgt einerseits die strukturellen Gleichheiten zwischen Nationalsozialismus und Stalinismus - und ließ deshalb Linke wie Rechte ratlos zurück. Andererseits ist es heute noch ein Affront: nicht nur in seiner Eigenständigkeit, fernab von gängigen Methoden ökonomischer, kulturgeschichtlicher, klassenspezifischer, persönlichkeitsorientierter Geschichtsschreibung; sondern auch in einer Konsequenz, die sowohl die "Modernisierungsthese" der achtziger als auch das Goldhagen-Modell der neunziger Jahre rundheraus verwirft.

Der formal noch harmonisierenden Ideengeschichte, dem klassischen Begrübeln von "Anfängen", "Entwicklungen" und "zwangsläufigen Folgen" setzt Arendt hier das Unvergleichbare, das gänzlich Neue, das andere "ganz andere" entgegen: "Der europäische Humanismus, weit davon entfernt, die Wurzel des Nazitums zu sein, war auf diesen oder auf irgendeine andere Form totaler Herrschaft so wenig vorbereitet, daß wir uns beim Verständnis dieses Phänomens und bei seiner Einordnung weder auf die begriffliche Sprache noch auf die traditionellen Metaphern dieses Humanismus verlassen können. Darin liegt jedoch eine Bedrohung für alle Formen des Humanismus: Ihm droht die Gefahr, IRRELEVANT zu werden."

In dieser Schwärze, die das Gegenteil von Verdunkelung ist, war Arendt ihren - wenig geschätzten - Kollegen vom Institut für Sozialforschung ähnlich. Und vielleicht war diese radikal nihilistische Haltung, welche die selbstquälerische, von Schuldgefühl getriebene Erforschung immer neuer "Zusammenhänge" mit einer selbstbewußten Bewegung zurückweist, tatsächlich den Opfern der Nazis vorbehalten. Daß Buchenwald und Weimar beieinander liegen, hat die Goethe-Verehrerin Arendt niemals dazu gebracht, in der deutschen Kultur, die sie verehrte, Ursprünge des Übels zu suchen, das ihre Freunde vernichtet hatte. Wie Klemperer war sie fassungslos. Und wie er hat sie ihre Fassungslosigkeit systematisiert.

Damit mußte sie früh beginnen. Ihr sicherlich schönstes Buch ist eine Arbeit am Versunkenen, das ihre Gegenwart bestimmt. Das Leben der Rahel Varnhagen, beschrieben als immer nur halb begriffenes Aufbegehren gegen das Schicksal, Frau und Jüdin und damit unaufhebbar "die andere" zu sein, nahm sie als Manuskript mit ins Exil, 1933 nach Paris. Auch sie war gezwungen worden, sich als "andere" zu sehen und zu begreifen, auch sie war gelernte Jüdin geworden. Die studentische Geliebte Heideggers, die große Passion des Philosophen, der Nazi wurde und mit einer Antisemitin verheiratet war, schreibt über Rahel Varnhagen: "Sie hat ja Bestimmtes nicht zu verbergen noch zu gestehen. Nur das Allgemeine zu verschweigen." Das war zu einer Zeit, als das Allerallgemeinste längst nicht mehr zu verschweigen möglich war: Hannah Arendt war Jüdin, und als solche mußte sie Deutschland verlassen. Und nicht nur das Land; auch seine Sprache.

Es ist zum Weinen, selbst wenn es bei der Bewahrung von Leib und Leben gering erscheint: Denn ihre Sprache, als sie sie noch in Anspruch nehmen konnte, war eine einzigartige Verbindung von Unmittelbarkeit und Abstraktion; sie war von einer energischen Verdichtung, einer ganz unduldsamen, niemals zu weit ausholenden Bestimmtheit, ein großes rhetorisches Fest, das ohne Spiegel gefeiert wurde, ohne Narzißmus und Parlando. "Verzweifeln", heißt es über Rahel Varnhagen, "oder den Bankrott erklären muß sie ohnehin. Der Preis, der vom Paria gefordert wird, wenn er Parvenu werden will, ist immer zu hoch und betrifft immer die menschlichsten Dinge, die, aus denen sein Leben allein bestand."

Hannah Arendt, die Jüdin nicht wider Willen, aber die Jüdin in einem ihr entsetzlichen Zeitalter, hat dieser Versuchung immer widerstanden. Sie ist Paria geblieben - ein mächtiger Außenseiter, eine ironische, zuweilen empörte, dennoch nie zynische und häufig engagierte Zeitgenossin, die sich Selbstmitleid wie Selbstvergessenheit verboten hat. In ihren Kommentaren zum fleißigen neuen Deutschland, in ihrer Darstellung des Eichmann-Prozesses, in ihren Interventionen zur US-Politik büßte sie niemals die traurige Gewißheit ein, wie prekär ihr gesellschaftlicher Status, wie widerspenstig ihre Thesen, wie einsam ihre Stellungnahmen waren. "Die Wahrheit", schrieb sie ihrem Mann Heinrich Blücher von einer ihrer vielen Reisen, "gibt es nur zu zweien." Das hieß auch: Sechs Augen schon sind Öffentlichkeit, und so sehr diese Öffentlichkeit von ihr geschätzt wurde - als das, was, wenn überhaupt, uns alle retten kann vor Barbarei -, ist sie doch eine Form der Fremdheit.

Diese Distanz zur eigenen Erfahrung, die unter keinen Umständen eine Opferbiographie als Zeugnis beruft, obwohl es naheläge; diese Di-stanz, die einzig dem Denken geschuldet ist und seinen Möglichkeiten (nämlich, unter anderem: an die Antike zu erinnern als eine Seinsform des Politischen, die Öffentlichkeit und Humanität unter bestimmten Umständen verband) - diese Distanz hat Hannah Arendt sich erhalten, ohne Gefühl und Erfahrung abzuwerten. Man selbst werden, das Ich ernst nehmen, es dennoch nicht zum Fetisch von Empfindung und Denken werden lassen - darin war sie ein seltenes Vorbild. So gilt für sie, was sie für ihren Lehrer Jaspers formulierte, vollkommen ungebrochen: "Daß ein Mensch unantastbar, unversuchbar, unbeirrbar sein kann, hat etwas Hinreißendes."

(C) DIE ZEIT Ausgabe Nr.42 vom 11. Oktober 1996